18.11.1994

Ist die bei Paul Forman unterstellte „tiefe Feindseligkeit der Epoche gegenüber der Mathematik und Physik“ (S. 64) nicht ein Indiz für das paranoische Klima in den Naturwissenschaften seit dem Ende des Ersten Weltkriegs? Und liegen hier nicht die Ursachen für die wachsenden Rechtfertigungszwänge und die fortschreitende Ideologisierung der Physik? (Das erinnert an das Verhalten der Hermes-Schüler in dem gemeinsamen Seminar für Philosophen und mathematische Logiker in Münster in den fünfziger Jahren.) Die „starke Sensibilität und Anteilnahme an den sozialen Problemen“ scheint Paul Forman (ebenso wie die Rechtfertigungszwänge der Physiker in Deutschland in der Weimarer Zeit) zu den „grundsätzlichen, oft ausgesprochen antiwissenschaftlichen Regungen“ zu rechnen. (S. 65) Es ist ihm nur eine Anmerkung wert, daß die „Weimarer Akademiker“ „im großen und ganzen … in der Demokratie und in den republikanischen Institutionen die Ursache ihrer sinkenden Wertschätzung“ sahen (S. 88, Anm. 59). Notwendigkeit einer Analyse der Verstrickung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in Rechtfertigungszwänge, ihrer Ursachen und Folgen. Diese Rechtfertigungszwänge haben ebensosehr innerphysikalische wie politisch-ökonomische Gründe. Ist Spengler an allem schuld (weshalb hatte Spengler diesen spektakulären Erfolg)? Hängt der Widerwille gegen das Kausalitätsprinzip als Erkenntnisprinzip (dessen Leugnung von Leuten, die gleichzeitig an der Konstruktion einer „Uranmaschine“, wenn nicht bereits der Atombombe, arbeiten, eigentlich nur noch komisch ist) nicht mit der Leugnung der Kriegsschuld, mit der faschistischen Verarbeitung der Niederlage und des Friedensvertrags von Versailles, zusammen (aber zweifellos auch ebenso mit den Problemen der Anwendung des Kausalitätsprinzips auf gesellschaftliche Zusammenhänge)? Die Attraktion des Begriffs des Schicksals (bei Spengler wie allgemein in der Weimarer Republik, vgl. S. 207) hängt mit der Schuldverarbeitung zusammen: Schicksal ist das Produkt der Neutralisierung (der Apersonalisierung) von Schuld. – Vgl. den genetischen Zusammenhang des Inertialsystems mit dem Schicksalsbegriff, die Verflochtenheit beider mit den Exkulpationsmechanismen. Liegt das, was Forman analysiert und als „Anpassung ans Milieu“ beschreibt, nicht ebensosehr in der inneren Logik der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Aufklärung in dieser Zeit wie in der Logik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung? Wäre nicht aus der innerwissenschaftlichen Logik die gesellschaftliche Logik zu ermitteln? Paradigma: Änderung des Positivismus in der Entwicklung von Mach zum Wiener Kreis. Während es dem alten Positivismus noch um das transzendentallogische Problem der Konstitution des Objekts, der Beziehung der Theorie zu den „Empfindungen“, ging, ist der neue Positivismus zum reinen Rechtfertigungszwang geworden (deshalb die Neigung zur Paranoia – vgl. Heideggers objektlose Angst); für ihn scheint es keine Objekte mehr zu geben.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie