12.07.93

Erkenntnis und Interesse: Ist nicht der Begriff des Interesses ein Hinweis auf das Schuldmoment an jeder Erkenntnis, und die Einschränkung aufs unmittelbar „materielle Interesse“, die Abstraktion vom „Unschulds“-Interesse, deren Reflexion im Anschluß an die kantische Erkenntniskritik auch die Notwendigkeit der Kritik der Naturwissenschaft mit einschließen würde, der Grund, daß es zu Gemeinheit, Unrecht und Gewalt keine Alternative mehr zu geben scheint? – Und ist nicht die „Übernahme der Sünden der Welt“ eine logische Konsequenz aus der Zeitstruktur jeder Erkenntnis (Unschuld liegt nicht außerhalb, neben der Schuld, sondern in der Linie ihrer Reflexion: der Kritik der subjektiven Formen der Anschauung)? Wird man beim heutigen Weltzustand nicht schuldig durch Nichthandeln (hier liegt der Grund des Begriffs der Erbsünde), und unschuldig nur durch Handeln?
Die Virginitas war nichts weniger als ein Name der natürlichen Unschuld, und die sexuelle Unberührtheit Symbol eines von Gewalt (auch der Gewalt des Ehevertrages, vom Mythos der männlichen Vorherrschaft) nicht mehr befleckten Glücks: kein biologisches, sondern ein politisches Symbol, Symbol der Befreiung. Aber ist nicht der Mythos der männlichen Vorherrschaft ein siebenfacher: sind nicht die sieben unreinen Geister die sieben Geister der Unreinheit des Patriarchats (von denen bisher nur Maria Magdalena befreit wurde)?
Kann es sein, daß die confessio und die virginitas, wenn sie einmal vom Bann der Herrschaftsgeschichte befreit sein werden, sich als Symbole der Rechten und der Linken (des Gerichts und der Barmherzigkeit) erweisen werden?
Hat die Schrift den Gehorsam vom Hören getrennt, und ist dadurch die Schrift zu dem Feigenblatt geworden, als welche sie von der Konfessions-Theologie dann nur noch benutzt worden ist? Das Instrument dieser Trennung war der kirchliche Antijudaismus (der die jüdische Vergangenheit als Projektionsfolie ihrer eigenen verdrängten Schuld benutzt hat).
Wird sich nicht vielleicht doch einmal die Geschichte vom Feigenblatt und vom Feigenbaum als zentral erweisen, und muß man nicht zum Symbol der virginitas das andere Wort hinzunehmen: ihr wird viel vergeben werden, denn sie hat viel geliebt?
Das Wort Johannes XXIII., Jesus sei nicht gekommen, den Menschen tausend Lasten aufzubürden, hat der Kirche die Unschuld genommen. Nach dem 2. Vatikanischen Konzil, dessen Chance sie nicht genutzt hat, ist die Kirche zum steinernen Herzen der Welt geworden. Sie hat die Rechtfertigungszwänge, unter denen sie steht, nicht auflösen können.
Theorie und Praxis: Der Weltzustand heute ist so, daß man durch Nichthandeln, dadurch, daß alle, auch die heute Handelnden, im Habitus des Zuschauers gebannt bleiben, schuldig wird, während doch alles zum Eingreifen auffordert.
Zur Kritik der subjektiven Formen der Anschauung, des Begriffs des Wissens und der Wissenschaft bei Kant: Das Wissen konstituiert sich in dieser Beziehung des Zuschauens zu den Dingen, in dieser Passivitätshaltung, durch die der Zuschauende schuldig wird, solange er nicht begreift, daß dieses Zuschauen (und seine Prämissen: die Hypostasierung der subjektiven Formen der Anschauung) zu den Ursachen des gegenwärtigen Weltzustandes gehört. Dieser Habitus des Zuschauens ist nur noch aufrechtzuerhalten durch Verachtung der Armen und durch Fremdenhaß.
Ist nicht der Weltbegriff die Rechtfertigung des Zuschauers?
Das Substantiv ist der Greuel am heiligen Ort (Mt 2515, Dan 927, 1131, 1211).
Gibt es nicht einen Hinweis zum Verständnis des Wortes vom Greuel am heiligen Ort: in der Geschichte von den drei Leugnungen, wenn Petrus beim dritten Mal „sich selbst verflucht und abermals leugnet“.
Die Vorstellung von einer überzeitlichen Wahrheit (oder auch die Definition der Wahrheit als „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“) ist Produkt der Leugnung des Zeitkerns und des Aktualitätsbezugs der Wahrheit: ihres prophetischen Kerns, und zugleich die Basis und das Medium der Geschichte der drei Leugnungen.
Die ungeheure Geschichte vom Kampf gegen die Amalekiter in Ex 178ff: Josue kämpft gegen Amalek, während Mose, Aaron und Hur auf den Berg steigen. Solange Mose seine Hände erhoben hält, siegt Israel, wenn er sie sinken läßt, siegt Amalek. Als er ermüdet, holen sie einen Stein, schieben ihn unter Mose, dann stützen Aaron und Hur seine Arme, der eine rechts, der andere links. Und am Ende spricht der Herr zu Mose:
– … ich will die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel austilgen. Und:
– Krieg ist zwischen JHWH und Amalek von Generation zu Generation.
Wer ist Hur, und wer ist der Fels; und ist das Ungeheurliche denkbar, daß sich das Gebot der Feindesliebe auch auf Amalek bezieht? War Haman (der Typos des Judenfeindes im Buch Esther) als Agagiter ein Amalekiter (vgl. Num 247, 1 Sam 158 und Est 83)?
Ist nicht die Geschichte der raf und die der in jeder Hinsicht mißlungenen „Auseinandersetzung“ mit ihr, eine zwangsläufige Folge der mißlungenen Aufarbeitung der Geschichte der größten terroristischen Vereinigung, die es je in diesem Lande gegeben hat: des Nationalsozialismus?
Hatte nicht Jutta Ditfurth recht: der Staat braucht seine Terroristen; nur das reicht heute nicht mehr: er braucht auch die den Staat und seine „Leistungen“ mißbrauchenden Armen und Fremden, während der Gewaltmißbrauch des Staates in jeglicher Hinsicht, Justiz, Polizei und Militär eingeschlossen, im Dunkeln gehalten wird. Die Gefahr liegt darin, daß dem ein sehr breites und tiefes Rechtfertigungs- und Projektionsbedürfnis in der Bevölkerung entgegenkommt.
Heute berufen sich die, die gegen alle Ehebrecherinnen die Steine werfen, auf das Jesuswort: Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.
Ist es nicht wirklich beängstigend, und greifen einen nicht Schrecken und Kälte ans Herz,
– wenn die öffentliche Verarbeitung der Vorgänge von Bad Kleinen wieder einmal darauf hinausläuft, daß die, die auf Aufklärung bestehen, Gefahr laufen, als Sympathisanten diffamiert zu werden?
– wenn in einer Talkshow (Talk im Turm am 11.07.) der Tod eines mutmaßlichen Terroristen (Wolfgang Grams) mit dem Tod des GSG-Beamten begründet und gerechtfertigt wird, und keiner der Anwesenden (u.a. Erich Böhme, Gottfried Bernrath, Johannes Gerster, Dagobert Lindlau) die in den Beifallsäußerungen des Publikums lautwerdende Lynch-Gesinnung bemerkt (und schon garnicht beim Namen nennt)?
Sind die meisten Diskussionen heute nicht deshalb so unfruchtbar, weil sie nicht mehr an den Sachen, sondern an Rechtfertigungsproblemen sich entzünden?


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