Juli 1988

  • 03.07.88

    Es gibt keine ursprüngliche Vergangenheit: jede Vergangenheit muß einmal gegenwärtiges, lebendiges (bewußtes/bewußtseinsfähiges?) Dasein gewesen sein. Dieser Zusammenhang läßt sich jedoch ohne einen Anfang der Zeit, ohne eine „erste Vergangenheit“, nicht denken. Hier handelt es sich nicht um einen Anfang „in“ der Zeit, sondern um einen Anfang „der“ Zeit, d.h. um einen Anfang, vor dem es kein Vorher gibt. Die „unendliche Vergangenheit“ ist es nur für uns; unklar, was ihr entspricht, es kann sich eigentlich nur um etwas völlig Abstraktes handeln, um eine reine Projektion (etwas, was mit der Zeit entsteht, entspringt, geschaffen wird?).

  • 06.07.88

    Wenn die Vergangenheit nicht ursprünglich sein kann, so kann auch die Welt, soweit sie nur als vergangene begriffen werden kann, als tote gegenständliche raum-zeitliche Welt, nicht ursprünglich sein; ihr muß etwas vorausgehen, was dann in der Zeitfolge durchaus als das Spätere erscheinen mag: das Lebendige.

  • 10.07.88

    Der christliche Höllenglaube ist nicht nur Produkt der Auseinandersetzung mit dem Mythos, sondern zugleich Grund der Wiederkehr des Mythos im Christentum. Und zwar vor allem als Grund und Rechtfertigung des Rechts, der Strafe, eigentlich des theologischen Kompromisses, das notwendig war zur Begründung und Rechtfertigung des Staates.

    Je mehr ich mich mit dem Deutschen Herbst und seinen Folgen befasse, umso entsetzter und fassungsloser; Verdrängung der Realität, Durchsetzung von Gesinnungen und Fakten durch Rechtsmittel, gefährliche Entwicklung, Verdrängung des Gewissens, der Humanität (des „inneren Schweinehundes“). Zusammenhang der Isolationshaft von Irmgard Möller mit den ungeklärten Toden in Stammheim; Interesse der Justiz sowohl an den Toden als auch an der Verweigerung der Aufklärung setzt sich fort in der Aufbauschung der gesamten alternativen Szene zum Terrorismus; wieviel Isolationshäftlinge gibt es eigentlich inzwischen? was ist an dem Hinweis von Klaus Jünschke, wonach die verantwortlichen Stellen wissen, daß aufgrund von Aussagen im Vorgriff auf die Kronzeugenregelung Urteile gefällt (und Menschen verurteilt) wurden, obwohl diese Aussagen nachweislich falsch sind? Herr Bode, den Herr Jünschke direkt angesprochen hat, hat nicht widersprochen (in einer Talkshow vor kurzem).

    Verdacht, daß eine parlamentarische Aufklärung – wie in der Parteispenden-Affaire – nicht zu erwarten ist, weil alle beteiligt sind (SPD/FDP als damals verantwortliche Regierung; CDU ohnehin).

    Vorfall Startbahn:

    . Staatsanwaltliche Ermittlung ohne Ergebnis: nicht herauszubekommen, wer die Festnahme überhaupt vorgenommen hat;

    . Schreiben an einen Landtagsabgeordneten landet bei der Polizei.

    Weitere Erfahrungen:

    . Frage nach dem Namen eines Polizeibeamten: „Ich heiße Anders, heute heißen hier alle Anders (anders)“,

    . Frage nach der Dienstnummer: „4711“.

    Zu den sieben Werken der Barmherzigkeit vgl. Matth. 25, V. 34-40.

  • 12.07.88

    Zum Begriff des Volkes: die differentia specifica der Volksgemeinschaft war (ist) die Komplizenschaft, ihr präzisester Ausdruck die Denunziation dessen, der sich nicht einordnete. Vgl. auch „Volkslied“, „Volkspartei“, „Im Namen des Volkes“. Das Volk (als Gattung) ist eigentlich die Wiederkehr eines Verdrängten: des Stammes, der die Menschen einmal, vor der Geschichte ihrer Individuation, unter sich subsumierte; Inbegriff des Schuldzusammenhangs (des Mythos), der insbesondere in der Institution des Rechts überlebt.

  • 16.07.88

    Die Nazizeit hat bei den Beteiligten (und den Nachfahren) Rechtfertigungszwänge für Tatbestände, die nach den Kriterien persönlicher Schuld kaum noch sich dingfest machen lassen, ausgelöst, die dann in den neuen Schuldzusammenhang (der „zweiten Schuld“) erst hineingeführt haben; insbesondere die Hypostasierung des Rechts (vor dem diese Schuld sich nicht fassen läßt) hängt hiermit aufs folgenträchtigste zusammen. Wenn der Satz „Ideologie ist Rechtfertigung“ stimmt (wie übrigens auch die theologische Umkehrung „Rechtfertigung ist Ideologie“), dann ist ein Zustand erreicht, der droht, reine Ideologie zu werden. Vor dem Recht sind offensichtlich die Beamten (Richter, öffentliche Verwaltung, Polizei), ohne die die Verbrechen nicht möglich gewesen wären, unschuldig, während die, die es wirklich sind, an der Last des Entsetzlichen zerbrechen. Hier läßt sich mit Händen greifen, was Benjamins Hinweise auf den Zusammenhang von Recht, Schicksal und Mythos in der Realität bedeuten. (Luthers Rechtfertigunglehre war die notwendige Folge seiner verzweifelten Anerkennung der „rechtmäßigen Obrigkeit“: das Tor für den Einbruch des Mythos ins Christentum hat Paulus eröffnet; Zusammenhang der Rechtfertigungslehre mit der paulinischen Rechtfertigung der Herrschaft und dem Ausschluß der Frauen! – Gibt es eigentlich ein matriarchalisches Recht? Ist das Recht gleichursprünglich mit dem Patriarchat? Hat es irgendwann einmal Richterinnen gegeben? Sind Recht, Patriarchat und Mythos gleichursprünglich?)

    Barock als Ideologie-Generator: Die Reformation hat die Kirche unter Rechtfertigungszwang gestellt, die Gegenreformation hat das Gesetz der Rechtfertigung rein durchgesetzt.

  • 17.07.88

    Das einzige Mittel gegen Rechtfertigungszwänge ist das Einbekennen der Schuld. Das aber treibt der „Rechtsstaat“ erbarmungslos aus.

  • 22.07.88

    Individuelle (justiziable) und „kollektive“ (ethische/theologische) Schuld stehen in einer fatalen Wechselbeziehung (die den Zusammenhang von Recht und Mythos begründet): Das Bestehen auf individueller Schuld und die Freisprechung aller, deren Schuld juristisch nicht faßbar ist, begründet, verstärkt und vollendet den Schuldzusammenhang, der nur noch messianisch aufzulösen ist.

    Grund ist die Beziehung des Rechts zum Eigentum: dieses Verhältnis macht alle Nichteigentümer apriori schuldig, während es die Besitzenden tendentiell freispricht. Genau dieser Kitt hält die Gesellschaft zusammen. Arbeit befreit von Schuld, ist insofern Begründung des Selbstbewußtseins, Mittel der Selbstbildung des Menschen; dieser Zusammenhang läßt sich erst auflösen, wenn es gelingt, den Schein- und Verblendungszusammenhang des Rechts aufzulösen (insbesondere die Funktion der Strafe). Der materielle Schuldbegriff ist nicht unabhängig vom ethisch-theologischen; dieser ist durch „Umkehr“ aus dem ersten abzuleiten (Parteinahme für die Armen).

  • 23.07.88

    Unterscheidung der juristischen von der ethischen Person; „Ich“ sagen kann nur diese, während jene – ähnlich dem „transzendentalen Subjekt“, das mit ihm den gemeinsamen Ursprung hat – ausschließlich als Produkt von Vergesellschaftung (Intersubjektivität) sich begreifen läßt. Vor allem jedoch unterscheiden sich beide durch ihr Verhältnis zur Schuld: Die ethische Person ist in Schuld verstrickt, aus der sie sich nur befreien kann, soweit sie diese Verstrickung sich eingesteht, sich der Schuld bewußt wird; die juristische Person wird in dem Maße, in dem sie Schuld vermeidet, der Schuld sich entzieht, zum Ursprung des Schuldzusammenhangs (wie das einzelne Objekt im Raum zum Ursprung eines Inertialsystems: sie wird somit zum Ursprung des Materialismus, auf den sie so wütend reagiert, weil sie in ihm sich erkannt, durchschaut fühlt) und damit absolut schuldig. Das Problem des Christentums und seiner Geschichte scheint daraus herzurühren, daß es diese beiden getrennten Personbegriffe nicht nur nicht unterscheidet, sondern daß sie versucht hat, sie in eins zu setzen (Konsequenzen für die Trinitätslehre?). Aber kann die juristische Person selig werden? Oder gibt es im Bereich des Rechts überhaupt einen Ausblick auf das, was mit der Idee des seligen Lebens einmal gemeint war? – Das Schlimme ist, daß man es den Leuten ansehen kann, daß sie ans selige Leben nicht mehr glauben, daß aber niemand es mehr sieht.

  • 24.07.88

    Marx‘ Feststellung, daß die Gesellschaft nur vor Aufgaben gestellt wird, die sie auch zu lösen vermag, hat auch eine sehr fatale Bedeutung: Der Kampf der Kolonisierten gegen den Kolonialismus setzte (mit Aussicht auf Erfolg) genau dann ein, als die Kolonialherren sich in die Lage versetzt sahen, die Abhängigkeit mit anderen, wirksameren Mitteln aufrechtzuerhalten: anstatt mit der direkten Gewalt von Militär und Polizei mit der indirekten des Kapitals (der Schuldenabhängigkeit). Einer ähnlichen Auslegung ist die „Sklavenbefreiung“ z.B. in den USA fähig (vorausgegangen ist in den Anfängen des Kapitalismus, in der Phase der „ursprünglichen Akkumulation“, die „Bauernbefreiung“). Die „Befreiung“ war jedesmal die Freisetzung von „Proletariat“ (Menschen, die außer ihrer Arbeitskraft kein Eigentum haben, insbesondere keine Produktionsmittel besitzen).

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