Rehabilitierung der Sexualmoral als politische Moral, oder Zerstörung der Sexualmoral durch Sexualmoral: Adornos „erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer unrecht“ verweist auf einen Zusammenhang von Sexualmoral und Herrschaftskritik oder auf das elliptische Wesen der Sexualmoral (vgl. Keplers Planetentheorie). Der Verzicht auf Herrschaftskritik und die Zurückdrängung der Sexualmoral ins Private, Ursache des Voyeurismus und des Geschwätzes (die heute in BILD triumphieren), lassen sich nicht trennen; und der Verzicht aufs sexualmoralische Urteil bedeutet nicht den Verzicht auf Sexualmoral. Was heute allein noch Keuschheit heißen darf (und an der Geschichte der Scham sich zu orientieren hätte), wäre nur zu fassen, wenn es gelingt, Politik im Spiegel sexualmoralischer Kategorien zu begreifen: Der Ödipuskomplex (die Ermordung des Vaters und die inzestuöse Bindung an die Mutter) beschreibt nicht nur einen psychologischen, sondern sogar primär einen geschichtlich-politischen Sachverhalt. Ähnlich die biblischen Geschichten
– von der Aufdeckung der Blöße Noachs durch Ham,
– von Sodom und Gomorrha und von den Töchtern Lots, die ihren Vater trunken machen, um durch Verkehr mit ihm die Nachkommenschaft sicher zu stellen,
– von den Frauen im Stammbaum Jesu: von Levi und seiner Schwiegertochter Tamar (der Levi die Leviratsehe mit seinem jüngsten Sohn vorenthielt), von der Hure Rahab in Jericho (die namensgleich ist mit einem Seeungeheuer), von der Moabiterin Rut und Boas, von David und Betseba (der Frau des Hetiters Urias und der Mutter Salomos),
– von Daniel und Susanne (und der Überführung der Greise, die sich für ihre eigene Abweisung durch eine falsche Anschuldigung rächen wollten),
– aber auch die einschlägigen Prophetengeschichten,
die – wie andere nicht genannte – eigentlich allesamt nur verständlich sind, wenn sie nicht nur als Beispiele biblischer Privatmoral, sondern zugleich als Ausdruck geschichtlich-politischer Sachverhalte verstanden werden. Hier ist einer der Schlüsselpunkte, an denen gezeigt werden kann, wie das Christentum durch die Privatisierung der Sexualmoral sich selbst das Verständnis der Schrift verstellt hat. Dieses Verhältnis von Politik und Sexualität aber würde mißverstanden, wenn man es nur „symbolisch“ verstehen würde: Es bleibt ein sexualmoralischer Grund der Beziehung, der mit dem Verhältnis von Im Angesicht und Hinter dem Rücken zusammenzuhängen scheint (vgl. den Zusammenhang des Rousseauschen Naturbegriffs mit seiner Inzest-Mythologie). Der moderne, im Kern ökonomisch und naturwissenschaftlich zugleich bestimmte Weltbegriff neutralisiert diesen Zusammenhang nur scheinbar, er selbst ist durch ihn (patriarchalisch, sexistisch) überdeterminiert. Läßt sich das Bindeglied zwischen Politik und Sexualität (Welt und Natur?) genauer bestimmen?
15.10.92
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