Der Historismus holt uns ein: Der Schein der Objektvität, den das Vergangensein der Geschichte verleiht, verhext die Gegenwart (wie das Inertialsystem die Natur). Die Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, ist so nur mit nein zu beantworten. Lernen können wir nur, wenn wir in der Geschichte die Gegenwart begreifen, uns nicht auf die Beteuerung verlassen: das ist doch vergangen. Denn die Vergangenheit ist nicht vergangen, und auch die Toten haben noch einen Anspruch an uns, der nicht leicht abzutun ist.
Die „wandlose“, „schamlose“ Gesellschaft, in der „niemand mehr etwas zu verbergen“ hat (Anders II, S. 151), hat die Privat- und Geheimsphäre nicht abgeschafft, sondern insgesamt verstaatlicht. Das ist eine logische Konsequenz aus dem Säkularisationsprozeß, eine Folge des Weltbegriffs. Wer die Hegelsche Logik begriffen hat, weiß, daß es ebenso viele Gestalten des Absoluten wie Staaten gibt: der Nationalismus ist von der Geschichte des Begriffs ebensowenig abzulösen wie das transzendentale Subjekt von der transzendentalen Logik. Der Staat ist in der Tat der sterbliche Gott: er versucht vergeblich die Lücke zu schließen, die die transzendentale (und in ihrer Folge die dialektische) Logik zwischen Erscheinung und Ansich aufreißt.
Zur Geschichte der Scham: In der mythischen Gesellschaft verstummt der Held, in der schamlosen Gesellschaft verstummen alle (S. 152).
Die schamlose Gesellschaft ist eine zugleich exhibitionistische und obszöne Gesellschaft: konkret eine Gesellschaft, in der der Reichtum sich nicht mehr schämt, sondern nur noch die Armut, die am liebsten vor Scham verschwinden, in den Boden versinken möchte.
01.05.93
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