Muß wirklich „alles, was sich der Entwicklung des Ich hemmend entgegenstellt oder sie zu verhindern sucht, um das von der göttlichen Welt gesetzte Ziel dieser Entwicklung zu verfälschen oder zu verdunkeln, als böse bezeichnet werden“ (Bühler, S. 133)? Was meint er mit dem, „was sich der Entwicklung des Ich hemmend entgegenstellt oder sie zu verhindern sucht“? Kann dieser Satz nicht z.B. auch fremdenfeindlich und antisemitisch verstanden und angewendet werden?
S. 134: Die Versuchungen sind allesamt Ich-bezogen: Sie beziehen sich auf „Genußsucht, Verlust der Selbstbeherrschung oder Schlimmeres“. „Im raffinierten Genuß, der lediglich um des Genusses willen herbeigeführt wird, findet jedoch das Böse ein großes Angriffsfeld.“
Das alles paßt zum „Urübel des Egoismus“ (ebd.), den diese Ego-Bezogenheit so formuliert, daß es nur auf andere zutrifft.
Ist nicht die Personalisierung des Bösen ein Nebeneffekt des Weltbegriffs?
S. 137: Sind nicht Luzifer und Ahriman Personifikationen des Manisch-Depressiven (mit der Gefahr der Dämonisierung der Krankheiten)?
Wer das Böse wie Walther Bühler nach draußen projiziert, dem polarisiert es sich zu Luzifer und Ahriman. Kehrt darin nicht der manichäische Dualismus, nur mit der Dämonisierung beider Seiten, wieder?
S. 144: Kann man sich „technischer Organisationsformen oder der Todeswerkzeuge der modernen Rüstungsindustrie“ auch mit „spirituellem Hintergrund“ bedienen; wäre das nicht eine Definition des Fundamentalismus?
Ebd.: Ist der Eindruck, ein Text sei unverständlich, nicht selten darin begründet, daß man das Gefühl hat, man würde den Autor beleidigen, wenn man das, was man versteht, aussprechen würde?
Widerspricht es nicht dem Jesus-Wort „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, wenn Bühler in der Passionsgeschichte die Menschen, denen er Jesus ausgeliefert sieht, dämonisiert? Vgl. den Text, in dem Bühler diese Menschen beschreibt (S. 152); er könnte aus Oberammergau stammen („Er ist Menschen ausgeliefert, deren Bewußtsein ganz an die Sinnenwelt gebunden ist und die kein verklärendes, höheres Licht in diesem, der Gotteslästerung angeklagten Menschen erblicken können“, „Gegnerschaft der Pharisäer und ihrer Anhänger“, „die menschlich-untermenschlichen Vorgänge der Karwoche“).
Im Hinblick auf Karfreitag und Ostern von Raupe und Schmetterling und von der Metamorphosenlehre zu sprechen, ist schlicht blasphemisch. Hier wird die Sphäre der Wahrheit in Natur zurückgestaut, auf unsägliche Weise verdinglicht, und damit erst wirklich böse.
Ist in die Beziehung, die Walther Bühler zwischen Plastik und Musik sowie Astral- und Ätherleib wahrnimmt, nicht die Bemerkung Spenglers mit hereinzunehmen, daß was bei den Griechen die Skulptur war, in der modernen Welt die Musik ist?
Wichtig und interessant wäre die Analyse der Vermittlerfunktion der Astronomie in der historischen Beziehung von Kosmos und Staat (Chaldäer und Kopernikus).
Der entscheidende Mangel der Anthroposophie scheint zu sein, daß die Zivilisationsgrenze (Ursprung des Weltbegriffs, Zusammenhang mit der Institution des Staates) und hierbei insbesondere die Beziehung von Ich und Eigentum nicht in Frage gestellt, nicht in die Reflexion mit hereingenommen wird.
Gleicht das, was ich Erinnerungsarbeit nenne, nicht dem Verfahren des Anglers, der am Ufer des Unbewußten sitzt und seinen Köder hineinwirft?
Haben nicht der philosophische und der im strengen Sinne theologische Gebrauch des Logos-Begriffs etwas mit einander zu tun: Sind sie nicht durch Umkehr auf einander bezogen?
In apokalyptischen Texten (Jes 344, Off 614, vgl. auch Mt 2429, 1 Pt 37.10) gibt es den Topos, daß am Ende der Himmel wie eine Buchrolle sich zusammenrollt. Aber ist das nicht längst geschehen, ist diese Buchrolle nicht die Thora, der Logos, die Literatur, und erst der davon getrennte Himmel der Gegenstand der Astronomie? Hat sich nicht der im Anfang erschaffene Himmel ins Buch zurückgezogen (die Schrift ist gleichzeitig mit dem Geld entstanden)?
Ist nicht der Historismus ein Versuch, die Vergangenheit durch Vergegenständlichung (und gleichzeitige Instrumentalisierung) unschädlich zu machen?
Die Vorstellung, daß das Ich mit dem Feuer und Entzündungsprozessen zusammenhängt, erklärt den Zusammenhang mit den autoritären Formen der Ichbildung (Beleidigungsbereitschaft, Anklage und Rechtfertigungszwang: Einbindung in den Schuldzusammenhang). Verweist das Bild des Fiebers, dessen sprachliche Wurzel an den Problemen der Ichbildung sich ablesen läßt, nicht auch auf einen heilenden Effekt von Entzündungen (was entspricht in den Ich-Prozessen dem Wadenwickel)? Ist das Christentum nicht (im Unterschied zu den beiden anderen abrahamitischen Religionen) eine Ich-Religion (eine Entzündungskrankheit, ein Fieberanfall), und ist es dazu nicht durch seine ambivalente Beziehung zum Weltbegriff geworden?
Der Objektivierungsprozeß hat das Schreien der Dinge zum Verstummen gebracht, erstickt. Seitdem ist die Materie die zurückgestaute Kraft des Namens (und die Natur die schizophrenisierte Schöpfung).
Der Begriff der Natur deckt die Sünde der Welt zu.
Rousseaus „Zurück zur Natur“ liegt auf der Grenze des Zurück in die Unschuld des Schlafes oder des Todes. Tote sind unschuldig, weil sie nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können; gilt deshalb: de mortuis nihil nisi bene? Unschuldig sind die Toten nur im Anblick der Welt.
Die Kopenhagener Schule und der Doppler-Effekt (mit der Vorstellung des expandierenden Raumes und der Urknall-Theorie), die an die beiden Relativitätstheorien Einsteins sich anschließen, sind Veranstaltungen, das Inertialsystem (und mit ihm der objektivierende Erkenntnisbegriff und das Herrendenken) gegen die Reflexion abzuschirmen, in die es durch Einstein hereingezogen worden ist. Wobei das Dementi mit der Verachtung der seitdem sogenannten „klassischen Physik“ (zu der dann auch Einstein noch gerechnet wurde) gleich mitgeliefert worden ist (Modell der Kohlschen Rhetorik, oder der Sieg des Lachens über das Weinen).
18.11.93
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar