14.2.1995

Das „Mein ist dein und dein ist dein“ (Scholem, S. 101) bezieht sich auf den gleichen Sachverhalt, den Levinas Geiselhaft nennt. Dieses Echo der Bergpredigt im deutschen Chassidismus mag nicht praktisch sein, aber die Gottesfurcht, in die es hineinführt, ist der Anfang der Weisheit. In den gleichen Zusammenhang gehören die Sätze „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ und „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“.
„Wenn die Welt euch haßt“: Haßt die Welt heute nicht den, der sich nicht symbiotisch vereinnahmen läßt?
Gotteserkenntnis ist die reinste Gestalt der Autonomie (Jer 3134).
Das Herniederfahren Gottes und die Verwirrung der Sprache: Bezeichnat das nicht den Ursprung des Mythos und die teleologische Antizipation des Inertialsystems?
Im deutschen Chassidismus ist das Verhältnis von zweiter und dritter Person singular als Modell von Offenbarstem und Verborgenem, von Nächstem und Fernstem begriffen worden (Scholem, S. 117). Mit dem Ursprung des Neutrum wird die Beziehung der dritten zur zweiten Person gelöscht. Im Neutrum gibt es keine zweite Person (und in der vom Neutrum beherrschten Sprache keine geschlechtsspezifische Gestaltung der zweiten Person). Das Neutrum in der ersten Person ist das Sich-Verstecken Adams unter den Bäumen des Gartens: die Persönlichkeit, das verweltlichte Subjekt. Das Neutrum ist das Medium und die Basis des Schuldverschubsystems: Die Schlange kann die Schuld nicht weiter verschieben. Das Ich des deutschen Idealismus ist das Subjekt des spekulativ entfalteten Neutrum: Bindeglied zwischen Hegels Absolutem und der Schlange (die das klügste aller Tiere war).
Liegt der tiefste Schmerz im Buche Hiob nicht darin, daß dem Hiob am Ende zwar neue Söhne und Töchter geboren, die toten aber nicht auferweckt werden? Ihr Tod war nicht für sie, sondern nur als Prüfung Hiobs wichtig.
Die Binde, die nach mittelalterlicher Symbolik auf den Augen der Synagoge liegt, ist eine Projektion der Kirche. Ist der Vorhang des Tempels, der beim Tod Jesu entzweiriß, das nicht die Decke, die bis heute auf der Schrift liegt, sie bis heute fundamentalistisch verhext (Symbol der Logik der Schrift)?
Der Satz, daß das Vergangene nicht nur vergangen ist (den die Logik der Schrift leugnet), ist zu ergänzen durch den andern Satz, daß es in dieser Welt keine Unschuld mehr gibt. Der Unschuldstrieb, den das Christentum mit der Sexualmoral in die Welt gebracht hat, wird denunziert durch die Geschichten
– von der Ehebrecherin (wer von euch ohne Schuld ist, …),
– von der Samaritanerin (vier Männer hattest du, und der fünfte ist nicht dein Mann) und
– von Maria Magdalena (die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde).
Die Sexualmoral ist das Instrument und die Erscheinung (das Produkt) der Verinnerlichung der Scham (Zusammenhang mit dem Unschuldstrieb, dem Rechtfertigungszwang und der projektiven Struktur der Erkenntnis, dem Schuld-, Herrschafts- und Verblendungszusammenhang).
Ist nicht die Kirche das Planetensystem, dessen antipodisches Zentralfeuer die jüdische Tradition ist?
Ein Regenbogen, in dem die Farben – von außen nach innen – von rot, orange, gelb über grün, blau bis violett erscheinen.
Die Kritik und Rekonstruktion der Theologie darf den Schein der Blasphemie nicht fürchten. Dieses Blasphemische wäre nur die Schmerzgrenze der Subjektivität, im Kontext des Weltbegriffs allerdings etwas sehr Objektives, ebenso objektiv wie die Astrologie. Ist diese Schmerzgrenze nicht zugleich die Scham- und die Todesgrenze? Das Inertialsystem ist diese Schmerz-, Scham- und Todesgrenze, die die Dinge von der Sprache trennt; zu deren subjektiven Voraussetzungen gehört die Verinnerlichung der Scham. Diese Grenze gehört zu den Voraussetzungen der projektiven Erkenntnis (des Natur- und Materiebegriffs).
Hat nicht der Geheimnisbereich des Staates, der heute gleichsam explodiert, etwas mit der Astrologie zu tun?
Bemerkung zur Sexualmoral: Dem Begriff der Tatsache liegen der Unschuldstrieb und der Rechtfertigungszwang (die Abwehr der Gottesfurcht) zugrunde: Die „Tatsache“ gründet in einer Tat, die zugleich geleugnet wird (die aber erst seit dem Ursprung des Inertialsystems geleugnet werden kann): Je nackter die Tatsachen, umso unschuldssüchtiger das Bewußtsein, umso stärker der Rechtfertigungszwang und umso tiefer das projektive Strafbedürfnis. Nackt (entkleidet) werden die Tatsachen durch ihre Objektivation, ihre Subsumtion unter die Vergangenheit: d.h. fürs Herrendenken. Nackte Tatsachen sind für die Barmherzigkeit unerreichbar, es sei denn, unter dem Symbol der Auferstehung der Toten.
Dr Begriff ist hamitisch: Er weigert sich, das trunkene und nackte Objekt zuzudecken, macht vielmehr seine Trunkenheit und Nacktheit (über die subjektiven Formen der Anschauung) öffentlich. Das Wahre ist nach Hegel der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist.
Reklame ist das modische Kleid der Waren.


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