Heißt alles verstehen wirklich alles verzeihen? Käme es nicht darauf an, auch das, was nicht verziehen werden kann, noch zu verstehen? Erst diese Maxime macht der Gemeinheit ein Ende.
Was nicht vergeben werden kann, ist in der Schrift präzise bezeichnet: Die Sünde wider den Heiligen Geist.
Faschistisch wird der Satz „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ in der Selbstanwendung; er ist einer der Gründe für des pathologische gute Gewissen: Insbesondere alte Nazis haben unendlich viel Verständnis für sich selbst. Hängt hiermit nicht die Beziehung der Fundamentalontologie zum pathologisch guten Gewissen, die in die Fundamentalontologie eingebaute Exkulpationsautomatik, hiermit zusammen?
Die Empörung verurteilt und blendet zugleich jedes Verständnis für das, worüber ich mich empöre, aus: Die Empörung gehört zu den Konstituentien des Objektbegriffs, durch den hindurch ihre Logik sich reproduziert. Wird hier nicht die Beziehung des Objektbegriffs zur Opfertheologie, aus der er hervorgegangen ist, erkennbar?
Die Entsühnung der Welt entsühnt zu viel und zu früh (die wirklich entsühnte Welt wäre die zukünftige Welt).
Der Kreuzestod war beides: Die Kritik und der Verstärker des Weltbegriffs.
Der Empörte „weiß nicht, was er tut“; er gehört zu denen, die Jesus gekreuzigt haben.
Jonas im Bauch des Fisches: Man kann die Philosophie und die Herrschaftsstrukturen, die in ihnen sich widerspiegeln, nicht in dem Sinne „widerlegen“, als wären sie damit entkräftet und ohne Bedeutung; man steckt mitten drin und kann allein durch Reflexion darüber sich selbst Rechenschaft geben, ihrem Bann sich entziehen. Deshalb hilft das Verurteilen nicht, im Gegenteil: es weckt und nährt die magischen Kräfte, die den Urteilenden in den Bann seines Objekts ziehen.
Sartres Satz: Die Hölle, das sind die Anderen, bedarf nur einer einer kleinen Wendung, um ihn der Wahrheit zuzuführen: Die Hölle, das sind wir für die Anderen.
Wider das eindeutige Wort „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ hat das Christentum die Verurteilungsautomatik als Exkulpationsautomatik mißverstanden und mißbraucht. Der Begriff der „Entsühnung der Welt“ bezeichnet genau diesen Punkt des Mißbrauchs.
Es gibt nicht zwei, sondern drei Bekenntnisbegriffe: Das Schuldbekenntnis (vor dem Opfer der Tat und vor Gott), das Glaubensbekenntnis (vor der Gemeinde), aber auch das Bekenntnis der Solidarität mit dem Opfer vor dem Verfolger (Cohens Bekenntnis: Ich bin Jude).
Gibt es nicht einen Zusammenhang von „Saul unter den Propheten“ mit Paulus als „Hebräer unter Hebräern“? Zitiert nicht das Neue Testament in den Namen fortwährend das Alte, dessen Elemente es in neue Konstellationen rückt? Diese „Verrückung“ ist vorgezeichnet durch den Ursprung und die logische Gewalt des Weltbegriffs.
Das telos der Beweislogik ist die Verurteilung (der Bestand des Objekts).
Beim Namen werde ich gerufen, unter den Begriff werde ich subsumiert (unterm Begriff erscheint meine „Natur“). Der Name ist das Element der Auferstehung, der Begriff ist der Kern und der Ursprung der Bekenntnislogik, des Konfessionalismus (er konstituiert die stumme Gemeinde).
68 ist 4 x 17, 69 ist 3 x 23, 72 ist 2 x 36.
– 17 ist die Grundzahl der Anzahl Fische, die die Jünger gefangen hatten,
– 23 ist die Grundzahl der Zahl der beim Schiffbruch vor Malta Geretteten, und
– 36 ist die Grundzahl der Zahl des Tieres, die die Zahl des Namens eines Menschen ist.
Kann es sein, daß der Satz vom Binden und Lösen auf die Beziehung des Innen-Außen-Paradigmas zum Im Angesicht-Hinter dem Rücken-Paradigma sich bezieht (Beziehung der Kirche zu Israel und zu den Heiden)?
Ihr seid das Licht der Welt: Ich meine, es ist zu wenig, wenn wir nur im Binnenraum der Gemeinde das Licht anzünden. Das Licht wird erst dann zum Licht, wenn es die Welt hell macht (wenn wir an die Stelle der Bekehrung die Umkehr setzen).
Drückt nicht in der merkwürdigen Wahrnehmung, daß „moderne“ Kirchen die Innnenwand wie eine Außenwand behandeln (durch Verwendung von unverputzten Ziegel oder Grobputz), ein entscheidender „kirchenhistorischer“ Sachverhalt sich aus: die Hereinnahme der Außenwelt in den Innenraum der Kirche. Machen wir nicht die Außenwelt zur Innenwelt; ziehen wir die Differenz zwischen Außen und Innen damit nicht ein, ohne daraus die Konsequenzen zu ziehen? (Für die Nachkriegsgeneration gibt es keine Kirche mehr.)
Theologie im Angesicht Gottes, das wäre eine Theologie, die das Gebet als „Methode“ begreift (und damit erstmals das Gebet begreift).
Urhäresie: Hat nicht die Gnosis zu einem heute noch offenen Problem nur die falsche Lösung präsentiert? Dann aber wäre daran zu erinnern, daß die Verurteilung der falschen Lösung, auch wenn sie wahr ist, noch nicht die wirkliche Lösung garantiert.
19.4.96
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