• 26.04.87

    Im Bestehenden das Chaos wahrnehmen, aus dem die Welt erschaffen wird: Wer das als Aufgabe der Erkenntnis begreift, kann eigentlich kein Buch mehr schreiben. Logisch-systematische Zusammenhänge lassen sich aus dem Objekt nicht mehr entwickeln; assoziative Verknüpfungen aber reichen nicht aus, um einen zusammenhängenden Text zu erstellen. Ein Zentrum, aus dem die Erfahrungen und Einsichten sich ableiten ließen, scheint es nicht mehr zu geben. Gleichwohl ist an dem Anspruch festzuhalten, daß es sich um mehr als um bloße Einfälle handelt. Vielleicht hilft die chronologische Form: die Zusammenstellung der Texte in der Folge ihrer Entstehung.

    (08.05.87:) Der Begriff des Objekts (oder der des Urteils, aus dem er sich herleitet) bezeichnet genau den Kristallisationskern, an den das Chaos als System anschießt. Das Chaos war immer schon die (unsichtbare) Rückseite des Systems: Produkt seiner „Rücksichtslosigkeit“. – „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“

    (28.05.87) Der Zusammenhang von System und Chaos wird greifbar bei Kant: Wenn die Kategorien – aufgrund ihrer Beziehungen zu den Anschauungsformen Raum und Zeit – nur subjektive Ordnungsbegriffe sind, auf die Dinge an sich aber nicht anwendbar, so ist damit das An sich aus dem System ausgeschlossen: es ist logisch nicht konstruierbar, es ist Chaos. Umgekehrt: die „Rücksichtslosigkeit“ des Systems hat als Objekt und Ziel ihrer destruktiven Gewalt genau jenen Bereich, der von der Intention her eigentlich als der zentrale gemeint ist. (Kann es sein, daß die kantischen Antinomien der reinen Vernunft genau dieser destruktiven Gewalt sich verdanken? Bedeutet das, daß es sehr wohl eine Auflösung dieser Antinomien gibt, nur daß sie jenseits des Widerspruchs liegt? Ist das kantische Theorem etwa die Folge der Verstrickung jeglicher „reinen Theorie“ als eines Systems des Wissens in dem in der Objekt-Beziehung gründenden Schuldzusammenhang; sind System und Schuldzusammenhang Synonyme?)

    (17.05.87) Die chronologische Folge der Aufzeichnung – so darf erwartet werden – ist nicht nur zufällig; oder das Zufällige daran ist nicht nur subjektiv. Die Einfälle geben sowohl den Stand der Reflexion wieder; sie gehorchen einem eigenen Gesetz des Fortschritts. Sie dokumentieren zugleich ein Objektives: sie reagieren auf objektive Verhältnisse und Ereignisse.

    „Ich fürchte allerdings, daß es den Geschäftemachern mit all ihren Mitteln der Reklame gelingen wird, tatsächlich die Menschheit einzuschläfern, so daß sie ganz und gar vergißt, daß ihr Todesurteil gesprochen ist und die Vollstreckung nur hinausgeschoben wurde.“ (Hans Henny Jahnn: Hiroshima, zitiert nach Hans Henny Jahnn Lesebuch, Hamburg 1984, S. 67) Das schrieb Hans Henny Jahnn (der ähnlich wie Arno Schmidt den Faschismus in Deutschland nicht als Ende einer alten oder Beginn einer neuen Epoche, sondern schlicht als Weltuntergang erfahren hat) 1947, und fährt fort: „Wäre es nicht am Ende doch eine rühmenswerte Tat, die Erde auseinanderzusprengen, damit die schrecklichen Tragödien im Protoplasma endlich aufhören und diese scheinbar nicht ganz zu Ende gedachte Schöpfung sich nochmals zu einem Anfang sammelte?“ (ibd. S. 68) Aber sprengen nicht die Geschäftemacher mit ihren Mitteln der Reklame bereits diese Erde auseinander, produzieren sie nicht das Chaos, aus dem vielleicht diese nicht ganz zu Ende gedachte Schöpfung sich zu einem Anfang zu sammeln vermag? Und bedarf es dazu vielleicht nur des Aufwachens?

  • 01.05.87

    Ein faschistisches Klima ist daran erkennbar, daß parakletisches Denken, die Verteidigung der Armen, Bedrängten, Verfolgten diskriminiert, selber verfolgt wird: Das ist die Sünde wider den Heiligen Geist, die einzige, die nicht vergeben wird.

    Es gibt keine hoffnungs-/verzweiflungsindifferente Objektivität; die sogenannte „wertfreie“ Objektivität, das „wertfreie Sein“, das als Hintergrund und Folie zur sogenannten „Wertphilosophie“ dazugehört, ist selbst nur ein zum Verstummen gebrachter (und damit potenzierter) Ausdruck von Verzweiflung.

  • 02.05.87

    Selbstmitleid, die Unfähigkeit, eigene Schuld anzunehmen, und Herrendenken gehören zusammen. Philosophie ist die rationale Entfaltung dieses Zusammenhangs, sein Zentrum ist das Denken des Denkens (seit Kant das „transzendentale Subjekt“). Das Selbstbewußtsein ist sein Kristallisationskern, zu humanisieren nur durch die Fähigkeit der Reflexion: Nur durch Reflexion ist die der Philosophie seit je immanente Gefahr der Paranoia zu bannen (Paranoia = Chaos als System). „Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven;
    Kindern, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler.“ (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1987, S. 16) „Es ist ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut, also daß nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält.“ (ebd. S. 26)

    „Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre sie leicht zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. … Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseits beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.“ (ebd. S. 58f) „Ein Motorradfahrer kam die leere Straße entlang. oarmig, obeinig donnerte er die Perspektive herauf. Sein Gesicht hatte den Ernst eines mit ungeheurer Wichtigkeit brüllenden Kindes.“ (ebd., S. 59)

  • 10.05.87

    „Die Tochter des Blutegels war ein geschlossenes System.“ (Samuel Beckett: Murphy, Hamburg 1987, S. 51, 95, 158) Kam dieser Satz nicht schon einmal an früherer Stelle des Romans vor? – „Aber das Dunkel enthielt weder Elemente noch Zustände, sondern nur Formen, aber werdende und zu Fragmenten eines neuen Werdens zerfallende Formen, ohne Liebe oder Haß oder irgendein erkennbares Wandlungsprinzip. Hier gab es nur Aufruhr und die reinen Formen des Aufruhrs. Hier war er nicht frei, sondern ein Stäubchen im Dunkel absoluter Freiheit. Er bewegte sich nicht, er war ein Punkt in dem unaufhörlichen, bedingungslosen Werden und Vergehen der Linien.“ (ebd. S. 92) Die genaueste Beschreibung des Chaos am Ende der bestehenden Welt, aus dem die neue erschaffen wird. – „… denn Celia betrauert, wie alle ehrbaren Überlebenden, ganz unverhohlen sich selbst.“ (ebd. S. 110)

  • 16.05.87

    „Führungsqualitäten“ sind heute mit Anschauungen, Gesinnungen und Verhaltensweisen verknüpft, die vor allem durch Rücksichtslosigkeit sich auszeichnen (insbesondere die FAZ pflegt und kultiviert diese Eigenschaften). Ist es ein Zufall, daß die hier in Frage stehenden Kompetenzen unter anderem bei Leuten zu finden sind, die in der Nazizeit nicht nur mitgemacht haben, sondern – auf welcher Ebene auch immer, in jedem Falle aber nach dem eigenen Bewußtsein – systemtragende Funktionen innehatten? Wer damals zur Schule gegangen ist, braucht sich nur die spätere Karriere der Mitschüler anzuschauen, die seinerzeit Jungvolk- oder HJ-Führer gewesen sind.

  • 24.05.87

    Die Katastrophen dieses Jahrhunderts haben – im Unterschied zu historischen Gesteinsverschiebungen in früheren Epochen – nicht zu neuen Gleichgewichtsverhältnissen geführt; weitere tektonische Beben mit unabsehbaren Folgen sind, wenn nicht zu erwarten, so jedenfalls nicht auszuschließen. Die Philosophie dieses Jahrhunderts hat diese Vorgänge mit der größtmöglichen Genauigkeit aufzuzeichnen versucht: Lukacs, Bloch, Benjamin, Horkheimer, Adorno beschreiben eigentlich alle den gleichen Vorgang; die Differenzen zwischen diesen Autoren bezeichnen weniger Meinungsunterschiede, als vielmehr objektive Brüche, in denen die katastrophischen Kräfte des Systems bewußtlos weiterarbeiten.

    Erweiterung der Transzendentalphilosophie: Wenn es stimmt, daß unser Bewußtsein der Realität (die Realität für uns) sprachlich vermittelt ist, daß die Sprache zu den Fundamenten der Realität, wie wir sie kennen, gehört, ist es eigentlich sträfliche Fahrlässigkeit, wenn Sprachreflexionen auf den Gang der Erkenntnis so geringen Einfluß haben.

    Unterschied zwischen Sprachphilosophie und Idealismus: Die Geistphilosophie des Idealismus kennt das Subjekt eigentlich nur als vergangenes, abgestorbenes, während Sprachphilosophie ohne lebende, sprechende Subjekte (Ich mit Vor- und Nachname) nicht denkbar ist. Sprachphilosophie setzt eine theistische Theologie voraus. Die Konsequenzen sind absehbar, Franz Rosenzweig hat sie ausgeführt. Es gibt einen sprachzerstörerischen Erkenntnisprozeß; ihn hat die Ontologie seit je sanktioniert: genau das meint der R.’sche Hinweis auf die „verandernde Kraft des ´íst´“. Erkenntnis das auf Wissen zielt, ist an einem objektbezogenen Wahrheitsbegriff orientiert, der, wie er auf prinzipiell Vergangenes (Totes) sich bezieht, mit Herrschaft verbunden ist. Wissen ist ebenso subjektiv (auch als intersubjektives Wissen) wie autoritär. Kritische Reflexion des Wissens, zu der die kantische Vernunftkritik den entscheidenden Anfang gemacht hat, kommt nur zu haltbaren Ergebnissen, wenn sie auf dessen Verhältnis zur Zeit, auf seine gesellschaftlichen Sinnesimplikate und – nicht zuletzt – auf seine ethischen Konnotationen reflektiert: Wissen ist emanzipatorisch und menschenverachtend zugleich.

    Konkrete Erkenntniskritik darf vor den Naturwissenschaften nicht Halt machen, muß im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß die gesellschaftlichen Kräfte, seinen objektiven Zusammenhang mit dem Prozeß der fortschreitenden Naturbeherrschung und der Vergesellschaftung von Subjekt und Natur und in ihm zugleich das Moment der Selbstblendung des Subjekts begreifen. Die Naturwissenschaften sind ein aktives, bewußtlos tätiges Moment im gesellschaftlichen Schuld- und Verblendungszusammenhang.

  • 08.06.87

    Hans Jonas‘ Frage nach der Subjektivität im Sein (Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984, S. 136), in der Natur, wird möglicherweise einer (konkreteren) Antwort nähergebracht, wenn man versucht, der Objektivität der Elemente sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung (Licht, Farbe, Klang, Wärme, Geruch u.ä.) auf die Spur zu kommen. Das Lebendige scheint ohnehin – real und nicht nur metaphorisch – in einer besonderen Beziehung zum Licht zu stehen. Unter diesem Aspekt wären vielleicht doch einmal Spekulationen der alten Lichtmetaphysik auf Hinweise zu prüfen, die weiterhelfen könnten. – Wäre es denkbar, daß diese Spekulationen Hilfe in den modernen Naturwissenschaften selber finden können: in dem rätselhaften Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das selber auf diesem Wege vielleicht etwas durchsichtiger werden könnte? Außerdem wäre der Frage nachzugehen, welche logische Struktur diesem Objektbereich zugrundeliegt: Das Subjekt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (das auf der Objektseite dieses Erkenntnisprozesses niemals anzutreffen ist) ist selber schon Produkt jener Urteilsstruktur, die naturwissenschaftliches Erkennen konstituiert und vermittelt und beide – Subjekt und Objekt – in ihrem Bann hält: deshalb sind beide „bloße Erscheinung“ und keine „Dinge an sich“.

    (Plastik und Fernsehen: der Bruch zwischen dinglicher und scheinhafter – räumlicher und zeitlicher – Rekonstruktion der sinnlichen Qualitäten.)

    Schließlich wäre Hans Jonas auch dahingehend zu ergänzen, daß seine nur methodische Interpretation (und Kritik) des naturwissenschaftlichen Verfahrens durch eine historisch-gesellschaftliche zu ergänzen und zu konkretisieren wäre: was hier verdrängt und wovon abstrahiert wird, ist nämlich auch etwas im erkennenden Subjekt selber: daß Naturerkenntnis unlösbar mit der Geschichte der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, mit der Unterdrückung der Natur draußen und im Subjekt zugleich, verflochten ist.

    Mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis ist kontemplative Erkenntnis: Das Experiment greift nicht ein, es ändert nicht; es stellt nur die Bedingungen her fürs reine Zusehen. Das Objekt ist nur Objekt und es ist zugleich Objekt für alle Subjekte; das Subjekt mischt sich in die Dinge nicht ein, außer – wie der Herr – durchs Zusehen.

    Kontemplation, bloßes Zusehen, ist aber in einer Welt, in der die Dinge außer Kontrolle geraten, nicht mehr indifferent, sondern Ursprung von Schuld; dort, wo es – wie in der Transzendentalphilosophie – systemerzeugend wirkt, Kristallisationskern des Schuldzusammenhangs.

    Wie muß heute die Sprache beschaffen sein, wenn der Satz stimmt: „Wenn die Menschheit keine Phrasen hätte, brauchte sie keine Waffen.“ (Karl Kraus: Die Sprache, Frankfurt 1987, S. 225) Wird in der Postmoderne (Christa und Peter Bürger (Hrsg.): Postmodern: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt 1987) nicht bereits die Sprache insgesamt zur Phrase? Aber ist das überhaupt möglich, bleibt sie dann noch Sprache? Oder ist das etwa die letzte Konsequenz aus der Ontologie, dem „Seinsdenken“ (ist das Seinsdenken nicht die zur Philosophie gewordenen Phrase)?

  • 27.06.87

    Selbstmitleid und Paranoia: Nach der intensiven Einübung unterm Faschismus in Deutschland hat Innerlichkeit (als Selbstmitleid) die Menschen so weit ergriffen, daß sie nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind, was um sie herum vorgeht; an die Stelle der Realität tritt eine Welt, die nur noch der Durchsetzung der Eigeninteressen im Wege steht, d.h. tendenziell als feindlich, wenn nicht als bösartig und hinterhältig wahrgenommen wird. Hilfestellung leistet hier die Bewußtseinsindustrie, vorab das Fernsehen. Die Bösartigkeit und Hinterhältigkeit der Außenwelt wird zugleich zur Begründung und zum Alibi der eigenen: so wird paranoische Phantasie zur Realität und diese Realität allgemein.

    Der Grad der Allgemeinheit drückt sich in der herrschenden Politik aus, die diesen Trend widerspiegelt und verstärkt: am Ende unterwirft die Innerlichkeit sich die Welt, die ihr dann keinen Ausweg außer dem durch die Paranoia vorgezeichneten mehr offenläßt. Vor den Folgen dieses Trends scheint im Augenblick keine der politischen Richtungen (einschließlich der sich selbst als alternativ begreifenden) geschützt zu sein.

    Selbstmitleid wäre gleich dem Versinken in einen Abgrund, fände es nicht seinen Halt an den Rechtfertigungen, mit denen es die gefährdete Ich-Identität zu retten sucht. Aber gerade dieser Ausweg ist der sichere Weg in den Abgrund: der des Vorurteils, mit all den Folgen, die das fürs Handeln und für den Zustand der Welt nach sich zieht.

  • 16.08.87

    Abgrenzung der Beleidigungsfähigkeit: wo beginnt, wo endet sie; wer ist wo beleidigungsfähig; wichtig, da hier die Grenzen zur Pathologie bestimmt werden.

    Selbstbekehrung des Christentums, Bekehrung vom Heidnischen im Christentum: Zusammenhang von Fortleben des Heidentums in der christlichen Dämonologie (Hölle, Fegefeuer, auch Vorstellung eines seligen Lebens, das nach Augustinus die Anschauung der Qualen der Bösen mit einschließt) mit den praktischen Folgen: über Antisemitismus, Ketzerverfolgung als Kampf gegen die Armutsbewegung und Hexenverfolgung bis hin zur Reindarstellung dieses Heidnischen im Faschismus (also Faschismus als Konzentrat des Heidnischen im Christentum? – das würde die kritische Aufarbeitung des Faschismus zur Grund- und Existenzfrage einer christlichen Theologie machen: das Verhältnis von Heidnischem und Christlichen wäre unter diesem Gesichtspunkt anhand der Rosenzweigschen Konstruktionen nochmals zu prüfen).

  • 23.08.87

    Gewitter, gestern den „Historikerstreit“ gelesen: – Jede Seite agiert/reagiert aus ihrem Ghetto; moralische Empörung und Selbstmitleid in trüber Wechselwirkung; jeder erfährt nur noch das Un-/Mißverständnis des andern; auf der Historikerseite unverkennbar Reaktionen, die an Angeklagte in Nazi-Prozessen erinnern (oder an das auch an anderen schon wahrgenommene „pathologiche gute Gewissen“): ein Gewitter mit Blitz und Donner, aber kein reinigendes.

    – Ghetto-Mentalität: jeder reflektiert nur noch auf die Zustimmung seiner Anhänger, derer, die ohnehin der gleichen Meinung sind; Verständigung scheint ausgeschlossen, wird sie überhaupt angestrebt? – Zusammenhang mit der Struktur von Erkenntnis und Wissen? Starre Scheidung von Subjekt und Objekt; Unfähigkeit, den Gegenstandsbereich mit Reflexion zu durchdringen; Angleichung an Naturwissenschaft, in deren Objektbereich das Subjekt nicht vorkommt; Modell: Herrschaftsdenken, das Empathie, die Identifikation mit dem Beherrschten ausschließt, den Objektbereich insgesamt der Erfahrung entfremdet (Zusammenhang mit der Brutalisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert: das Objekt der Folter, der Gefangene im KZ und im Knast, der Feind, wird nicht als mit dem Subjekt vergleichbar oder durch Reflexion erreichbar erfahren).

    – Setzt Kritik der Erkenntnis nicht immer noch – wie bei Kant – Kritik der Naturwissenschaft voraus: Welche Folgen hatte es, als Habermas die Idee einer Versöhnung mit der Natur als mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht mehr vereinbar verwarf? Ist das „parvus error in principio magnus est in fine“ heute nicht auf die Physik – das Paradigma der Wissenschaft – in erster Linie zu beziehen? Ist das vielleicht schon seit Einstein nicht nur möglich, sondern gefordert, aber bis heute nur noch nicht gesehen?

  • 02.09.87

    „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner zu lieben mehr fähig ist.“ – Rührt das vielleicht daher, daß die Menschen von Personen/Instanzen geliebt/anerkannt werden möchten, die sie selbst nicht lieben können, weil das nur um den Preis der Selbstverleugnung möglich ist. So bleibt nur Selbstmitleid als Kern des Selbstverständnisses.

  • 19.09.87

    „Wir Deutschen!“ – Daß die, die ihr Deutschtum betonen, des Deutschen nicht selten nicht mächtig sind, ist ein spätestens seit Kraus bekannter Sachverhalt. Vielleicht lohnt sich eine nähere Betrachtung: Die Vermutung scheint nicht unbegründet zu sein, daß der Fehler nicht in der Unkenntnis der Grammatik gesucht werden darf, sondern daß in ihm deutlich und präzise eine bestimmte Stellung des Bewußtseins zur Objektivität sich ausdrückt.

    Korrekt müßte es (trotz Duden) heißen: „Wir Deutsche“; die falsche Bildung könnte entstanden sein aus einer Vermischung von „Wir Deutsche“ und „die Deutschen“, von erster und dritter Person Plural. Das aber würde bedeuten, daß das „Wir“ in diesem Falle zu vermeiden sucht, als verantwortliches Subjekt sich zu bekennen, und, indem es mimetisch in die Rolle der dritten Person („die Deutschen“) überwechselt, nur als Objekt (des Schicksals, der Vorsehung, oder welcher höheren Macht auch immer) sich präsentiert, genau daraus aber wiederum die Kraft der Emphase bezieht: Das aber ist der Kern und der kürzeste Selbstausdruck faschistischer Massenpsychologie (vgl. den Begriff des „Volks“).

    Zum Duden (Mannheim 1980, S. 204: „Wir Deutschen“ – auch „wir Deutsche“):

    – Adjektive/Partizipien werden nach „wir“/“ihr“ schwach gebeugt (Duden S. 17; Gleichbehandlung von Wir und Ihr!). Schwache/ starke Deklination entspricht substantivischer/ adjektivischer Bedeutung (unsere deutsche Vorfahren?). Das A./P. wird stark gebeugt, wenn es allein vor einem Substantiv steht (also adjektivisch gebraucht wird) oder wenn ein Artikel, Pronomen oder Zahlwort ohne starke Endung vorausgeht. (der deutsche Hund; ein deutscher Hund; viele deutsche Hunde).

    – Ist der Nominativ pluralis ein verdeckter Akkusativ (ausgenommen der Plural majestatis)?

    Die Deutschen sehen sich selbst nur in den Augen der Anderen.

    Schreibt der Duden hier eine Gesinnung vor? (gutgesinnt und wohlgesonnen?)

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie