02.04.92

Der Personbegriff ist eine Emanation der Scham, mit der die Menschen nach dem Sündenfall auf die neue Fähigkeit reagiert haben, sich selbst von außen zu sehen (als „persönlich“ wird alles empfunden, was an die Scham rührt). Als Personen befinden sie sich endgültig hinter ihrem eigenen Rücken (Zusammenhang mit dem Ursprung der Sexualmoral). Oder anders: Die Person ist der Statthalter der Welt (und die Scham Index der Schuld der Welt) im eigenen Innern. So klärt sich auch der historische Zusammenhang der Person mit der Maske (deren Vorläufer und Modell waren die Opfer), sowie der genetische Zusammenhang des Personbegriffs mit dem Ursprung der Trinitätslehre und des Dogmas und mit dem Ödipuskomplex (mehr noch als der angebliche „Sexualismus“ Freuds war die instinktive Erfahrung, daß das Konzept vom Ödipuskomplex an die Wurzeln des kirchlich-christlichen Selbstverständnis rührte, Grund der kollektiven Entrüstung, die die Psychoanalyse ausgelöst hat).
Mit der Vorstellung des unendlichen Raumes wird die Immanenz als Schuldzusammenhang irreversibel und unentrinnbar. Es bleibt nur der Wille zur Macht, der bewußtlos schon den Ursprung und die Struktur des Dogmas beherrschte.
Drei Bedeutungen des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit:
– selbstreferentielle Beziehung zum Inertialsystem,
– exzentrischer Status des Inertialsystems (äußerliche Beziehung zum Objekt),
– Neubestimmung des Status der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer Beziehung zum Objekt.
Die Kopenhagener Schule ist der lebendige Beweis für die Gültigkeit des Satzes vom Balken und vom Splitter (Inertialsystem als Balken im eigenen Auge).
Industrialisierung der Splitterproduktion: Inertialsystem, Geld und Bekenntnis als Balken. Aufzulösen nur durch die siebenfache Umkehr?
Eine Volkskirche ist nur als Bekenntniskirche vorstellbar und ist insoweit zwar real, aber eine contradictio in adjecto. Es gehört zu den Symptomen der Hilflosigkeit der Kirchen gegen den Nationalsozialismus, daß ausgerechnet eine „Bekennende Kirche“ zum Symbol des Widerstands gegen den Faschismus geworden ist.
Der Fall Drewermann ist nur ein Symptom dafür, welch entsetzliche Verwirrung im Prozeß des Zerfalls der autoritären Strukturen in der katholischen Kirche um sich greift:
– als Unfähigkeit der Theologen, das reale Wahrheitsmoment in der kirchlichen Tradition noch wahrzunehmen, und
– als Unfähigkeit der Kirche, mit solchen Konflikten umzugehen.
Die Grundversuchung ist heute die Versuchung zur Komplizenschaft; sie hat ihren Ursprung im pseudotheologischen Kontext von Rechtfertigung und Bekenntnis.
Empörung als Unterhaltung: „Kritische Sendungen“ sind affirmativ, weil sie nur der Empörung ein Ventil (und dem Zuschauer das gute Gefühl, sich selbst durch Empörung seine Moral und seine Unschuld zu beweisen) verschaffen, aber nichts ändern. Das Ganze erinnert mich an Habermas, der sich (gegen Benjamin, Horkheimer und Adorno) durch sein Bekenntnis zur Unabänderlichkeit der Natur das Alibi des Kontemplativen verschafft hat, nicht mehr im Ernst an eine Änderung der Dinge denken zu müssen. Heute ist die Empörung zur Grundlage der Zustimmung geworden. Empörung ist der Genuß des Zuschauers an der Folter (er entspricht dem Genuß des Voyeurs an der Pornographie und dem Beifall im Konzert). Nicht gegen das Unrecht, sondern gegen die Ohnmacht, in die einen der Anblick des Unrechts versetzt, gilt es anzugehen. Aber ist dieser Kampf gegen die Ohnmacht am Ende doch nur noch mit Hilfe der Theologie (mit der Hilfe dessen, was Benjamin die „göttliche Gewalt“ genannt hat), möglich? Jede andere Gewalt – insbesondere die der „Medien“, die an die Bedingungen der Öffentlichkeit (des Andersseins) gebunden bleibt – bleibt in das Unheil verstrickt und reproduziert es. „Allein den Betern kann es noch gelingen …“: aber anders als es das fromme Gemüt sich vorstellen kann. Erst wenn das Gebet zur Gewalt wird … Oder: Wie ist es möglich, die Politik Gottesfurcht zu lehren? Und: Ist die Abschaffung der Folter erst nach (oder zusammen mit) der Änderung auch der Natur möglich? (Sieg Hitlers in der Fernseh-Demokratie? Erst die Ästhetisierung der Wirklichkeit durchs Fernsehen verwischt jene Differenz, die Grenzen in Politik und Recht allein möglich macht: Bedingung des Friedensvertrags, Neugründung des Rechts.)


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