Zur Kritik der Ästhetik: Der Begriff der Wahrheit wird unbestimmbar, wenn er nicht die Schuldreflexion in sich mit aufnimmt, die die subjektiven Formen der Anschauung gerade ausblenden. Das Bilderverbot trifft auf deren subjektives Korrelat: das Anschauen. Im Kontext der Schuldreflexion wird die Vorstellung einer „überzeitlichen Wahrheit“ gegenstandslos (während im Kontext einer „überzeitlichen Wahrheit“ Schuld zu einer dinglichen Eigenschaft wird und das moralische Urteil zum logischen Grund des Rassismus); Schuldreflexion unterläuft das Schuldurteil; sie macht die Wahrheit konkret: prophetisch, messianisch und am Ende parakletisch, sie bindet die Wahrheit an ihren Zeitkern: die Gegenwart.
Die prophetische, messianische und parakletische Stufenfolge der Wahrheit ist der Realgrund des trinitarischen Symbols.
Wenn der Heilige Geist die Barmherzigkeit verkörpert (die rechte Seite), ist dann nicht die Trinitätslehre insgesamt die Verkörperung dessen, was mit der Bildung der Raumvorstellung, mit der Ausbildung der subjektiven Formen der Anschauung (mit denen der ästhetische Grund des Mythos erkenntnisbestimmend wird), verdrängt wird?
„Getünchte Gräber“: Ist das nicht die genaueste Beschreibung des gegenwärtigen Weltzustandes („leer, gereinigt und geschmückt“)?
Glaube, Hoffnung und Liebe: Die Geschichte der Privatisierung der drei theologischen Tugenden ist die Geschichte eines Verrottungsprozesses. So wurde
– der Glaube zum privaten Glauben an Gott durch seine Trennung vom prophetischen (und d.h. öffentlichen und politischen) Vertrauen in die göttlichen Verheißungen,
– die Hoffnung zur privaten Hoffnung aufs eigene Seelenheil durch Trennung von der messianischen Idee einer Realisierung, die auch die Welt mit ergreift, sie verändert und umwandelt,
– die Liebe zum folgenlosen Gefühl durch Trennung von ihrem Barmherzigkeitsgrund: durch Trennung von der parakletischen Herrschaftskritik.
War nicht die Gnosis die Geburtsstunde des Christentums, und die Dogmenbildung die Entfaltung der Gnosis bei gleichzeitiger Verdrängung des Bewußtseins, Gnosis zu sein?
Gründete das eliminatorische Element im Antisemitismus nicht in dem Prinzip der Selbstabsolution der Verurteilung des Andern? So war dessen (moralische und physische) Vernichtung die eigene Befreiung.
Diese Selbstabsolution durch Verurteilung wird instrumentalisiert und generalisiert durch die „subjektiven Formen der Anschauung“ (in denen auch die Bekenntnislogik gründet: deshalb war der „Weltanschauungskrieg“ der Nazis gegen die Sowjetunion, der von den Kirchen unterstützt wurde, ein Vernichtungskrieg). Die Gemeinschaft der Anschauenden ist die Gemeinschaft der Verurteilenden. Sie wird legitimiert durch den Weltbegriff. Dieser Konstellation liegt die Levinassche Asymmetrie und ihre Logik zugrunde (der Satz von Rind und Esel: das Verbot, Joch und Last in eins zu setzen). Die Selbstabsolution durch Verurteilung ist die genaue Umkehrung der Levinasschen Asymmetrie: Sie macht die Last, von der nur sich befreit, wer sie auf sich nimmt, zum Joch für andere.
Ist nicht die Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, die Unfähigkeit, die Asymmetrie zwischen mir und dem Andern zu begreifen?
Die Unterscheidung von Rechts und Links wurde in der biblischen Tradition als Unterscheidung von Gericht und Barmherzigkeit begriffen. Die Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, gründet in der Unfähigkeit, die Unterscheidung von Im Angesicht und Hinter dem Rücken auch auf andere zu übertragen. Und ist Gott am Ende nicht reines Angesicht, ohne ein Hinter dem Rücken (der Himmel hat keine Grenze, die der Raum „nach oben“ überschreiten könnte)?
Gotteserkenntnis ist eins mit der Heiligung Seines Namens.
06.09.1996
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