Der Bekenntniszwang unterstellt die Identität von Denken und Handeln. Geäußerte Anschauungen sind aber nur noch als Vorurteile direkt handlungsbestimmend. Ihr Stellenwert ist mehr durch Rechtfertigungszwänge als durch ihren objektiven Wahrheitsanspruch bestimmt. Die Konstruktion der Gesellschaft verlegt das Selbstwertgefühl immer mehr in irrationale Bereiche. Das Verhältnis zur Wahrheit ist vollständig verwirrt. Sprachregelungen ersetzen Informationen und verhindern sie. Die bekenntnisorientierte Ketzerjagd trifft deshalb fast grundsätzlich schon die Falschen: die letzten Wahrheitssucher. (Genauer: Warum gibt es kein „wahres Bekenntnis“ mehr?) Geschichtsphilosophische Änderungen der Struktur und des Stellenwerts von Bekenntnissen. Öffentliche Bekenntnisforderungen haben mit der Wahrheit nichts mehr, umso mehr dagegen mit Unterwerfungsgesten zu tun. Geschichte des Bekenntnisses von der Homousia bis zum Radikalenerlaß.) Bezeichnend, daß Argumente nicht mehr widerlegt zu werden brauchen, sondern einfach verschwiegen, unterdrückt werden. Probleme sind allemal dezisionistisch zu lösen; Argumente haben nur noch Alibifunktion.
Das Bekenntnis ist notwendig in einer Welt, in der es fürs verdinglichte Bewußtsein einen anderen Halt oder Schutz außer dem, den die Gemeinschaft bietet: die Kirche, das Volk, der Staat, nicht mehr gibt. Das Bekenntnis ist Ausdruck der Kälte und der Hoffnungslosigkeit, zu deren Inbegriff die Welt geworden ist. Das Bekenntnis, daß Jesus Gottes Sohn und selber Gott ist, hatte vielleicht einmal Bedeutung, als es noch Ausdruck des substantiellen Glaubens und der realen, auf den Zustand der Welt bezogenen Hoffnung war, daß seine Lehre und sein Leben den Ausblick auf ein Leben in Gerechtigkeit eröffnen. Von seiner Realitätsbezogenheit getrennt ist dieser Glaube zu einem abstrakten Zeichen geworden, das nur noch ein ebenso abstraktes wie verhängnisvoll wirksames Gemeinschaftsgefühl vermittelt (Bindung durch scheinhafte Exkulpation; Regression auf eine magische Stufe unter den Bedingungen von Zivilisation, durch Erzeugung der Ängste, die sie aufzuheben vorgibt; Wiederholungszwang, der durch Selbstverstärkung, durch Eigenbeschleunigung in einen gleichsam chaotischen Wirbel, eine panikauslösende und -verstärkende Situation hineinführt; eine Situation, die nur scheinbar durch das Bewußtsein, von einer „höheren Macht“ getragen zu sein, zu ertragen ist).
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