Wie man, ohne zu erröten, den Satz niederschreiben kann (Z. 801) „Kein Charisma enthebt der Pflicht, die Hirten der Kirche zu ehren und ihnen zu gehorchen“ ist mir ein Rätsel. Hierzu wäre nur an Mt 1623 („Weiche von mir, Satan“) zu erinnern, aber auch an das Wort „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“ und an die Geschichte von den drei Leugnungen.
Ist nicht die Sprache des Katechismus eine Herrensprache, aber eine, die ihre Autoren selber nicht mehr verstehen, und von der sie auch nicht erwarten, daß andere sie verstehen (sie wünschen es nicht einmal); sie hoffen nur, daß sie auf die Leser Eindruck macht.
Durch den Begriff des „Prophetenamts“ wird die Prophetie zu einer Sache der Hierarchie und Verwaltung, die, wenn sie eine Beziehung dazu hätte, höchstens als Objekt der Prophetie sich begreifen ließe.
„Oder ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet?“ (Mt 79f) Aber die Kirche gibt ihren Gläubigen diesen Katechismus!
Wenn die Kirche der Leib Christi ist, dann der Sprachleib, der sich mit der Fähigkeit der Schuldreflexion bildet. Die Kirche lebt allein aus der Kraft der benennenden Sprache, die sie verschleudert hat.
Der Akt der Selbstverfluchung ist einer, in dem nicht die Kirche auf sich selbst sich bezieht (das wäre ein Akt, der die Welt nichts angeht), sondern in der Beziehung von Kirche und Welt sich konstituiert: er ist das Produkt der Verstrickung und der Identifikation der Kirche mit der Welt. Die Kirche ist in der Tat das sprachliche Herz der Welt, aber das versteinerte. Es geht nicht um die Rettung der Kirche, sondern um die der Welt. Abgestiegen zur Unterwelt, aber die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.
Ist nicht das Dogma der Kelch, von dem Er gewünscht und erhofft hatte, er möge an ihm vorübergehen?
Liegt die Differenz zwischen dem Kelch des Herrn und dem der Dämonen in dem Moment der Reflexion? Der Kelch des Herrn ist der Wein, der zu Blut wird: die Prophetie; er wird zum Kelch der Dämonen durch die Verblendung: durch das fehlende Bewußtsein, daß es der Zornes- und Taumelkelch ist: der Kelch der Dämonen ist die Philosophie (die nur durch das Bewußtsein ihrer selbst zur Prophetie wird).
Der Weltbegriff ist durch seine Bindung an die Mathematik ein dezisionistischer Begriff (Konsequenzen für die Erkenntnis der Genesis des Nationalismus und der modernen Astronomie).
Der bestimmte Artikel zerstört die benennende Kraft der Sprache. Er verwandelt jeden Namen in einen Begriff, nachweisbar an der Redewendung „Wir Deutschen“, die korrekt „Wir Deutsche“ lauten müßte, in der gebräuchlichen Fassung aber Ausdruck der Selbstobjektivierung ist, in seiner vollständigen Fassung „Wir, die Deutschen“ heißen müßte und eigentlich der genaueste Ausdruck des pathologischen Selbstverständnisses ist, das in der deutschen Variante der Schicksalsidee und des Volksbegriff sich manifestiert.
Ist nicht der bestimmte Artikel Ausdruck einer Form der Beziehung zur Objektivität, die als Vorläufer (und Statthalter) des Fernsehens in der Sprache sich begreifen läßt? Wird die Sprache nicht durch die dem bestimmten Artikel zugrundeliegende Sprachlogik in eine Beziehung zur Objektivität gerückt, die den Naturwissenschaften und deren Vulgarisationsformen, insbesondere dem Fernsehen, entspricht? Das heißt: Die Existenz des Fernsehens ist auch ein sprachlicher Sachverhalt: die Leugnung der Wurzel.
Daß die Nomina im Deutschen großgeschrieben werden, hängt mit der Funktion und dem Stellenwert des bestimmten Artikels in der deutschen Sprache zusammen.
Bemerkenswert die Beziehung der bestimmten Artikel zu den Personalpronomina: Dem „der, die, das“ liegen offensichtlich die Personalpronomina 3. Pers. sing.: „er, sie, es“ zugrunde. Zugleich sind die bestimmten Artikel im Deutschen die Ausdrucksträger der Deklination, mit charakteristischen Varianten in den genera:
– Basis ist offensichtlich der allein vollständig durchdeklinierten männliche Artikel (der, des, dem, den),
– von dem der Artikel des Neutrums abgeleitet ist (mit der Identität von Nominativ und Akkusativ),
– während im Femininum neben der Identität von Nominativ und Akkusativ zusätzlich die fehlende Unterscheidung von Genitiv und Dativ auffällt, für die dann auch noch der männliche Artikel des Nominativ (der) eintritt.
Der durchdeklinierte feminine Artikel ist zugleich der für alle geltende Artikel des Plural (ähnlich übrigens wie das Personalpronomen der 3. Pers. plur. identisch ist mit dem der 3. Per. sing. fem.). Gibt es zu der darin sich ausdrückenden Sprachlogik eine Entsprechung in anderen Sprachen?
Ist nicht das Heideggersche Dasein eine Emanation des bestimmten Artikels (und dieser das letzte stumme Helden-Denkmal der Weltgeschichte der Sprachverwirrung: des Zerfalls der benennenden Kraft der Sprache)?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des bestimmten Artikels im Deutschen und der Form der Anrede von erwachsenen Personen durch die 3. Pers. plur. („Sie“)? Sind Großschreibung und Plural Majestatis nicht Stationen in der Geschichte der Herrschaft und des Weltbegriffs?
Sind Talar und Ornat Feigenblatt oder Tierfell (oder der Strauch, hinter dem Adam sich versteckte)? Aber auf jedenfall etwas, hinter dem die Person sich verbergen kann, mit dem sie ihre Blöße bedeckt.
Heute besteht die Gefahr, daß die Natur siegt, daß die Vergangenheit die Zukunft verschlingt. Dagegen steht nur das Wort: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.
Der Katechismus ist ein entsetzlicher Ausdruck der Desensibilisierung, der Unfähigkeit, Erfahrungen zu machen: Dieser Autismus ist ein Produkt des Rechtfertigungszwanges, in den die Kirche mit der Rezeption des Weltbegriffs sich verstrickt hat.
Johannes Eriugena hat einmal anhand der Geschichte vom Feigenblatt nach dem Sündenfall auf den unterschiedlichen Gebrauch der Schrift hingewiesen: den produktiven, fruchtbringenden im Kontext der Suche nach Gerechtigkeit, der Gottesfurcht und des Gottsuchens, und den, der die Schrift als Feigenblatt mißbraucht, um die eigene Blöße damit zu bedecken: den vom Rechtfertigungszwang determinierten Gebrauch. Ist etwa die Kirche der Feigenbaum, der keine Frucht mehr bringt (Mt 2119ff)?
Sind nicht die Röcke aus Tierfell, die Gott den ersten Menschen nach dem Sündenfall gab, sowohl ein Mittel zur Bedeckung der Scham als auch Ausdruck der Scham: das Substrat der Herrschaftsgeschichte? Gehört in diesen Zusammenhang auch die Geschichte vom Rock, der ohne Naht war (Joh 1923f), und über den die Soldaten das Los geworfen haben.
Die Geschichte der Beziehung von Öffentlichkeit und Privatsphäre ist ein Teil der Geschichte der Scham. Die Fixierung der Medien aufs Aufdecken der Blöße hängt zusammen mit dem Satz: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Geht es nicht bei der Verlosung des Rockes um diese Nacktheit (und ihren Zusammenhang mit dem Tod)? Frage: Würden es die Kirche und würden es die Gläubigen ertragen, wenn der Gekreuzigte ohne Lendenschurz dargestellt würde? Hängt nicht das Knechts-und Sklavensymbol der Tradition auch mit dieser Aufdeckung der Blöße zusammen? Ist der Kreuzestod nicht u.a. auch die Antwort auf das Aufdecken der Blöße des andern: die Fähigkeit, mit dem Aufdecken der eigenen Blöße rational umzugehen, die letzte Konsequenz aus der Übernahme der Sünden der Welt. Liegt hier nicht der einzige befreiende Gebrauch des Bekenntnisbegriffs: daß der Schuldzusammenhang zerrissen wird durch das Bekenntnis „ich war’s“.
Dadurch, daß ich ohne mein eigenes Zutun in den Schuldzusammenhang der Welt, in die ich hineingeboren werde, deren Tradition, deren Sprache und Institutionen ich durch meine Existenz mittrage, verstrickt werde, bin ich Mittäter der Sünde Adams. Das ist die Begründung der Notwendigkeit von Erinnerungsarbeit. Ich kann mich klein machen und die Last der Vergangenheit auf die Erben abwälzen; so haben’s alle getan. Aber bin ich damit entschuldigt?
Zur Verstrickung der Kirche in den historischen Prozeß und zu den drei Leugnungen: „Amen, Amen, das sage ich dir: Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde. Nach diesen Worten sagte er zu ihm: Folge mir nach!“ (Joh 2118f)
Die Sexualmoral ist die Unzucht, die sie vorgibt zu verurteilen.
Zum Katechismus: Hier erkennt die Kirche den Balken im eigenen nur noch als Splitter im Auge des andern (kasuistische Moral).
Das Feigenblatt und das Hinter dem Rücken als Instrumente eines Schuldverschubsystems.
Der Gedanke, daß das kreisende Flammenschwert, mit dem der Kerub den Eingang des Paradieses bewacht, das Planetensystem ist, wäre zu ergänzen: Ist der Eingang des Pardieses nicht aus der Sicht der aus dem Paradies Vertriebenen die Pforte der Hölle, in der wir mit der Kirche sind?
Zu Velikovsky und Heinsohn: Ist die Venuskatastrophe vielleicht ein Stück vergangener Zukunft?
Erinnerungsarbeit: Theologie als Balanceakt ohne Netz.
Ist nicht die Form der äußeren Anschauung vor dem Hintergrund der Rosenzweigschen Konstruktion des Angesichts einäugig (das andere Auge ist – wie beim Blick durchs Fernrohr oder über die Zielvorrichtung einer Waffe – durch die Form der „inneren Anschauung“ geschlossen)? Das Anschauen ist das regungslose, empfindungslose, vergegenständlichende und vedinglichende Anschauen; aber es gibt einen anderen, teilnehmenden Blick. Der Raum ist in der Tat als Form der äußeren Anschauung einseitig, während das Licht das Gesehenwerden (und das Bewußtsein, gesehen zu werden) mit einschließt. Das wechselseitige fixierende Anschauen weist auf Stoßmechanik und Konkurrenzverhältnisse zurück.
Sind nicht der Golfkrieg und danach die Bosnienkatastrophe ein Beweis der Nichtfunktionalität und damit der Überflüssigkeit der militärischen Rüstung? Wenn Generale den Politikern klarmachen, daß der militärische Apparat, den sie beherrschen, für ein Eingreifen in diesen Konflikt nicht geeignet sei, so ist das eine Bankrotterklärung, die wahrscheinlich den Sachverhalt genau widergibt, aus der man aber auch dann die Konsequenzen ziehen sollte. Ist nicht diese Militärmaschine nur noch einsetzbar, wenn man die Auslöschung der Menschheit und das Ende der Geschichte in Kauf nimmt?
Erfahren die Kinder heute die Erwachsenenwelt als eine gegen sie verschworene Gemeinschaft, die die Gewalt hat, auch in ihrer Gegenwart unreflektiert und unsensibel über sie zu reden, aber nicht mehr die Kraft, ihre Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen und nachzuvollziehen. Hat die Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt nicht Ähnlichkeit mit der, die das Inertialsystem von der sinnlich erfahrenen Natur trennt?
Dieser Katechismus ist eine Gebrauchsanweisung für Religionsmanager und -techniker, aber ohne jede Erinnerung an das, was einmal lebendiger Glaube hieß. Er ist nur noch eine Verführung zum Herrendenken, zu der die Kirche heute zu werden droht.
Die Bekehrung steht im Banne der Herrschaft, aus dem allein die Umkehr herausführt.
In Eph 39 (Einheitsübersetzung) wird aionos mit Ewigkeit übersetzt (sonst mit Welt!).
19.05.93
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