Wie der Indikativ die Herrschenden schützt, oder über den Ursprung des Widerstands gegen die Sprachreflexion: Wie kann einer sagen: „Von Vergewaltigungen habe ich in der Nazizeit nichts gehört“, ohne daß es ihm der Gedanke brennend auf die Seele fällt, daß der Faschismus die totalisierte Vergewaltigung ist?
Der Indikativ ist die Gleitschiene der Schuldverschiebung, die Rutschbahn der Erkenntnis.
Die Grenze zwischen dem Hebräischen und den indoeuropäischen Sprachen läßt sich am Schicksal des Perfekt demonstrieren: Während es im Hebräischen auf eine vollendete Handlung (in letzter Instanz auf die zukünftige Welt, in der Gerechtigkeit und Friede sich küssen) sich bezieht, wird es im Indoeuropäischen zur abgeschlossenen Vergangenheit: Das Perfekt bezeichnet eine Handlung, ein Geschehen, in die (wie in die Vergangenheit und in die Natur, deren Begriff in dieser Konstellation gründet) nicht mehr eingegriffen werden kann. Damit hängt es zusammen, wenn beim indoeuropäischen Perfekt die Trennung von Sein und Haben (der Ursprung der Hilfsverben) einsetzt, eine Folge der Verschiebung des Perfekts ins Vergangene (auch das auf der Gleitschiene des Indikativs). Diese Verschiebung ins Vergangene (die Beziehung des Perfekts aufs Zeitkontinuum anstatt aufs Handeln) ist die Voraussetzung des Objektbegriffs, dessen grammatischer Repräsentant das Neutrum ist. Nur im Kontext dieser Sprachlogik konnten die Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt sich bilden.
Die Unterscheidung von Perfekt und Imperfekt war einmal der Grund der Unterscheidung dieser (imperfekten) Welt von der zukünftigen (vollendeten) Welt, der Katastrophe von der Rettung. Mit der Subsumtion des Perfekt unter die Vergangenheitsform (der apokalyptischen Sprach-Katastrophe) hat sich auch die Beziehung dieser (gegenwärtigen, imperfekten) zur zukünftigen Welt, die aufs Handeln der Menschen zurückweist, verändert. Der Weltbegriff ist ein Ausdruck dieser Veränderung: ein Ausdruck der Neutralisierung dieser Beziehung. Die zukünftige Welt wurde als Himmel und Hölle zu einem Teil des Kosmos, der Welt, die von Gott geschaffen, dem Menschen wie die Natur nur vorgegeben, seinem Eingriff entzogen ist. Aufgelöst wurde die Handlungsgemeinschaft mit der zukünftigen Welt, der Grund des göttlichen Gebots: War das nicht die „Sünde wider den Heiligen Geist“, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden kann (oder der durchschlagene Knoten, der, wenn er auf Erden gelöst wird, auch im Himmel geslöst sein wird)?
Die Justiz gehört (wie die Philosophie und die Wissenschaften) zu den Indikativ-Erzeugungsmaschinen. Die entscheidende Erfindung war die des Urteils.
Das Präfix Ge- (gestorben, Gehölz) bezeichnet sowohl das Perfekt als auch das Kollektiv-Abstraktum, die Ursprungsform des Neutrum.
Eine Kirche, die ihre vergangenen Handlungen nicht gegen sich gelten läßt, wendet die exkulpierende Kraft des Perfekts auf sich selber an.
Die Apokalypse bezieht sich auf die Endzeit, aber diese Endzeit liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Auch die Apokalypse ist eine ätiologische Literaturgattung, Versuch der Rekonstruktion eines Geschehens post festum: die Ursachen einer Katastrophe werden „aufgedeckt“, nicht drohend auf die Folgen eines Handelns hingewiesen. Die Apokalypse ist ein Mittel der Angstbearbeitung, nicht der Angsterzeugung.
Der Ursprung des Weltbegriffs, die Sprachkatastrophe, die er bezeichnet, ist die Vergangenheit des Weltuntergangs.
Der Verführbarkeit der Philosophie zum Nationalismus ist in der Idee des Guten begründet, in der Hypostasierung dieses Begriffs. Der Ursprungsort des modernen Nationalismus lag in dem scholastischen Satz „Unum, verum et bonum convertuntur“. Wer die Einheit und das Gute in den Begriff des Wahren mit hereinnimmt, macht das Wahre zum „bacchantischen Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“ (Hegel). Beide, die Einheit wie das Gute, sind in dieser Konstellation Repräsentanten und Statthalter der Subjektivität, der Hybris, sie begründen die Einheit der Welt und des Subjekts, ihr Korrelat ist das Absolute, nicht Gott. Nicht die Wahrheit, sondern allein Gott ist Einer, und nur Gott ist gut. Die Einheit und das Gute waren Konstituentien der noesis noeseos, des Gottes der Philosophen, der Selbstreflexion der Identität des Subjekts im Unendlichen, sie waren tendentiell antisemitisch.
„Ihr laßt die Armen schuldig werden“: Der Kapitalismus hat das Schuldverschubsystem zu einem Sündenverschubsystem gemacht. Diese Welt verstrickt nicht mehr nur in Schuld, sie zwingt zur Sünde, zur tätigen Komplizenschaft.
In der christlichen Geschichte gibt es zwei monarchische Traditionen, deren eine (die Kaiser-Tradition) auf das Römische Imperium, auf die Caesaren-Tradition zurückweist, während die andere, (die Königs-Tradition) an die messianische Tradition des israelischen Königtums, an die David-Tradition anknüpft. Die caesarische Tradition hat ihre Spuren im Dogma hinterlassen (insbesondere im Begriff der homousia, der den imperativen Kern der Theologie in den Indikativ zurückübersetzt), sie hat zweifellos auch das Verständnis der Theologie, insbesondere der Trinitätslehre, im Innern geprägt. Kann es sein, daß das Dogma in der Königs-Tradition (in England, in Frankreich, auch in Ungarn) im Kontext anderer Symbole und Begriffe verstanden worden ist, eine andere Tradition begründet hat? Unterscheiden sich die caesarische und die davidische Tradition nicht vor allem durch ihre Beziehung zum Opfer: Während der Kaiser Herr des Opfers war, war der König seine Verkörperung? Gründet der Unterschied zwischen der deutschen und den anderen modernen Sprachen in diesem Sachverhalt?
12.8.1995
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar