Das Selbstmitleid erstickt den Anderen: es entzieht dem Anderen die Möglichkeit des Mitleids, der Identifikation. Man kann den, der sich ins Selbstmitleid fallen läßt, verstehen, aber man kann ihm nicht mehr helfen: und diese Situation ist nicht zu ertragen. Insbesondere ist die Gefahr, selbst dem Selbstmitleid zu erliegen (und die eigene Schuld in den Anderen zu projizieren), kaum abzuwenden. Dieser Mechanismus gehorcht einer geradezu naturwissenschaftlichen Logik.
Die Philosophie verdrängt den Schrecken, indem sie sich in die Stelle seines Ursprungs setzt, sie verlagert ihn im Innern in den blinden Fleck (und zugleich nach draußen: in den Begriff der Materie); sie antizipiert die Erfindung der Narkose, aber sie hebt den Schrecken nicht auf. Die Prophetie hingegen versucht, den Schrecken zur Quelle ihrer Inspiration zu machen. Das Mittel, mit dem die Philosophie sich selbst unter Narkose setzt, ist die subjektive Form der äußeren Anschauung, Grundlage des Thoriebegriffs und Motor der Entsinnlichung der Welt: der Raum. Die Hypostasierung des Raumes ist das proton pseudos des modernen Bewußtsein, der parvus error in principio: der Grund nicht nur der Abtrennnung und Vergegenständlichung der Materie und der Zeit, sondern auch der Urteilsform und der Konstituierung der Totalitätsbegriffe Welt und Natur, der Tod der Sprache und der Prophetie.
Vor dem Schuldvorwurf rettet nur die Rechtfertigung; aber es gibt keine Rechtfertigung ohne Anklage und Schuldverschiebung (Grund der Ideologie). Über die exkulpierende Kraft des Wissens (Resultat des akkusativischen Denkens), oder über die dämonische Struktur der transzendentalen Logik (anklagendes Denken und Verwirrung der Begriffe). Begründung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Umkehr und der „Übernahme der Schuld der Welt“. Parakletisches Denken ist als Erbe des prophetischen: verteidigendes Denken.
08.01.92
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