17.2.1997

Zu Rosenzweigs Kritik des „All“: Der Allbarmherzige ist der Unbarmherzige. Allbarmherzigkeit ist eine Barmherzigkeit, die nur noch rechtfertigt, nicht mehr gerecht macht, die vor der Macht als Grund der Welt kapituliert (vgl. die Ausführungen Kippenbergs zur islamischen taqiyya in „Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen“, S. 459ff). Eine Sündenvergebung, die nicht mehr gerecht macht, ist nur noch eine Verdrängungshilfe: Das leisten die subjektiven Formen der Anschauung besser. Die Abstraktion vom Blick des Andern ist die Abstraktion von Schuld (vom verurteilenden Blick des Andern), nicht ihre Aufhebung; sie dispensiert von der Anstrengung der Versöhnung. Deshalb gehört zu der mit der Geschichte der Naturwissenschaften verbundenen Subjektivierungsgeschichte die Subjektivierung der Schuld zu Schuldgefühlen. Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Erlösung automatisiert. Der Allbarmherzige ist der Prototyp der subjektiven Formen der Anschauung (ohne die es den Begriff des All nicht geben würde). Die Barmherzigkeit hingegen ist konkret. Barmherzigkeit ist die individualisierende Kraft der Erkenntnis, sie hat Teil an der erkennenden Kraft des Namens. Gerechtigkeit hingegen ist die gleichmachende Gewalt, Ursprung des Begriffs: Sie kann Rechts und Links nicht mehr unterscheiden (und in der Folge auch Oben und Unten, Vorn und Hinten). Der Welt liegt die Gewalt zugrunde, der Erde die bis heute verborgene und ungehobene Barmherzigkeit.
Liegt nicht der Fehler der LXX und der gesamten, darauf sich stützenden hellenistischen Tradition darin, daß hier adonai, der Deckname des Gottesnamens, mit „der Herr“ anstatt mit „mein Herr“ übersetzt worden ist?
Die irdischen Väter repräsentieren in der Familie die Außenwelt und das Realitätsprinzip, der himmlische Vater Jesu dagegen die Barmherzigkeit als Inbegriff der zukünftigen Welt.
Beim Versuch, die Schrift zu verstehen, wird man eines beachten müssen: In der Schrift ist ein Vergleich niemals nur ein Vergleich, ist ein Gleichnis nicht nur ein Gleichnis. Wer in der Verheißung an Abraham das „Wie“ (zahlreich wie der Sand am Meer und wie die Sterne des Himmels) begreift, hat die Schrift begriffen.
Ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter nicht mehr als eine moralische Fabel, und hat sie nicht etwas mit der Begegnung Jesu mit der Samariterin am Brunnen zu tun?


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