Heute ist jeder in den Apparat, in die Maschinerie, eingespannt, die zugleich seine Erfahrung und seinen Begriff von der Welt bestimmt. Und zwar in einer Weise bestimmt, daß der Eindruck immer mehr sich verstärkt, das Beste entziehe sich dem Blick, rücke immer mehr in den blinden Fleck. Religion, die heute immer mehr genutzt wird, um das Eingespanntsein (das „In-der-Welt-Sein“) erträglich zu machen, kann auch – wenn man sie nur einen Moment ernst, beim Wort nimmt – der verzweifelte Versuch sein, den Punkt zu bestimmen, von dem aus sich das Ganze wenden läßt; ja es könnte sein, daß sie als die einzige Möglichkeit, überhaupt noch den Gedanken einer Änderung ernsthaft und ohne trübe Vermischung mit Ungelöstem ins Auge zu fassen, sich erweist.
Juni 1988
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10.06.88
Die Subsumtion der Arbeit unter das Tauschprinzip begründet nicht allein den Kapitalismus, sondern mit ihm den Schuldzusammenhang als abgeschlossenes System, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Projektion dieses Schuldzusammenhangs in eine vor aller Erfahrung gegebene und allem Handeln zugrundeliegende Objektivität (Natur) ist die moderne Naturwissenschaft.
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12.06.88
Es gibt zwei Arten des Atheismus: Die eine geht davon aus, daß Religion ihrem eigenen moralischen Anspruch nicht genügt (wer kann nach Auschwitz noch an einen barmherzigen und gerechten Gott glauben?); die andere wehrt mit der Religion den moralischen Anspruch, den sie vertritt, ab, denunziert ihn als Heuchelei: Dieser moralische Anspruch, so die Prämisse, hat in einer Welt, die von anderen Gesetzen beherrscht wird, keine Grundlage mehr.
Aber beide vergessen, daß mit der Religion nicht nur der einzige Moralbegriff, der ernst zu nehmen ist, sondern auch der allein darin gründende Glücksanspruch, das Glücksversprechen, aus der Welt verschwindet.
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14.06.88
Folter und paranoide Systeme gehören zusammen; der Gebrauch von Folter ist bereits der Beweis für die zugrundeliegende paranoide Verfassung des Bewußtseins ihrer Anwender. Umgekehrt: Aussagen, die durch Folter (und dazu gehört auch die Isolationshaft) erzwungen werden, bestätigen immer nur die paranoiden Vorstellungen und Erwartungen der Folterer und ihrer Vorgesetzten (es scheint übrigens Folter immer nur im Kontext hierarchisch organisierter Gruppen/Instanzen zu geben: Ein nicht zu vermeidender Konstruktionsfehler? Zusammenhang von Verwaltung und Paranoia?.
Das gilt sowohl politisch wie in der Wissenschaft: für jegliche Art von Inquisition wie fürs Experiment (Arbeitshypothese: Physik als paranoides System; Zusammenhang von Inquisition, Ketzer-/Hexenverfolgung und Ursprung der modernen Naturwissenschaften).
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16.06.88
Das Bürgertum – als Subjekt des Rechts – ist der Ursprung der Utopie, der Idee einer Gesellschaft, die – ihrer selbst mächtig – der Unterdrückung eigentlich nicht mehr bedarf. Die Funktion der Strafe sollte es sein, den Irrenden auf den rechten Weg zurück zu führen; ihre reale Funktion jedoch war die Abschreckung: sie war Strafe für andere, und der einsitzende Delinquent nur zufälliges Opfer wie das Tier im Experiment. Eigentlich jedoch – und das verweist auf das Moment des Scheins im Ursprung der Utopie – war die Strafe (die der Intention nach immer nur den anderen treffen durfte, mit dem niemand sich zu identifizieren wagte) reine Demonstration der Macht, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der von Macht geprägten Gesellschaft, eine Grenze, die mitten durchs Subjekt verläuft (und hier Ich und Es, Bewußtsein und Unbewußtes trennt). Oberhalb dieser Grenze ist die eine, wahre und eigentliche Welt, der der anständige Mensch angehört; unterhalb liegt das Verdächtige, Verrufene, die Schuld. Strafe ist das Instrument der Internalisierung des Terrors, sie wirkt zugleich auf eine infame Art desorientierend: Strafe wirkt nur von oben nach unten; die Vorstellung, das Verhältnis ließe sich umkehren, die Oberen könnten zur Rechenschaft gezogen werden, ist der Grund für das Mißlingen jeder Revolution bis heute (Austausch des Personals, nicht Änderung der Verhältnisse). Die wirkliche Revolution wäre die Abschaffung der Strafe (und des richtenden Rechts).
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20.06.88
Zur Theorie des Namens: Gesetze werden „im Namen des Volkes“ erlassen, Urteile „im Namen des Volkes“ gefällt. Gesetze wie Urteile, das Wesen des Richtens überhaupt, sind per definitionem nur von oben nach unten anwendbar, d.h. gegen das Volk gerichtet. Der Name des Volkes hat demnach hier im präzisesten Sinne double-bind-Funktion, er soll dem Volk das schlechte Gewissen machen; er treibt das Volk in die Arme seiner Feinde, die seinen Namen nur usurpieren. M.a.W. der „Name des Volkes“ ist Ausdruck der kollektiven Selbstfeindschaft, deshalb faschistisch.
Nachtrag 02.02.89: Volk läßt sich bestimmen als Schicksalsgemeinschaft. D.h. Volk ist als Objekt des Schicksals durch den Schuldzusammenhang des Schicksals definiert. Völker gibt es erst, seit des Könige gibt, beide gehören dem mythischen Zeitalter an. Die Königstradition im Christentum (die sich im Gegensatz zur Reichstradition, die am Caesar sich orientiert, auf David, den Stammvater des Messias, beruft) bezeichnet demnach genau die Wiederkehr des Mythos, den Bereich, auf den sich die Idee der Umkehr, die Christentum und Judentum konstituiert und verbindet, bezieht.
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