11.09.1996

Bekenntnisgemeinschaften sind Gemeinschaften der Verurteilung: Damit ist die Bekenntnislogik (das Programm der Eliminierung: das gemeinsame Feindbild, die Ausgrenzung der Häretiker und die Bekenntnisunfähigkeit der Frauen, die zu Objekten der Sexualmoral werden) mit gesetzt. Abgeleitete Formen der Bekenntnisgemeinschaft sind der Nationalismus, die Weltanschauungsgemeinschaften; seit ihrer Installierung im Erkenntnisapparat in der Gestalt der subjektiven Formen der Anschauung gibt es zur Bekenntnislogik keine Alternative mehr.
Die Bekenntnislogik konstituiert sich im Schuldzusammenhang, zu ihren Konstituentien gehört der Rechtfertigungszwang; das Symbol der Bekenntnislogik ist der verdorrte Feigenbaum.
Der Raum kennt keinen Ort, die Zeit kennt keinen Anfang und kein Ende. – In welcher Beziehung steht die Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung zur Sprachentwicklung und zum Ursprung und zur Entfaltung der Gemeinheit?
Jeder Punkt im Raum ist Zentrum des ganzen Raumes; jeder Zeitpunkt trennt die Vergangenheit von der Zukunft. Es gibt keine Zeit, die sich nicht (im Hinblick auf eine nachfolgende Zeit) als vergangen, und keine, die sich nicht (im Hinblick auf eine vorausgegangene Zeit) als zukünftig bestimmen ließe. Aber unterscheidet sich nicht doch die vergangene Zukunft (die wirklich vergangen ist) von der zukünftigen Vergangenheit (die nur für unser Vorstellungsvermögen, unser Denken, vergangen ist)?
Zur Geschichte des Urteils: Das subjectum ist das Unterworfene, das Objekt ist der Feind. Als das subjectum zum Objekt (und damit das nomen zum Substantiv und das Prädikat zum Begriff) geworden ist, ist das Subjekt von der Objekt- auf die Subjektseite verschoben worden. Das Vehikel dieser Verschiebung waren die subjektiven Formen der Anschauung.
Sünde und Schuld sind vererbungsfähig, darin gründet ihre Beziehung zum Rassismus. Die Versöhnung ist nicht vererbungsfähig. Der Schuldzusammenhang ist ein Erbschaftszusammenhang; deshalb ist die Schicksalsidee der logische Kern des Mythos. Durchs Dogma ist auch die Versöhnung in die Erbschaftslogik hereingezogen worden.
Gilt nicht die Geschichte vom Sündenfall auch für die Eucharistie? Wer die Frucht pflückt und genießt, braucht den Schurz aus Feigenblättern (das Glaubensbekenntnis), um seine Scham zu bedecken.
Das Wort Schlangenbrut, das Jesus auf die Pharisäer anwendet, erinnert an die Schlange beim Sündenfall; es hängt mit dem andern Wort zusammen, in dem er den Teufel als ihren Vater (und als Vater der Lüge) bezeichnet. Die Schlangenbrut, das ist die Neutrumsbrut: Auf dem Bauche sollst du kriechen, Staub wirst du fressen.


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