11.05.89

Was mir Angst macht:

– Ich habe den Krieg erlebt; und ich bin Zeitgenosse der schlimmsten Barbarei, des maschinellen Judenmords, der auch in meinem Namen begangen wurde. Spuren, mehr noch, die direkte Erbschaft dieser Barbarei sind zweifellos heute präsent. Den Schwur „das darf nie wieder sein“ habe ich wörtlich geleistet, als die Bundesrepublik sich der „westlichen Verteidigungsgemeinschaft“ anschloß: als die verfluchten Waffen und das zugehörige geistige und organisatorische Instrumentarium wieder rehabilitiert wurden. – Ich habe Angst, daß das, was heute als Revolution auftritt, die Voraussetzungen und die Folgen der Barbarei nicht begriffen hat, und deshalb ungewollt, aus Unkenntnis selber zum Wiedererstehen der Barbarei beiträgt; und die ist alles andere als harmlos.

– „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“. Dieser Satz wird bestätigt durch das, was Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ nannten (und in diesem Werk präzisieren, thematisch durchführen). Die Geschichte der Naturerkenntnis (und ihr Resultat, das Bild der Welt, zu dem wir keine Alternative haben), ist die Geschichte eines Prozesses (auch im juristischen Sinne) gegen die Natur. Der naturwissenschaftliche Erkenntnisbegriff gleicht nicht zufällig dem staatsanwaltlichen und juristischen: er versetzt die Natur in den Anklagezustand und läßt sie als gerichtete zurück. Nur daß in diesen Prozeß die Geschichte der Gesellschaft verflochten ist: Die Geschichte der fortschreitenden Naturbeherrschung ist ein Teil der Geschichte der fortschreitenden Etablierung von Herrschaftsmechanismen und -institutionen in der Gesellschaft, die dann wiederum zu ihrer Absicherung der Eskalierung der Gewalt und der Institutionen, die sie repräsentieren (Militär, Polizei, Justiz), bedürfen. Das Gericht über die Natur schlägt auf die Menschheit zurück. – Ich habe Angst, daß unreflektierte Gewalt gegen Repräsentanten des Systems nur die Gewalt des Systems stärkt, aber nichts ändert.

– Die Fixierung auf ein Feindbild (und ihre Folge: die Identifikation mit dem Aggressor).


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie