Fallen nicht die sogenannten nichteuklidischen Geometrien alle unter das Problem der kantischen Antinomien (unter das Beweisproblem)? Sind diese Antinomien (wie überhaupt die mit der Raumvorstellung verbundenen Vorstellung des Unendlichen) nicht ein Hinweis auf eine Art logischer Redundanz, die an der „Unbeweisbarkeit“ des Parallelenaxioms (dem innergeometrischen Äquivalent der kantischen Antinomien) sich dingfest machen lassen müßte? Sie rührt an den Grund des Problems des logischen Beweises in der Mathematik (ein Problem, das Kant mit seiner Konstruktion der synthetischen Urteile apriori zu lösen versucht hat).
Die Mathematik gehört zu den Konstituentien des Begriffs des Wissens, das sprachhistorisch als vergangenes und erinnertes Sehen sich definiert, damit auf die Genesis der subjektiven Formen der Anschauung zurückweist. Der mathematische Beweis ist ein Beweis, bei dem die der Mathematik eigene Form der Objektivität den im Rechtsstreit erforderlichen Zeugen ersetzt. Die subjektive Form der Anschauung ist gleichsam die innere Repräsentanz des Andern (der Intersubjektivität) im Subjekt, eine Form des verinnerlichten und automatisierten Zeugenbeweises. Die Mathematik konstruiert im Kopf der Einsamen eine Objektivität, in der die dialogische Differenz zwischen mir und dem Andern aufgehoben scheint. Die Mathematik entspringt in der Logik der Schrift, die der Sprache die monologische Struktur und mit ihr die Logik des Beweises (des anschaulichen Präsentierens und des Begründens eines Sachverhalts) überhaupt erst eingeprägt hat. Die Mathematik bedarf des Rekurses auf den Andern nicht mehr, weil dieser Andere bereits ins eigene Denken integriert worden ist (Ursprung des Weltbegriffs). Die Objektivität des Angeschauten ist nicht mehr nur eine Objektivität für mich, sondern für alle; zumindest erhebt die Anschauung diesen Anspruch. In der Mathematik steckt die Reflexion auf die Andern, von der zugleich abstrahiert wird, mit drin. Und diese Beziehung von gegenständlicher Reflexion und Abstraktion von ihrer Genesis, reproduziert sich insbesondere in der Raumvorstellung selbst in der (orthogonalen) Beziehung der Dimensionen des Raums. Jede Dimension des Raumes ist als das Andere der anderen Dimensionen, mit denen sie doch auch identisch ist, zugleich das Andere ihrer selbst. Deshalb verschwinden in der reinen Form des Raumes die Unterschiede seiner Richtungen: Vorn und hinten, rechts und links, oben und unten lassen in der neutralisierten Form des Raumes nicht mehr sich unterscheiden.
Die Beziehung von Zeuge und Märtyrer (der besondere Wert des Blutzeugen) rückt den Raum in eine besondere Beziehung zum Opfer: Die Geschichte der Verinnerlichung des Opfers ist die Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der Raumvorstellung. Die säkularisierende Wirkung der subjektiven Formen der Anschauung gründet in dieser Beziehung zum Opfer (die es im übrigen verständlich macht, daß und aus welchem Grunde die Geschichte der christlichen Theologie, aus deren Reflexion die Ursprungsbegriffe der modernen Naturwissenschaften hervorgegangen sind, zu den Voraussetzungen der modernen Aufklärung gehört).
Die Redundanz der Logik des mathematischen Beweises ist der Grund der kantischen Lehre von den synthetischen Urteilen apriori und der Beweiskritik, die in den Antinomien der reinen Vernunft (in der großartigen Darstellung der Grenzen des Beweises) sich reflektiert. Die Redundanz der mathematischen Logik gründet in der Neutralisierung der Asymmetrie der Beziehung zwischen mir und dem Andern; die Antinomien rücken diese Asymmetrie ins Licht, und zwar durch den Nachweis, daß in den mathematischen Grenzbegriffen vom Adressaten des Beweises nicht mehr sich abstrahieren läßt: Hier zerbricht die Objektivität der mathematischen Erkenntnis, und dieser Bruch rückt das Problem der Genesis dieser Erkenntnis ins Licht. Der transzendentallogische, antiontologische Charakter der kantischen Philosophie gründet in den Antinomien der reinen Vernunft.
Im juristischen Beweisverfahren gibt es zu den subjektiven Formen der Anschauung ein Äquivalent: in dem Problem der Glaubwürdigkeit des Zeugen, des „falschen Zeugen“, das das Recht auf seine Ergänzung durch die „Billigkeit“ verweist, auf die Beweiswürdigung durch den Richter. Jeder Versuch, ins Recht die „zwingende“ Logik der Mathematik einzuführen, das Beweisverfahren redundant zu machen, führt in die Paranoia hinein.
Vgl. das Zeugenproblem im NT: Neben den „falschen Zeugen“ gehört hierher die Bezeugung des Sohnes durch den Vater, die Zeugenschaft der Apostel (Zeugen der Auferstehung) und das Blutzeugnis, das Martyrium (nicht das Opfer, das vielmehr ein Mittel ist, die Redundanz des mathematischen Beweises auch in der Theologie zu begründen, damit aber zwangsläufig in die logischen und erkenntnistheoretischen Probleme des Dogmas und in die herrschaftsgeschichtlichen Probleme der Orthodoxie hineinführt).
Erinnerungsarbeit scheint nicht möglich zu sein, ohne daß sie die Erinnerungsfähigkeit anderer in Frage stellt.
Welchen Stellenwert und welche Funktion hat die Erinnerung in der kantischen Vernunftkritik, in der transzendentalen Logik? Auch die Erinnerung ist eine Form der Zeugenschaft (und die Mathematik eine Form der Instrumentalisierung der Erinnerung, ihrer Verschiebung ins Gegenständliche). Die Erinnerung ist dem Problem der Glaubwürdigkeit ebenso unterworfen wie der Zeuge vor Gericht. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das leere Grab der Theologie.
Die Raumvorstellung ist ein Endprodukt der Logik der Schrift (eine Form der „Erfüllung der Schrift“).
Stellen nicht die drei idealistischen Systeme nach Kant die Geschichte der drei Leugnungen gleichsam in Kurzfassung vor Augen:
– Fichte – die Leugnung des Fremden;
– Schelling – seine Barbarisierung und Mythisierung und
– Hegel die Hybris und die Selbstverfluchung?
Gehört nicht zur descensio ad inferos das Vertrauen, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden?
Der Satz „Was braucht es noch Zeugen?“ läßt sich als der Kern der philosophischen Hybris begreifen (aber auch als Kern der Beweisführung in raf-Prozessen).
Der Kronzeuge ist der durch Straferlaß bestochene Zeuge. – Der Kronzeuge ist das Realsymbol der subjektiven Formen der Anschauung (was hat der Kronzeuge mit dem Stephanus und der paulinischen Wendung des Christentums zu tun; ist nicht der Titel Erzmärtyrer das theologische Äquivalent des Kronzeugen? Stephanus jedoch sah den Himmel offen).
Philosophischer Zoo: Erinnert nicht die ganze Diskussion der nichteuklidischen Geometrien, insbeondere der nur noch projektiv zu verstehende Satz vom Gauss über Kant und Hegel, an das irre Wandern des Tigers im Käfig. Die Geometrie ist die Käfighaltung des Geistes.
Sind die Fälschungen des Mittelalters nicht Dokumente der Wirkung des Rechtfertigungszwangs in einer undurchschaubaren herrschaftsgeschichtlichen Situation? Von diesem Rechtfertigungszwang hat sich der gesamte Erkenntnisprozeß seitdem nicht mehr lösen können. Und die Frage der Existenz Karls des Großen hat einen mit der Frage nach der Ursache der Tode in Stammheim vergleichbaren Rang.
Ist es nicht auch ein Stück negativer Erinnerungsarbeit, wenn in einen raf-Prozeß Urteile und Urteilsbegründungen aus vorangegangenen Prozessen eingeführt werden, um einen Sachverhalt als „gerichtsbekannt“ der Beweisdiskussion (und damit der Gefahr, durch die Verteidigung widerlegt zu werden) zu entziehen?
Synthetisches Urteil apriori: Gibt es nicht bereits Prozesse, in denen man, um den fehlenden Schuldnachweis zu ersetzen, nicht einmal mehr auf „falsche Zeugen“ angewiesen ist?
Verwischte Spuren: Durch Schaffung von Tatsachen, die dann andern angelastet werden, wird der Erinnerung der Weg verlegt. Ist nicht die Raumvorstellung das Resultat des kollektiven Spurenverwischens (das „reine Anschauen“), und verlegt nicht die Orthogonalität (indem sie die Zukunft ins Vergangene projiziert) der Erinnerung den Weg („Ick bün all do“, sagt der Igel, während der Hase sich zu Tode läuft)?
18.4.1995
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