14.05.91

„Die Astrophysik ist ihrem Wesen nach eine historische Wissenschaft und scheint doch allen anderen historischen Wissenschaften etwas voraus zu haben: Sie kann Vergangenheit im wörtlichen Sinne sichtbar machen. Denn je weiter das gesehene Objekt am Himmel von der Erde entfernt ist, desto älter ist auch die empfangene Lichtinformation.“ (Christian Blöss: Planeten Götter Katastrophen, Frankfurt 1991, S. 12) Der Satz enthält mehrere Ungereimtheiten:
– Ich sehe die Sterne ebenso wie die täglichen Dinge „an ihrem Ort“, d.h. in einer (räumlichen) Entfernung vom Auge, die ich dann auf andere Weise mehr oder weniger genau bestimmen kann. Die „Vergangenheit“ des gesehenen Objekts (des Sterns) ist ein physikalischer, kein historischer Sachverhalt. Auch die Sternenwelt ist, wenn ich sie sehe, mir „gegenwärtig“.
– Die Subjektivierung (und Entrealisierung) dieser „Gegenwart“, die Vorstellung, daß das gegenständliche Sehen (zusammen mit den sinnlichen Qualitäten der Dinge, den „sekundären Sinnesqualitäten“) ein genetisch sowie durch Lernen und Gewöhnung produzierter Schein sei, ist in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung begründet, in der kopernikanischen Wende, im mechanischen Objektbegriff und schließlich im Nachweis der endlichen Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts.
– „Objektiv“ ist die „empfangene Lichtinformation“, eine Konstellation und Abfolge physikalischer Prozesse im Auge. Aber diese Prozesse im Auge sind an sich chaotisch: punktuelle, nicht zusammenhängende Einwirkungen auf die Netzhaut, ohne jeden Informationsgehalt über Richtung und Entfernung ihres Ursprungs (die Photonen sind ohne Erinnerung an ihren Ursprung); auch das „Bild“ auf der Netzhaut ist physikalisch keines, sondern setzt eben jenes gegenständliche Sehen (und die daraus abgeleitete Einbildungs- und Vorstellungskraft) bereits voraus, das es erklären soll.
– Auf der Grundlage der physikalischen Begriffe, und d.h. im Rahmen des Inertialsystems, des Referenzsystems, auf das alle physikalischen Erscheinungen und Begriffe sich beziehen, ist das gegenständliche Sehen (die sinnliche Gegenwart der Dinge im Raume) nicht rekonstruierbar.
– Stichworte: Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, Änderung des Inertialsystems, Konstituierung des „Lichts“ zusammen mit Kritik des vergegenständlichten Raum-Zeit-Systems, Änderung des Zusammenhangs und des Stellenwerts der Physik, ihrer Beziehung zum Objekt, Freisetzung einer objektiven sinnlichen Welt und Grenze der Instrumentalisierung, „hinter dem Rücken“ (Objektivationsprozeß) Grund der Instrumentalisierung, Zusammenhang von Instrumentalisierung, Herrschafts-, Schuld-und Verblendungszusammenhang: Auflösung des Banns, der auf der Natur lastet: Naturbegriff bezeichnet diesen Bann (Natur- und Weltbegriff).
– Naturphilosophische Konsequenzen: Kritik des Raumbegriffs (subjektive Form der Anschauung, Gleichwertigkeit der Dimensionen nur im Inertialsystem und als subjektives Apriori), Gravitationsgesetz (macht Ungleichnamiges gleichnamig), Kosmologie.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie