„Tradition ist für ihn (sc. Halbwachs, H.H.) keine Form, sondern eine Verformung der Erinnerung. Dies ist der Punkt, an dem wir Halbwachs nicht folgen können.“ (Assmann, S. 45)
„Die Tatsache, daß nur Individuen auf Grund ihrer neuronalen Ausstattung ein Gedächtnis haben können, …“ (S. 47)
„Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer normativen und formativen Kraft.“ (S. 52)
Das „gemeinschaftsstiftende und stabilisierende Totengedenken“ (S. 63) erinnert eher an die obszöne „Versöhnung über Gräbern“ (Kohl in Bitburg und Verdun) und an rechtsradikale Gräberschändungen als an das wirkliche Gedenken der Toten, das an der Idee der Auferstehung sich orientiert (der uneingelösten vergangenen Hoffnung). Der Hinweis auf Mao Tse Tung sollte an den Ursprung und die konkrete gesellschaftlich-politische Bedeutung von Mausoleen erinnern.
Im Zentrum der Vorstellung des „kulturellen Gedächtnisses“ scheint wirklich die Idee einer Vergangenheit zu stehen, an die man sich halten kann. Und genau diese Vergangenheit gibt es nicht, es sei denn als Deckbild objektiver Verzweiflung.
Wer die Beziehung zur Vergangenheit im Alten Ägypten und im mittelalterlichen Judentum so vergleicht wie Assmann (S. 69), hat wirklich nichts begriffen.
Interessant und weitreichend der Hinweis, daß der Staat zu den Bedingungen der Unsterblichkeitslehre im Alten Ägypten gehörte: „Ohne den Staat zerfallen die Rahmenbedingungen sozialer Erinnerungen; damit sind auch die Wege zur Unsterblichkeit blockiert.“ (S. 71)
„Nichts liegt näher, als die Annahme, daß die Ägypter als das Volk mit dem (nächst den Sumerern) längsten Gedächtnis aufgrund ihrer lückenlosen(!), in die Jahrtausende zurückreichenden(!) Tradition ein ganz besonders differenziertes und ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein entwickelt hätten.“ (S. 73) Fallen wir nicht mit dem angeblich langen Gedächtnis der Ägypter auf ein Konstrukt herein, das auch unserem Naturbegriff zugrundeliegt. Die Entdeckung der Tiefenzeit war zweifellos auch ein Versuch, den gegenwärtigen Zustand durch Einbindung in eine möglichst unendliche Vergangenheit zu stabilieren (zu „entzweifeln“). Von der Vergangenheit (von den Toten) soll keine Beunruhigung mehr ausgehen (das wäre der Sieg der Welt).
„Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist.“ (S. 76) Das ist Ausdruck und Folge der Verinnerlichung des Opfers.
Die Bemerkung, daß die Vernichtung des europäischen Judentums unter der Bezeichnung Holocaust Mythos geworden sei (S. 76), wird vor dem Hintergrund seiner Mythos-Definition endgültig böse.
Im Kontext „Historikerstreit“: „Man muß sich nur darüber klar werden, daß Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat.“ (S. 77)
„Mythos ist die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit.“ (S. 78)
Zur Vorstellung einer homogenen Zeit gehört die andere Vorstellung, daß die Welt zu jeder Zeit den gleichen Gesetzen unterworfen ist. Diese in die Vergangenheit projizierte Voraussetzung hat Lyell in geologischem und paläontologischem Zusammenhang erstmals ausformuliert (vgl. St. J. Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit). Die gleichen Zusammenhänge machen die althistorischen Untersuchungen gelegentlich so unerträglich. In weltgeschichtlichem Kontext wird vergessen, daß die die Welt beherrschenden Gesetze nicht einfach nur gegeben, sondern auch von Menschen gemacht sind, und daß es nicht die gleiche Welt ist, die Homer mit Abraham und beide mit uns verbindet.
Ist nicht der „Kanon“ eine Art Referenzsystem, aber eines mit der Tendenz zur Verkörperung: zur Inkarnation.
Der methodologische Hauptteil beim Assmann dient nicht der Explikation des Problems, sondern seiner Verwischung, Verdrängung. Professoren-Wissenschaft: Er lebt und denkt in einer Welt, deren Grenzen von jenen bestimmt wird, die zugleich die Fachkarrieren bestimmen. So werden Außenseiter apriori ausgeschlossen (und nicht einmal mehr erwähnt: das betrifft sowohl Velikovsky und seine Nachfolger als auch Rosenzweig, Lukacz, Benjamin).
War die griechische Philosophie die Ausbreitung des Denkens nach allen Seiten und das Christentum der Versuch, die Höhen und Tiefen zu vermessen (Verwechslung von Gottesfurcht und Herrenfurcht als Folge der theologischen Rezeption des Weltbegriffs, abzusichern nur durch Trinitätslehre und Opfertheologie)?
Hegel hat die Opfertheologie verdrängt und ist an der Trinitätslehre erstickt. So war die Hegelsche Philosophie nicht das „Auto da Fe“ (Baader), sondern bloß der Selbstmord der bisherigen Philosophie. Allerdings – im gleichen Sinne, wie man von einem perfekten Mord spricht – ein perfekter Selbstmord.
Die christliche Sexualmoral, mit der Veurteilung der sexuellen Lust, entspringt genau an der Stelle, wo die Urteilslust aus dem Kontext des Sündenfalls herausgenommen und neutralisiert wird: im Ursprung des Weltbegriffs (in seiner theologischen Rezeption).
Das Rätsel Heidegger und die Lösung der sieben Siegel der Sakramente (Taufe, Firmung, Buße, Eucharistie, Priesterweihe, Ehe, letzte Ölung).
Die Vorstellung, daß kanonische Werke bestimmte „Werte verkörpern“ (Assmann), ist eine ausgesprochen autoritäre Vorstellung.
Hat der musikalische Begriff des Kanon etwas mit dem literarisch-„kulturellen“ zu tun?
Ist nicht der „Komplexitätsschub“ im griechischen fünften Jahrhundert (S. 123) eine Verharmlosung eines weit ausgreifenderen Sachverhalts (Krise des Mythos, Ursprung der Philosophie und des Weltbegriffs)?
Identität als kulturelle Identität, Ich-Identität, kollektive Identität (S. 127).
08.12.92
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