Die Barmherzigkeit ist der Mutterschoß der zukünftigen Welt. Hängt nicht die Rosenzweigsche Übersetzung von Gen 12a: „Geist Gottes brütend über den Wassern“ (Stern der Erlösung, Frankfurt 1988, S. 170), hiermit zusammen? Und wenn die Propheten „im Mutterschoß“ berufen wurden, heißt das nicht, daß sie im Namen der Barmherzigkeit berufen wurden?
War nicht die 68er Bewegung ein Ausbruchsversuch aus der gleichen Lähmung, die mich in den 60er Jahren am Schreiben gehindert hat? Aber ein Ausbruchsversuch, der die Voraussetzungen seines möglichen Gelingens zugleich verdrängt hat? Meinen Hoffnungen, mit denen ich die 68er begleitet habe, war eigentlich von Anfang an das Bewußtsein, daß es so nicht möglich war, beigemischt. Die 68er waren einer Logik verfallen, die aus ihrer Beziehung zum Faschismus, aus den daraus erwachsenen Rechtfertigungszwängen, sich herleiten läßt: Die Verurteilung des vergangenen Faschismus, die jedes Verständnis ausschloß, umschrieb die ganze Spannweite der philosophischen Bewegung von Spionoza bis Hegel: das Urteil über den Faschismus war im Anfang der „index veri et falsi“, es erwies sich dann als der „bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“. Die Verurteilung des Faschismus war ein „historisches“ synthetisches Urteil apriori, es kehrte sich als juristisches „synthetisches Urteil apriori“ in den „Staatsschutzprozessen“ gegen die, die im Licht dieses Urteils die Gegenwart zu zu begreifen versucht hatten. Der Grundfehler lag in dem unausweichlichen logischen Zwang, der mit dem doch so evidenten Schuldspruch über den Faschismus die gesamte Vergangenheit neutralisierte, die Erinnerung gegenstandslos machte.
Welche rechtslogische Bedeutung hat die Umwandlung des Angeklagten in einen Feind: Gewinnt nicht das juristische Urteil erst durchs Feindbild sein apriorisches Objekt (so wie die transzendentale Logik durch die subjektiven Formen der Anschauung)?
Die juristische Adaptation des Feindbildes (deren Logik der Carl Schmittsche Rechtsphilosophie zugrundeliegt) ist der Kern der Notstandslogik, die in den Staatsschutzverfahren den Rechtsstaat dekonstruiert.
Wenn der Rechtfertigungszwang zum Gerüst der transzendentalen Logik des Rechts wird, wird der Strafvollzug zur Grundlage des „Reichs der Erscheinungen“, die selber kein Teil des Reichs der Erscheinungen ist, wird der Strafvollzug zu dem hinter den Erscheinungen verborgenen Ding an sich.
17.12.95
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