Erst wenn der Staat seine benennende Kraft verliert, wenn Prädikate aufhören, als Substanzbegriffe verwandt zu werden (wer gemordet hat, wird zum Mörder; wer gesalbt wurde, zum König oder Christus; wer backt, ist Bäcker; wer lehrt, Lehrer), löst sich der Schuldzusammenhang.
Das Recht zu urteilen (Prädikate in Substanzbegriffe zu verwandeln – deren Grundlage ist die Mathematik) ist der Grund des Staates. Dagegen richtet sich das „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“.
Mathematische Gleichungen sind keine Urteile (und Lösungen keine Antworten: Verwechslung von Fragen und Problemen). Nur der Schein der Substantivierung der Prädikate (des Begriffs) verdeckt den Sachverhalt, daß mathematische Gleichungen umkehrbare (reversible), subjektlose Beziehungen von Prädikaten sind. Dazu gibt es kein Subjekt; das ist untergegangen in der Vorstellung der subjektlosen Materie (des Subjekt-Stellvertreters: des allgemeinen Objekts, des Exemplars: des „Falls“; nicht zufällig ist der logische, dem Urteil zugehörige Subjekt-Begriff dann zum erkenntnistheoretischen Subjektbegriff geworden: Subjektivierung der benennenden Kraft des Begriffs). Das Inertialsystem ist das Gefängnis, in das wir die Natur eingesperrt haben; das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit der einzige Lichtblick.
NB: Es gibt keine mathematischen „Begriffe“, sondern diese Begriffe sind idololatrische Namen, sie erzeugen (vertreten?) und bezeichnen zugleich das Objekt (Einheit von Erzeugtem und Bezeichneten, Bild und Begriff: deshalb gibt es kein „Wesen“ der Elektrizität). Telos des Falls ist das Exemplar.
Mit der Institution des Staatsanwalts wird der Staat zur Institution des kurzen Prozesses: Ankläger und Richter sind institutionell nicht mehr getrennt; und sind nicht mehr zu trennen, seitdem es kein Urteilssubjekt mehr gibt, seitdem der Angeklagte nur noch als Objekt erscheint.
Der Personbegriff ist der Vorläufer des modernen Subjektbegriffs. Seine Leistung war es, die Person vom Namen zu trennen; die Trennung des Objekts vom Namen war dann der Grund der Subjektivierung des Subjekts.
Das Subjekt ist das Produkt der Gewalt, die ihm angetan worden ist, und die es seitdem allen Objekten und sich selber antun muß, um Subjekt zu bleiben. („Der nicht geschlagene Mensch ist nicht erzogen.“) Die spartanische Härte ist der Schatten der athenischen Vernunft.
Auch Lachen ist eine Gestalt der Empörung.
Während die Begriffe des Ewigen und des Überzeitlichen sich präzise trennen und unterscheiden lassen, gibt es andere Begriffe, die genau an dem Schnittpunkt der beiden Begriffe angesiedelt sind und in beiden Zusammenhängen sinnvoll sich verwenden lassen. Dazu gehören neben dem Begriff des Logos der der Person, der des Bekenntnisses, auch der Geistbegriff sowie die Begriffe des Objekts und des Subjekts. Wenn es gelingt, den Knoten, der hier geschürzt ist, wirklich zu lösen – und das würde bedeuten, das Dogma aus seiner Erstarrung zu lösen, zu befreien, es zum Leben zu erwecken -, wäre der Spuk beendet.
Die Logik des Begriffs ist die Logik der Substantialisierung des Prädikats (Ausdruck der Gewalt, Grund der Reflexionsbegriffe). Gibt es einen Zusammenhang mit der Bekenntnislogik, der „Erkenntnis des Guten und Bösen“, mit der Namenlehre (auf die sie offensichtlich negativ sich bezieht)? Ist die Logik des Begriffs die Kehrseite der Namenlehre, ergibt sich die benennende Kraft der Sprache aus der Erkenntnis des Bösen (und nicht des Guten, wie die Philosophie seit Plato unterstellt)? Die Dinge beim Namen nennen, heißt das nicht: sie so negativ begreifen, wie sie sind? Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben: das Negative begreifen, ohne dem Drang zur Selbstentlastung nachzugeben und es durch Projektion (durch Hypostasierung, Personalisierung) zu mildern. Zusammenhang mit dem Gebot der Feindesliebe.
Substantialisierung des Prädikats: deshalb ist das Sein der erste Begriff und die Ontologie aus systemlogischen Gründen Staatsphilosophie.
Der Begriff des Grundes (die Grundlage des argumentativen Denkens) reflektiert genau die Logik der Substantialisierung des Prädikats: das Prädikat als Subjekt. Insoweit hat Gott die Erde „gegründet“ (und den Himmel aufgespannt).
Wenn die gesamte Physik ein selbstreferentielles prädikatives System ist, und auch die Materie (Trägheit, Schwere) bloß Prädikat, nicht Subjekt, so wird das zu benennde Subjekt in der Physik einzig noch repräsentiert durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und durch die mit ihm systemlogisch verknüpften Naturkonstanten (wie das Plancksche Wirkungsquantum, die Masse und Ladung des Elektrons, die Avogadrosche Zahl u.ä.).
Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verweist auf einen Sachverhalt, auf den Adornos Wort von der Spiegelschrift des Gegenteils zutrifft.
So wie das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit etwas übers Inertialsystem aussagt, nicht übers Licht, so sagt der Antisemitismus etwas über die Antisemiten, aber nicht über die Juden aus. Erst wenn das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit selber als Manifestation der Schwerkraft begriffen ist (und nicht nur von außen darauf bezogen werden muß), ist das Rätsel der Physik gelöst. Die Lichtgeschwindigkeit (die Bewegung der elektromagnetischen Wellen und ihr Maß) hat etwas von der Wiederkehr des Verdrängten: Die Abstraktion von der Gravitation (die Formulierung des Gravitationsgesetzes durch Newton) war der letzte Schritt zur Konstituierung des Inertialsystems, die dann zwangsläufig die Vergegenständlichung der elektromagnetischen Erscheinungen nach sich zog. Das Gravitationsgesetz bestimmt das Verhalten der Dinge im Raum, die Elektrodynamik das des Raumes in den Dingen.
Das Irritierende am Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit scheint darin zu liegen, daß sich zu diesem Gesetz keine verdinglichte Objektvorstellung hinzudenken läßt. Im Gegenteil: Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist geradezu die Widerlegung der verdinglichten Objektvorstellung. Und diese Widerlegung wird in der Atomphysik, in der Quantenmechanik wiederum instrumentalisiert, verdinglicht. Was Ralph Giordano die zweite Schuld genannt hat, hat sein frühes Vorbild in der Quantenphysik. Die Neuformulierung der mechanischen Gesetze mit Hilfe der angepaßten Hamiltonschen Gleichungen leistet genau das.
Die Geschichte der modernen naturwissenschaftlichen Aufklärung beginnt mit der Hexenverfolgung und endet mit Auschwitz; d.h. sie beginnt mit der Angst vor dem Anderen und endet mit der Aggression, dem Vernichtungstrieb gegen das Andere.
Vgl. die Jotam-Fabel (Ri 97-21): wir sind der Dornbusch (Subjekt der Profangeschichte), Israel die brennende, aber nicht verbrennende Innenseite dieser Geschichte. (Gibt es überhaupt einen Christen nach Auschwitz, der sich mit Israel ohne Hintergedanken befaßt?)
Hat das Wort, daß, wer Israel antastet, den Augapfel Gottes antastet (Sa 212, vgl. auch Deut 3210, Ps 178), mehr als nur metaphorische Bedeutung?
Israel der Augapfel (Augenstern) Gottes; was bedeutet es, wenn es heißt: Gott sieht („Und Gott sah, daß es gut war“). Wenn seit Beginn des Gegenstands-Realismus die Realitätserfahrung aus der Widerstandserfahrung abgeleitet wird („daran habe ich mir den Kopf eingerannt“), wenn der mechanische Stoßprozeß gleichsam zur Grunderfahrung wird, so verschwindet damit, was eigentlich das Sehen bezeichnet.
Ob Heidegger persönlich Antisemit war oder nicht, ist eigentlich schon fast uninteressant; wichtiger ist, daß die Systemlogik seiner Philosophie und deren objektives Korrelat: das, was diese Philosophie vom Zustand der Welt abbildet, antisemitisch ist.
04.05.91
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