Übersetzung der Schrift in den Indikativ: Jesus hat einmal einem Pharisäer das Wort in den Mund gelegt: „O Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch dieser Zöllner.“ (Lk 1811) Wenn Christen diese Stelle lesen, denken sie: „O Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die Pharisäer.“ – Verdankt sich nicht die christliche Vorstellung, daß die Prophetie in Jesus sich erfüllt hat, u.a. der Übersetzung der Prophetie in den Indikativ (mit dem Effekt, daß man die Prophetie historisiert, sie nicht mehr auf sich beziehen muß). Der Aktualitätsbezug, der Kern der Prophetie, ist dadurch entschärft worden, daß diese Aktualität als vergangene gesetzt wird. Hat nicht die griechische (indoeuropäische) Sprachlogik (die der indoeuropäischen Grammatik zugrunde liegt, im Neutrum und im indoeuropäischen Konjugationssystem sich ausdrückt) die Offenbarung im Kern neutralisiert, zerstört, ins Erbauliche umgebogen?
Vgl. hierzu die Worte vom Sauerteig in Lk 121 (Sauerteig der Pharisäer: die Heuchelei) und 1321 (das Reich Gottes … ist gleich einem Sauerteig).
Zur Vorgeschichte der jesuanischen Pharisäerkritik gehört das Buch Kohelet (Eitelkeit und Heuchelei).
Ist nicht die Kritik der Heuchelei (die den Pharisäer-Geschichten im NT zugrunde liegt) in der Tat ein Kernstück des Christentums, verweist nicht die Heuchelei auf den Ursprung und die Funktion des Weltbegriffs, der den Differenzpunkt zwischen der „Botschaft“ Jesu und der Prophetie präzise bezeichnet?
Die Pharisäer haben nicht nur die Grundlagen für das Überleben des Judentums in der Diaspora geschaffen; sie sind zum Spiegel der Kirche geworden, die erst, wenn sie in der Heuchelei, für die die Pharisäer im NT stehen, sich wiedererkennt, vom Bann des Indikativs befreit sein wird.
Der Indikativ ist der sprachlogische Grund und das sprachliche Symbol der Heuchelei (er begründet die Logik des Schuldverschubsystems); der Indikativ ist das Korrelat des Weltbegriffs (er hat die Umkehr zum Bekenntnis gemacht). Die Konstruktion des Indikativs gehört zur Geschichte der Verinnerlichung des Opfers. Auch für den Indikativ gilt: Barmherzigkeit, nicht Opfer.
1.8.1995
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