11.10.1995

Die Dinge beim Namen nennen, das heißt: einen Stuhl einen Stuhl, ein Elektron ein Elektron, einen Mörder einen Mörder, einen Nazi einen Nazi, einen Juden einen Juden und eine Terroristin eine Terroristin nennen; es heißt, mit dem Namen ein System von Konnotationen zitieren. Die Dinge beim Namen nennen heißt heute, eine gemeinsame Sprache mit anderen sprechen, ein Einverständnis voraussetzen, das in der Klassengesellschaft in den entscheidenden Fragen nicht mehr gegeben ist. Diese Gemeinschaft, dieses Einverständnis oder auch nur eine gemeinsame „Überzeugung“ ist am leichtesten herzustellen durch die Beziehung zu einem gemeinsamen Feind (dem Repräsentanten des Objekts), welche Beziehung übrigens im Begriff der „verschworenen Gemeinschaft“ aufs deutlichste sich ausdrückt. Und die Aufforderung, die Dinge beim Namen zu nennen, heißt dann, sich zu der Gemeinschaft zu bekennen, die die Dinge bei diesem Namen nennt und sich am gemeinsamen Gebrauch dieses Namens erkennt.
Orthodoxie ist ein Produkt der Anwendung der Orthogonalität auf die Metaphysik. Kern der Metaphysik war die noesis noeseos, das Denken des Denkens, Produkt einer Anwendung des Genitivs (der grammatischen Form der Herrschafts- und Eigentumsbeziehung) auf die Beziehung des Denkens zu sich selbst. Die spekulative Entfaltung der noesis noeseos war die Trinitätslehre, die nicht sowohl in den christlichen Ursprüngen, auf die sie sich berief, gründete, als diese vielmehr als Stichwortgeber für die Konstrukte ihrer eigenen spekulativen Zwangslogik nutzte und verwertete.
Ähnlich wie an den Begriffen physis und natura, an kosmos und mundus, läßt sich die Beziehung der griechischen zur lateinischen, der prä- zur postdogmatischen Sprache, am Verhältnis von pneuma und spiritus, prosopon und persona demonstrieren. Bei den letzteren ist der Hinweis auf die grammatische Geschlechtsverschiebung nicht unwichtig (beim Geist vom Femininum ins Maskulinum, bei der Person vom Neutrum ins Femininum).
Prosopon ist das neutralisierte Angesicht, persona dessen Instrumentalisierung zur Maske (durch die hindurch die Stimme tönt): Vorläufer und geschichtslogischer Grund der subjektiven Formen der Anschauung. Sind nicht alle Anschauungen „persönliche Anschauungen“, Konstrukte aus vermittelter Unmittelbarkeit und Subjektivität? Läßt sich aus dem prosopon ein dem des Persönlichen vergleichbares Adjektiv bilden, mit vergleichbaren Konnotationen, und gibt es ein Äquivalent zur Hypostasierung dieses Adjektivs, zur Persönlichkeit?
Ist der logische Bildungsprozeß, dem der Name der Persönlichkeit sich verdankt, nicht ein Reflex und eine Rekapitulation der Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs? Ist die Persönlichkeit nicht ein Produkt der dreifachen Leugnung (mit der Selbstverfluchung am Ende): Produkt der Hypostasierung des neutralisierten und instrumentalisierten Angesichts? Im Kern dieses Bildungsprozesses steckt die Logik der Gemeinheit, die Hegel List der Vernunft genannt hat.
Auf dem Boden des Herrendenkens, zu dem es heute keine Alternative mehr zu geben scheint, ist die andere Seite die stärkere.
Die Orthogonalität ist das geometrische Äquivalent der algebraischen Multiplikation. Die Formel 3 x 5 läßt sich durch eine dreifache Fünfergruppe oder durch eine fünffache Dreiergruppe abbilden. Diese Gruppenbildung, deren Elemente gleichnamig sein müssen, aber ist das Äquivalent der Begriffsbildung, Abbild der Subsumtionsbeziehung von Begriff und Objekt. Begriffsmerkmale sind Dimensionen in einem durch Orthogonalität definierten Kontinuum.
Um Verständnis bitten ist nicht dasselbe wie um Mitleid bitten (ebensowenig wie alles verstehen alles verzeihen heißt).
Dekonstruktion des Praesens als Voraussetzung der Rekonstruktion der Gegenwart.


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