18.12.95

Unzuchtsbecher: Hängt nicht der 68er Bruch mit Veränderungen in der Kindheit nach 45 zusammen? Mit der Struktur einer Kindheit, die nach der radikalisierten Trennung von Beruf und Familie von jeder realen Erfahrung der Außenwelt abgeschnitten war. Die ersten Erfahrungen der Außenwelt, deren Repräsentanten in der Familie deren „beruftätige“ Mitglieder, der Vater und immer häufiger auch die Mutter, waren, verschmolzen mit verworrenen Meldungen über eine Zeit, die so schrecklich war, daß man sich damit möglichst nicht befassen sollte. Der Faschismus war gleichsam der letzte Repräsentant jener Tabuzone, deren Grenzen in „normalen Zeiten“ durch die Sexualmoral (und versteckt durch die politischen und kirchlichen Herrschaftsstrukturen, in die das Leben eingebunden war) definiert wurden. Die Wand, die die Selbsterfahrung von einer Vergangenheit trennte, die nur noch den Schrecken repräsentierte, schien erfahrbar zu werden, als die Schrecken der Vergangenheit begannen, mit den ersten Außenwelt- und Öffentlichkeitserfahrungen zu verschmelzen, mit dem Bild der verständnislosen Eltern, mit den Schockerfahrungen, die, beginnend mit der Einschulung, dann zum Modell der Realitätserfahrung überhaupt geworden sind, sowie schließlich mit dem Eintritt in die Berufs- und Erwachsenenwelt, der durch die im Zuge der Rezession zusehends sich verschärfenden Zugangsbedingungen die Schrecken der Kindheit ins Unerträgliche potenzierte.
Der 68er Bruch hat der wirklichen Öffentlichkeitserfahrung den Weg verstellt, die Außenwelt dem Schuldverschubsystem, den Empörungsmechanismen und dem Urteil, insgesamt dem projektiven Rachetrieb, preisgegeben (er hat die Außenwelt zum Objekt einer Logik gemacht, deren sexualmoralisches Modell die Vergewaltigung ist). Das religiöse Korrelat dieser Außenweltlogik ist der Fundamentalismus.
Wenn der Faschismus zur Tabuzone wird, wird die Menstruation zur politischen Frage.
Die Tagträume werden heute von der Kulturindustrie produziert, verwaltet und in eigene Regie übernommen. Bei allen wechselnden Moden hält sie das eine Ziel fest in Augen: die Leute am Erwachen zu hindern.
Unter den Spinnen gibt es Arten, bei denen das Weibchen das Männchen nach der Begattung frißt. Ist das nicht ein Symbol der Beziehung von Genesis und Geltung, insbesondere in den Naturwissenschaften, in denen der Ursprungsprozeß unrekonstruirbar geworden ist? Haben die Naturwissenschaften nicht überhaupt etwas sehr Spinnenhaftes?
Das Urteil ist nur zu retten, wenn die transzendentale Logik selber zum Gegenstand der Kritik der Urteilskraft geworden ist.
Die Wahrheit hat etwas mit der metaphorischen Kraft der Sprache zu tun, die die Gewalt des Indikativs sprengt: Ist nicht der Indikativ der Repräsentant der mathematischen Erkenntnis in der Sprache? Der Indikativ schließt Vergangenheit und Zukunft kurz, bringt so die reale Gegenwart zum Verschwinden und ersetzt sie durch das Präsens. Nur durch die Metaphorik hat die Sprache noch Teil an der realen Gegenwart. Läßt sich daraus nicht begründen, daß und weshalb die Bibel endlich soweit zu dekonstruieren ist, daß sie als Steinbruch für die dogmatische Beweislogik unbrauchbar wird? Statt dessen käme es darauf an, in den Text hineinzuhören: sowohl in die Querverweise (vgl. Lazarus, die sieben unreinen Geister, den Kelch) als auch in die narrativen Elemente, die jedes für sich aufs genaueste aufzunehmen (und so dem erbaulichen Gebrauch zu entreißen) sind.
Das Hören, der Gehorsam und das Herrendenken.
Zu Gehorsam: woher kommt das Suffix -sam? Hat es etwas mit Sammeln, mit der inneren Pluralisierung zu tun (mit dem Vertreiben des Subjekts), oder genauer: mit der Ersetzung der erhabenen Gemeinschaft, für die der Name Israel steht, durch eine Form der Kollektivität, die im Bannkreis der Herrschaft (unterm Herrenblick: im Kontext der subjektiven Formen der Anschauung) sich konstituiert? Läßt nicht der Name Israel, der u.a. auch das Subjekt der Psalmen bezeichnet, durch das Wort sich definieren: Solidarität ohne Komplizenschaft (ein Wort, das sich sehr eng mit Ton Veerkamps Titel „Solidarität und Autonomie“ berührt)?
Vgl. auch die Beziehung des Namens Israel zum Namen der Hebräer, der die Hereinnahme der Fremdbezeichnung ins eigene Selbstverständnis der Israeliten dokumentiert (vgl. hierzu wiederum die Bedeutung und Funktion des griechischen Kollektivbegriffs der Barbaren). Auf ein merkwürdiges Problem in dem Gebrauch, den Moses von diesem Namen macht, wenn er gegenüber Pharao sich auf den „Gott der Hebräer“ (später dann auf JHWH) sich beruft, bleibt hinzuweisen: Spricht Moses hier nur die Sprache Pharaos, oder sind weitere Konnotationen mit zu heranzuziehen (u.a. eine mögliche Beziehung zur dreifachen Gotteserscheinung: im brennenden Dornbusch, am Sinai, als Moses IHN von hinten sehen darf, und schließlich in der Erscheinung „von Angesicht zu Angesicht“?
Wenn die Schöpfung im Zeichen des Lichts steht, steht dann nicht die Apokalypse im Zeichen des Feuers (und sind beide nicht sprachsymbolische Zeichen, deren Verhältnis sich bestimmen läßt und zu bestimmen wäre)?
Ist das Feuer ein durch Tragheit und Schwere vermitteltes Licht, steckt in der Beziehung beider mocht die ganze Geschichte des Dogmas (der Bekenntnislogik) und der Naturwissenschaften (des Inertialsystems)?


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