19.9.1995

Das gesellschaftliche Korrelat des Objektbegriffs ist das Feindbild. Deshalb ist die Kritik der Verdinglichung (die Kritik der transzendentalen Ästhetik) die genaueste Konsequenz aus dem Gebot der Feindesliebe. Der Indikativ aber ist die Objektsprache, er steht unter dem Bann der transzendentalen Ästhetik.
Opfertheologie, Verdinglichung und Verdrängung: Die Opfertheologie instrumentalisiert das Leiden, sie entbindet von der Pflicht zu helfen, indem sie dem Leiden einen Sinn gibt, sie begründet den Glauben (an die magische Kraft des Opfers und an eine jenseitige Vergeltung) und immunisiert die Gläubigen gegen die Wahrnehmung des Leidens der anderen, sie verstopft die Ohren gegen den Schrei der Opfer. Die Empfindung, deren Gegenstand das eigene Leiden ist, wird von der Sensibilität für das Leiden anderer getrennt; die Spur dieser Empfindung ist das Ich, die Subjektivität, das Bewußtsein: die Person. Empfindung und Sensibilität werden zulasten der verdrängten Sensibilität durch den hier entspringenden Weltbegriff (als Bewußtsein und Unbewußtes, Ich und Es) getrennt. Die Opfertheologie ist das Instrument des strengen Gerichts, für sie gilt der Satz: Nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit.
Die doppelte Bedeutung des Wortes Gericht beruht nicht bloß auf einer Äquivokation, die getrennten Bedeutungen verweisen vielmehr auf einen gemeinsamen, mit dem Ursprung des Weltbegriffs zusammenhängenden Ursprung (Zusammenhang mit Sein, Sinn, Zeugung).
Frohe Botschaft und Gute Nachricht: Botschaft und Nachricht unterscheiden sich wie Gebot und Gericht. Zum Gebot gehört der Bote (der Engel), die Nachricht bezieht sich auf den Empfänger wie das richtende Urteil auf den Angeklagten. Sind heute nicht alle Zuschauer, die tagtäglich dem Schauprozeß beiwohnen, in dem sie Angeklagte sind und gerichtet werden, nur daß sie’s nicht merken? Die „Gute Nachricht“ ist die milde Lüge, die sie über das wahre Urteil (das synthetische Urteil apriori, das, indem es über andere gefällt wird, über den Richtenden selber ergeht) hinwegtäuscht (Beitrag zur Genesis und Logik des Erbaulichen).
Die subjektiven Formen der Anschauung sind die synthetischen Urteile apriori, die, indem sie über andere gefällt werden, über die Urteilenden selber ergehen. Deshalb sind sie die apriorischen Objekte der Antinomien der reinen Vernunft: Verkörperungen der Grenzen der Beweislogik. Die subjektiven Formen der Anschauung begründen und neutralisieren die Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie