Die Diskussion um die Kollektivschuld war nahe an des Rätsels Lösung herangekommen; diese Lösung ist jedoch versperrt worden dadurch, daß die Kollektivschuld einfach nur verworfen wurde anstatt genauer bestimmt und entschlüsselt zu werden. Entscheidend ist, daß der gesellschaftliche Schuldzusammenhang, die Konstellationen und Bedingungen, die zur Katastrophe geführt haben, in die eigene Verantwortung mit aufgenommen werden, daß die Trauer- und Erinnerungsarbeit geleistet und nicht dadurch verweigert wird, daß man sich auf individuelle Schuld zurückzieht (falscher Sündenbegriff, der die theologische Schuld der juristischen angleicht). Wie unfähig das Recht ist, dieses Problem überhaupt wahrzunehmen und zu begreifen, erweist sich daran, daß das Recht nur die individuelle Schuld (nur die Tat, die Unterlassung nur soweit, wie sie konkret als schuldhafte Tat sich dingfest machen läßt) kennt. Es ist kein Zufall, daß es im juristischen Bereich eine wirksame Aufarbeitung der Vergangenheit nicht gegeben hat. Umgekehrt: die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit hat das Problem eher verschärft, fast unlösbar gemacht. Die eigentliche Schuld ist die, die rechtlich nicht mehr greifbar ist; und die rechtliche Verarbeitung der Schuld ist in weitem Maße eine Alibiveranstaltung, die wesentlich dazu beiträgt, daß die wirkliche Schuld nicht mehr sichtbar, fast nicht mehr bestimmbar ist. Nicht zufällig taucht hier, zusammen mit den „fürchterlichen Juristen“, das Phänomen des „pathologisch guten Gewissens“ auf. Das Recht selber wird durch die Erzeugung und Absicherung dieses „pathologisch guten Gewissens“ zu einer zentralen Ursache der jederzeit möglichen neuen Katastrophe. Zugleich schafft sich der Rechtsstaat seine eigenen Sündenböcke, ohne die die Reinheit des gute Gewissens nicht herzustellen und durchzuhalten ist. Mehr noch: Er läßt die schuldig werden, die aus Sensibilität an dieser Gesellschaft verzweifeln: Der Schuldvorwurf, der letztlich gegen diese Verzweiflung sich richtet, muß aufgelöst werden.
Sichert der Rechtsstaat auch die Wissenschaften mit ab? Beide sind durch den Begriff der Tatsache mit einander verbunden und auf einander verwiesen. Tatsachen sind „Beweis-„grundlagen sowohl im Rechtsverfahren wie im „Prozeß“ der wissenschaftlichen Erkenntnis. Der Begriff der „Tat-„sache verweist aber darauf, daß diese Beweisgrundlagen nicht einfach nur gegeben sind. Tatsachen sind grundsätzlich Tatsachen für andere, sie müssen von anderen nachvollziehbar, verifizierbar sein, die sind gegeben nur unter Bedingungen, in denen menschliches Handeln, m.a.W. die Gesellschaft mit drinsteckt. Und bewiesen wird in beiden Bereichen Schuld.
Wie hängt der juristische Schuldbegriff mit dem wissenschaftlichen (Ursache, Grund: Herrschaft des Kausalitätsprinzips) zusammen? Am Anfang der europäischen Aufklärung, im Ursprung der Wissenschaften steht die Suche nach dem Grund, dem Anfang, der Ursache: nach der Schuld. Der Grund, die Ursache, das Erste, der Anfang sind Ersatzbegriffe für Schuld; und die vom Kausalitätsbegriff beherrschte Wissenschaft ist ein Reflex des gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs. Am Anfang steht die Schuld; die „Unschuld“ steht nicht am Anfang, sondern am Ende; sie ist nicht Ausgangspunkt, sondern Produkt von Versöhnung. (Seit wann gibt es Gefängnisse? Und welchen Stellenwert haben sie im gesellschaftlich-naturgeschichtlichen Prozeß? Präsentieren sie die Hölle, die die Welt an sich ist?)
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