Das Wort Gott war laut Kluge ursprünglich ein Neutrum: also ein Begriff, nicht ein Name.
Jutta Voß: Der Feminismus auf der Suche nach einer Religion, die die Welt nicht antastet, aber doch von der Last befreien soll. Liegt das nicht in der Konsequenz der christlichen Opfertheologie, der „Entsühnung der Welt“, des Bekenntnisprinzips?
Vorsicht: Nicht das feministische Experiment ist der Greuel am heiligen Ort, sondern die Unfähigkeit der Orthodoxie, in diesem Experiment die Logik des eigenen Prinzips zu erkennen. Die Verführung, den Balken als Vergrößerungsglas zu gebrauchen: die projektive Verarbeitung der eigenen Schuld.
Das „Lehrzuchtverfahren“ der zuständigen Kirche möchte aus der Wildsau wieder eine domestizierte Zuchtsau machen?
Die Verführung durch die Bekenntnislogik liegt darin, daß in ihrem Kontext die Gespensterkämpfe der Religionen und Weltanschauungen mit dem verwechselt werden, was in ihnen sich ausdrückt. So braucht man sich um die Gründe der realen Kämpfe in der Geschichte nicht mehr zu kümmern. Dagegen wäre nichts notwendiger, als die realen gesellschaftlichen Naturkatastrophen, die in den Gespensterkämpfen sich widerspiegeln, endlich wahrzunehmen. Das gehört zu den Voraussetzungen dafür, überhaupt erst sehen zu lernen, was heute sich zuträgt.
Die Kanaanäer waren die Händler. Ist nicht der Wildschweinmythos, den Jutta Voss beschreibt, eine bereits durch die Geldwirtschaft vermittelte Gestalt des Matriarchats: Trägt er nicht die wachsenden Früchte des Patriarchats bereits in sich? Anstatt die zweite Natur zu mythisieren, käme es darauf an, die Spiegelungen der ersten in der zweiten zu analysieren.
Eine Religion, die mit keinem Wort Gesellschaftliches reflektiert, für die Armen und die Fremden inexistent sind, wird natürlich auch großzügig von materiellen Bedingungen der religiösen Vorstellungswelt abstrahieren: Nur so entsteht der Schein, der die Bekenntnislogik begründet, Religionen ließen sich, wie die Gesetze, Begriffe und Erscheinungen in der Physik, unbeschadet ihres Gehalts im historischen Zeitkontinuum verschieben: Das wäre der Sieg der Natur über die Religion, gegen den die Idee der Auferstehung und das Wort sich richtet: die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.
Jutta Voss‘ Begriff der „heiligen Materie“ drückt aufs genaueste den Zusammenhang der Bekenntnislogik mit dem Inertialsystem aus. Diese „Religion“ ist ein Produkt der Kultur- und Freizeitindustrie; verräterisch eine Bemerkung, die darauf schließen läßt, daß sie Freiheit und Emanzipation, nur als finanzielle Unabhängigkeit versteht (selbst wenn es keine Alternative mehr dazu geben sollte, wäre es nicht zu verantworten, die Reflexion dieses Sachverhalts zu verdrängen).
Das Entsetzliche an solchen Büchern ist, daß man die Aprioris des Bewußtseins des letzten Jahrzehnts in die gesamte Vergangenheit zurückprojiziert: So hat es das Christentum einmal mit der eigenen jüdischen Vergangenheit gemacht. Nicht zufällig erinnert dieser Umgang mit dem Mythos an den Umgang der christlichen Theologie mit dem von ihr sogenannten Alten Testament (eine Bezeichnung, die Jutta Voss zusammen mit den ihr in der Geschichte des Chistentums zugewachsenen antijüdischen Konnotationen unreflektiert übernimmt: aber vermutlich wird das nicht Gegenstand des „Lehrzuchtverfahrens“ sein). Die Vergangenheit als Objekt der Diffamierung, Ausbeutung und Verwertung für eigenen Zwecke und die Zerstörung der Erinnerung: das ist auch ein Produkt der christlichen Tradition (und die Geschäftsgrundlage der Bekenntnistheologie).
Der jüdische Tempel unterschied sich von allen anderen zeitgenössischen Tempeln dadurch, daß er nicht das Haus des Gottes, sondern das Haus seines Namens war.
Nach Jes 661 hat Gott den Himmel als Thron und die Erde als Schemel seiner Füße: Hat die Zerstörung des Himmels durch die Rezeption des Weltbegriffs, vollendet in der kopernikanischen Wende, Gott um seinen Thron gebracht?
15.07.93
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