10.01.91

Die Person ist Gegenstand von (Wert-)Urteilen: darin ist der Zusammenhang der Wertphilosophie mit dem Personalismus bei Scheler begründet. Als Urteilsobjekt aber kann die Person nicht „ich“ sagen (erst die – logisch nicht haltbare – Hypostase des „Ich“ kann zum Gegenstand gemacht werden: das idealistische Absolute).
Ich und Du: Im Liebesbekenntnis wird der Geliebte als göttliches Du angesprochen; darauf antwortet er mit dem Schuldbekenntnis: Ich bin nur ein Mensch. So wird der Schuldzusammenhang aufgelöst: durch Ausbreitung dieser Liebe. – Das Christentum hat dieses Verhältnis auf die Beziehung zu Jesus tendentiell eingeschränkt und so dogmatisch verdinglicht (im christlichen Bekenntnis, in dem die Spuren dieses Verhältnisses noch zu erkennen sind: insbesondere in der Lehre von den zwei Naturen in Christus; das verdinglichte Bekenntnis ist dann zum Modell des politischen Zwangsbekenntnisses geworden – um den Preis der falschen Vergöttlichung des Staates (des falschen Gottessohns), der Hypostasierung des Staates als Prinzip der Anklage, der Stabilisierung des Herrendenkens und des ihm korrespondierenden Verhältnisses des Bewußtseins zur Objektivität, der Erhaltung des so unauflösbar gewordenen Schuldzusammenhangs). Die Ausbreitung durch Nachfolge (in der das Verhältnis von Liebes- und Schuldbekenntnis erlösende Kraft gewinnt) ist von den Kirchen seit je unterbunden worden. – Hierauf beziehen sich die Sätze Adornos: „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner mehr zu lieben fähig ist“, und: „der Ankläger hat immer Unrecht“.
Vor diesem Hintergrund ist die Physik ein Teil der Staatsphilosophie, und ihre Kritik ist ein notwendiges Moment der Kritik an der Selbsterhöhung des Subjekts (der „Empörung“), die stabilisiert und der Reflexion entzogen wird durch eine gleichsam mystische Partizipation an der richtenden Gewalt des Staates. Die Geschichte dieser „Empörung“ läßt sich ablesen an der Geschichte des Natur- und des Weltbegriffs (oder der Herrschaft des Trägheits- und des Tauschprinzips).
Gibt es außer dem Natur- und Weltbegriff noch eine dritte Hypostase des Rosenzweigschen Begriffs des Alls (neben der Neutralisierung des Schöpfungs- und Erlösungsbegriffs durch den Natur- und Weltbegriff die des Offenbarungsbegriffs durch den Begriff der Wissenschaft)?
Raum und Zeit werden nicht von außen an die Dinge herangetragen (oder die Dinge von außen in sie hereingebracht), sondern haften den Dingen an wie das Schneckenhaus der Schnecke. Jedenfalls ist das die mit dem Relativitätsprinzip verbundene Vorstellung. Das einzige Objekt, dessen Beziehung zu Raum und Zeit sich nicht unter diese Vorstellung bringen läßt, ist das Licht (Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: niemand kann über seinen eigenen Schatten springen). Was bedeuten eigentlich das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und die Identität von träger und schwerer Masse für den Stellenwert des Inertialsystems?
Kabarett, Satire, Empörung oder der Genuß, Recht zu behalten: daher die Wirkungslosigkeit des Kabaretts? Lachen als Identifikation mit dem Aggressor (Lachen und Konstituierung des Inertialsystems)?
Alle Religionen tragen heute museale Züge, sind anachronistisch. Gleichwohl gibt es keine Religionskriege mehr. Wenn Kriege so bezeichnet werden (vom Nordirland-Konflikt bis zur Golf-Krise), dann hat das real nur die Bedeutung, daß auch obsolet gewordene Religionen Stellungen des Bewußtseins zur Objektivität repräsentieren und damit Verhaltensweisen stabilisieren, die rationale Konfliktlösungen zumindest erschweren, wenn nicht ausschließen. Die Eröffnung und Begründung von Friedensmöglichkeiten muß die Selbstreflektion der durch religiöse Traditionen bedingten Blockaden von Konfliktlösungsstrategien mit einschließen (im Golf-Konlikt die kritische Selbstreflektion der drei Buch-Religionen).
Ontologie, Wissenschaft und Sprachzerstörung, die „verandernde Kraft des Seins“: das Sein (die Kopula, der indikativische Satz, das apodiktische Urteil) nagelt das Objekt fest, macht es überhaupt erst zum Objekt: setzt es – durch Verwandlung in ein Objekt des Wissens – unter Narkose, durch Subsumtion unter die Vergangenheit (gewußt wird nur das Vergangene, und die Natur nur insoweit, als sie unter die Vergangenheitsform sich bringen läßt). Das Sein ist das sprachliche Äquivalent des Inertialsystems und des Tauschprinzips in der Wissenschaft: Es macht wie diese das Ungleichnamige gleichnamig, es zerstört die Sprache.
Das heutige naturwissenschaftliche „Weltbild“ (das gegenständliche Korrelat eines an Reproduzierbarkeit und Intersubjektivität gebundenen Wahrheitsbegriffs, in dem das Subjekt nicht mehr vorkommt) zieht seine Teilhaber zwangsläufig in den Bann des Vergangenen mit herein. Insoweit ist es ebenso zwangsläufig atheistisch (und jeder Versuch, mit naturwissenschaftlicher Begründung eine Rehabilitierung der Religion zu betreiben, schändet die Religion). Grundlage einer Kritik der Naturwissenschaften ist die Idee des seligen Lebens, ihr Modell die Lehre von der Auferstehung der Toten, nicht die von der Unsterblichkeit der Seele: d.h. die Kritik der Naturwissenschaften verknüpft die Idee einer Resurrektion der Natur (aus dem Totenreich des Inertialsystems) mit der einer Resurrektion des Subjekts (der Befreiung, Erlösung vom Inbegriff und von der Hypostasierung der Selbsterhaltung: vom Bann der Identität und von der Idee des transzendentalen Subjekts).
„Die Ablösung der Herrschaft über Menschen durch die gemeinschaftliche Verwaltung von Sachen“ wäre nur möglich, wenn sich beides wirklich voneinander trennen ließe (vgl. P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, S. 139). Die Vorstellung, beides ließe sich trennen, fällt hinter die Dialektik der Aufklärung zurück; sie resultiert aus dem undurchschauten Stellenwert der Naturwissenschaften, aus der unbegriffenen Stellung des naturwissenschaftlichen Bewußtseins zur Objektivität. Dazu paßt es, wenn P.B. in seinen Bemerkungen über die Offenbarungsreligion (S. 120ff) unbewußt in antisemitische Konstrukte hineingerät (er hätte vielleicht doch einmal die Propheten und Hermann Cohen lesen sollen).


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