03.12.90

Ist es gnostisches Erbe, wenn nach dem Ende der Märtyrerzeit das Bekenntnis und die Jungfräulichkeit zu Symbolen der Erlösung (der männlichen und weiblichen Heiligkeit, der Tilgung der Sünde Adams und Evas) werden? – Gehören das Bekenntnis und der Ursprung der christlichen Sexualmoral zusammen? Lassen sie sich (zusammen mit der Dogmenentwicklung) aus der Enttäuschung der Parusieerwartung ableiten? Sind beide notwendige Momente der Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der (seitdem, ohne es zu wissen, imperialistisch instrumentierten) Theologie? Ist der Grund der (in Philosophie und Politik) undurchschaute Zusammenhang von Subjektivität und Konstitution der Welt (Ursprung der instrumentellen Vernunft; Bekenntnis und Sexualmoral als Bedingungen der gesellschaftlichen Naturbeherrschung: Zusammenhang mit Magie-Verbot)? Vorstufe der Verflechtung von Mythos und Aufklärung (Beginn der „Neuzeit“) ist die von Magie und Aufklärung („Mittelalter“; Bedeutung der Hexenverfolgung). Das Sakrament (die Geschichte des Sakraments) als Erbe und Rationalisierung der Magie und mimetische Vorstufe der technischen Naturbeherrschung.

Zur Konstruktion der Gemeinheit: Daß die Erlösung auch die Vergangenheit (und die Natur) befreit, kann heute nicht mehr vernünftig unterstellt werden; aber handeln, ohne gemein zu werden, kann man nur, wenn man so handelt, als ob von unserm Handeln auch das Schicksal des Vergangenen und der Natur abhinge. „Auch die Toten haben Anspruch …“ (Walter Benjamin)

Theologie im Angesicht Gottes („Wahrheit als Gebet“ – „Allein den Betern kann es noch gelingen …“): kann Geschichte der Theologie „hinter SEINEM Rücken“ nicht ungeschehen machen, muß sie mit aufarbeiten (eine der Bedingungen einer Theologie nach Auschwitz).

Adornos Satz „Erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer Unrecht“ anwenden als Grundsatz einer Erkenntnistheorie; Konsequenz aus Rosenzweigs spekulativem Gebrauch des Begriffs der Umkehr. Besonderer Charakter moralischer Grundsätze: sie sind Grundsätze nur fürs Handeln, nie fürs Urteilen („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“). Zusammenhang mit den Begriffen Versöhnung und Schuld und deren erkenntniskritischen Konsequenzen. Das rhetorische „Ich würde sagen …“ drückt diesen besonderen Takt aus (die Anerkennung und Berücksichtigung des Zusammenhangs von Urteil, Schuldprojektion und Vergegenständlichung), daß man dem anderen nicht vorschreiben kann, was er sagen (als wahr anerkennen) muß, daß man nur – unter Beachtung des eigenen derzeitigen Erkenntnisstandes – sagen (als wahr anerkennen) würde, wenn man an seiner Stelle wäre.

Wer einem Betroffenen Tratsch zuträgt, löst Streit aus. Anwendung auf eine Theorie des Ursprungs der Gemeinheit (Öffentlichkeit hinter dem Rücken des Betroffenen ist auch Öffentlichkeit für den Betroffenen). Das Hinter-dem-Rücken-Reden ist nie harmlos, wenn es nicht so geschieht, als wäre der Betroffene anwesend.


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