Juli 1989

  • 29.07.89

    Die „deutsche Frage“, die grundsätzlich „offen“ ist, ist nach dem Modell der „Seinsfrage“ konstruiert, an deren Verständnis nach Heidegger der Rang eines „Denkens“ sich bemißt. Der mythische Klang, den der Begriff der „Frage“ hier annimmt, ist fundamentalontologisch und appelliert wie die Fundamentalontologie an die Ich-Schwäche, die sich nicht mehr zutraut, konkrete Fragen zu stellen, weil diese das Einverständnis mit der Macht untergraben.

  • 27.07.89

    Das Objekt ist das Bild des Objekts, und die Welt ist das Bild der Welt (Weltbild, Weltanschauung). Zusammenhang von Mathematik, Zeit (futurum perfectum), Abbildbarkeit, Theorie, Bild, Show, Film, Entfremdung, Verdinglichung, Objektivation: Reproduzierbarkeit, Verdoppelung. Die Mathematik ist das Urbild und die Systemgrundlage der Abbildbarkeit (Verdoppelung), oder genauer: Mathematik und Abbildbarkeit haben den gleichen Systemgrund, der jede Wissenschaft bis hin zur Theologie verhext (als Wissenschaft verstößt die Theologie gegen das Bilderverbot; als Doppelgängerin der wahren Theologie ist sie dieser zum Verwechseln ähnlich, jedenfalls nicht logisch, sondern nur durch Benennung, durchs Beim-Namen-Nennen von ihr zu unterscheiden – verstößt nicht schon die grammatische Form des futurum perfectum, der zukünftigen Vergangenheit gegens Bilderverbot?).

    Die Welt ist kein Objekt-, sondern ein Strukturbegriff; sie ist der Grund der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt, damit der Inbegriff einer unendlichen Zahl von Welten (Leibniz‘ Idee einer besten aller möglichen Welten ist eine contradictio in adjecto); sie ist das Gegenteil des Plural majestatis (gleichsam der Singular multitudinis instrumentarum: der Inbegriff aller Mittel, nach der gleichen Logik konstruiert wie „der Deutsche“). Das Weltbild oder die Weltanschauung ist die dezisionistische Entscheidung für ein Exemplar aus einer grundsätzlich nicht reduzierbaren Menge.

    Sind Gott und Mensch auch Struktur- und keine Objektbegriffe? (Nein, oder doch?)

  • 26.07.89

    Tauschprinzip und Trägheitsgesetz polarisieren ihre Objekte nach Herrschaftsgesetzen; die „anorganische Materie“ (träge Masse) ist das Modell für Herrschaftsobjekte in der Gesellschaft (Objektivation, Verdinglichung, Verwandlung in bloße Mittel); diese Herrschaftsstrukturen ergreifen auch das „Leben“, das keineswegs davon ausgenommen, geschweige denn etwas „Höheres“ ist; auch hier – durch Subsumtion der Zwecke unter die Mittel (der Arbeit unters Tauschprinzip) – die generelle Verdinglichung; der „organische“ Charakter kapitalistischer Systeme sollte vor der Hypostasierung des Organischen warnen.

    Die „Welt“ ist die Sünde wider den Heiligen Geist (vgl. den Weltbegriff bei Johannes, auch in der christlichen Mönchsbewegung).

    Nicht: Wer sich geliebt weiß, liebt, sondern umgekehrt: Wer liebt, weiß sich geliebt. – Kann es sein, daß in jedem das Bedürfnis, geliebt zu werden, nur die Oberfläche, die Außenseite des tieferen Bedürfnisses zu lieben ist, das heute alle sich versagen müssen; nur wer liebt, wer Gebrauch von diesem außerordentlichen Privileg machen kann, erreicht jenen Punkt, an dem das Bedürfnis, geliebt zu werden, sich auflöst, verschwindet. Aber wer liebt: Kann er dem Anblick dessen, was er sieht, noch standhalten? Verzehrt (verbrennt) die Liebe nicht den Liebenden? (Beziehung zum Symbol des brennenden Dornbuschs?) Sind das unermeßliche Unglück und Leid, die Last der Verantwortung und Schuld, der er sich nicht entziehen kann, ohne die Liebe zu verraten, überhaupt zu ertragen? Eine Welt, in der es Gefängnisse, Obdachlose, Huren gibt, macht es der Liebe nicht leicht. Und eine Welt, in der es Auschwitz gibt, macht Liebe unmöglich. Wer diese Welt für richtig befindet, kann das nur zusammen mit dem Bedürfnis, geliebt zu werden (Grund des Selbstmitleids).

    Glücklich ist man nicht für sich, sondern nur mit anderen (zwei Begriffe des Allgemeinen: der eine, substantielle, leitet sich aus der Idee des Glücks her, der andere aus dem grundsätzlich uneinlösbaren Anspruch des Begriffs – der Macht).

  • 23.07.89

    „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“:

    – Himmel und Erde = Zukunft und Vergangenheit? Himmel (Zukunft) zuerst?

    Mit dem Licht (durchs Wort) wurde die Gegenwart erschaffen (Gegenwart für wen? Ist nicht im Licht schon das Leben, das Subjekt mit enthalten? Ist das Licht nicht die Bedingung der Möglichkeit des Lebens, des Subjekts?).

    Gott hat nicht die Welt erschaffen: die Welt ist kein Objektbegriff, sondern ein Strukturbegriff; sie bezeichnet den Inbegriff aller Objekte des Urteils („die Welt ist alles, was der Fall ist“, und Urteile werden gefällt), das Resultat des Prozesses der Vergegenständlichung (Verweltlichung bezeichnet die Bahn des Sündenfalls).

    Theorie (Anschauung) ruht auf dem Grund der verdrängten (sich ohnmächtig verstockenden) Klage und ist Ausdruck dieser Klage. (Zusammenhang von Klage und Anklage, Klage als objektlose Anklage.)

    „Welt“ und „Volk“ sind partikulare Totalitätsbegriffe: Anwendungen eines Konstrukts, das erst in unserem Jahrhundert offen zutage getreten ist (ein Vorbegriff war der Nationalitätsbegriff der französischen Revolution). Begriffe, die vorgeben, das Ganze (ein „All“) zu repräsentieren, die jedoch nur Partikularitäten repräsentieren.

  • 21.07.89

    „Abgestiegen zur Hölle“: Diese Welt, nach dem Weltuntergang, ist die Hölle; und die Metropole ihr Zentrum. Das ist in der Apokalypse so präzise beschrieben, daß kein Zweifel möglich ist. Eine Theologie, die diesem Zustand standhält, müßte sich als Theologie in der Hölle begreifen (Heideggers „In-der-Welt-Sein“ ist der verzweifelt affirmative Ausdruck davon, und die offizielle Kirchengeschichte die authentische Beschreibung des Weges zu diesem Ziel); der Weltkrieg war der Zusammenbruch, der Einsturz einer Welt, die unwiederbringlich dahin ist: Die Theologie wird es erst wieder, wenn sie das begreift:

    – insbesondere ihre eigene Geschichte als Geschichte der Komplizenschaft mit dieser Welt, deren Einsturz wir ausgelöst (und mitgemacht) haben,

    – und den „Abstieg zur Hölle“ als ihre einzige Möglichkeit (als die heute einzig verbliebene Form der Nachfolge).

    Die Befreiungstheologie kann nicht unreflektiert in die Metropole übertragen werden (problematisch ist auch der Versuch der Übertragung des Konzepts der Basisgemeinde: sie müßte hier – übrigens nicht zufällig trinitarisch? – als Knastgemeinde, als Pennergemeinde, als Hurengemeinde sich konstituieren). Es gibt ernsthafte und begründete Zweifel daran, ob diese Welt bekehrbar ist. Trotzdem ist Zynismus die falsche Konsequenz. Die einzige Chance liegt darin, daß im Herrschaftszentrum deren selbstzerstörerisches Wesen (ihre blasphemisch-theologische Ideologie) sich begreift.

  • 18.07.89

    Zum Verständnis der transzendentalen Logik und Ästhetik: Die Formen der Anschauung und die Urteile apriori sind nicht „unsere“, sondern ihr Subjekt ist die (subjektlose) Welt (es gibt eine Objektivität des Wissens, die ohne Subjekt, ohne eine Begleitung durch das „Ich denke“ denkbar ist, Sedimente vergangenen Denkens); nicht wir, sondern die Welt (oder genauer: die Welt als „transzendentales“ d.h. vergangenes, abgestorbenes Subjekt, als Subjekt außer uns) urteilt in (durch) uns (und damit auch über uns). Das ist der Ursprung der Idee des Weltgerichts, ihr fundamentum in re. In jedem richtenden Urteil richten nicht wir, sondern durch uns (und über uns) die Welt, werden wir zu Objekten des gleichen richtenden Urteils. D.h. wer richtet, wird gerichtet. Hier wäre wichtig, endlich den Zusammenhang der transzendentalen Logik mit der transzendentalen Ästhetik zu begreifen, das Verhältnis der Kategorien zu Raum und Zeit, insbesondere zur Zeit (Projektion der Zukunft ins Vergangene, futurum perfectum, als Ursprung der Form der räumlichen Anschauung, ihrer Dreidimensionalität?, d.h.: keine Zukunft ohne innere Grenze des Raumes, ohne den Sprung über den eigenen Schatten: ohne das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit).

    Der Begriff des Weltkriegs ist ein Pleonasmus, so wie der der heilen Welt eine contradictio in adjecto: der Inbegriff der Welt ist der Krieg, ihre Logik (die Urteilslogik) die Freund-Feind-Logik; somit unterwirft sich das Freund-Feind-Denken der Logik der Welt, es ist die Verweltlichung, die Säkularisation schlechthin, es versinkt ins „In-der-Welt-Sein“, es ist die Abdankung des Subjekts (das „Man“, das „Gerede“, die „Eigentlichkeit“, die ununterscheidbar ebenso die „Uneigentlichkeit“ ist).

  • 16.07.89

    Gott-Suchen:

    – erstes Gebot: Richtet nicht …;

    – erster Grundsatz: bist Du sicher, daß Du, wenn Du Dich in Deinen Feind (in seine Herkunft, seine Entwicklung, in seine konkrete Situation) hineindenkst, anders handeln würdest (gehandelt hättest)?

    Diese herzzerreißende Spannung zwischen dem sachlichen und dem moralischen Sinn von Verstehen (Verstehen heißt nicht Verzeihen) schärft den Sinn für jenen Bereich, in dem theologische Erkenntnis allein möglich ist. (Herzzerreißend ist diese Spannung nur innerhalb des autoritären Systems.) Erst wenn die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf dieses Niveau gehoben ist, ist Theologie wieder möglich.

  • 15.07.89

    Ist Habermas‘ Kampf gegen die Postmoderne vielleicht doch ein Kampf gegen eine von ihm unterdrückte und verdrängte Tradition in der Frankfurter Schule, und deshalb so überzogen und verbissen (vgl. Hauke Brunkhorsts Bemerkung zur DdA und Habermas‘ Beitrag in der Beilage der FR vom 15. Juli 1989 zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution; vgl. zu letzterem z.B. Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ und Horkheimers „Egoismus und Freiheitsbewegung“)?

    In der Sonntagsbeilage „Zeit und Bild“ zur gleichen Ausgabe der FR weist Rudolf Burger („Vermessungen, Essays zur Destruktion der Geschichte“, Wien 1989) auf die „Diskursethik“ hin: „als Neuauflage des Transzendentalismus ahistorisch bis in die Knochen und Auflösung des realen Widerspruchs im verbalen, die Apologie des Geredes, des Geredes überhaupt, ohne Rücksicht darauf, was geredet wird, m.a.W. die Apologie der Phrase ’sans phrase’“.

    Welt: Umwelt, Verweltlichung, Weltgericht, Weltuntergang, Weltkrieg, In-der-Welt-Sein, Musikwelt, Innenwelt, Außenwelt, Dritte Welt, Weltbild, Weltanschauung …

    Die beste aller Welten – für wen?

  • 14.07.89

    Mathematik und Sprache: Das Verhältnis der Mathematik zur Sprache drückt sich nicht in der „Grammatik (Logik) der Mathematik“, sondern allein im Übergang im Objekt (als Übergang von der Mathematik zur Sprache): in der Schöpfungslehre aus. Hier (und nur hier) läßt sich der erkenntnistheoretische Sinn des theologischen (nicht bloß moralischen) Begriffs der Umkehr demonstrieren. Der Weltbegriff und der naturwissenschaftliche Objektbegriff stehen außerhalb (nämlich diesseits) des theologischen Erkenntnisbereichs, nur durch ihre Kritik hindurch läßt sich der theologische Erkenntnisbereich rekonstruieren. (Chemie = domestizierte Alchimie; der Elektromagnetismus – die Instrumentalisierung von Licht und Feuer – hat den qualitativen Naturbegriff zum Verschwinden gebracht, die spezielle Relativitätstheorie mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit den Grund der Möglichkeit der Instrumentalisierung/Domestizierung der Natur benannt; die genaue Analyse der Planckschen Strahlungsformel, die gleichsam das Feuer dingfest macht, müßte das konkretisieren. Atomphysik/-technik = Spiel mit dem Feuer.)

    Hängen die Schöpfungstage mit dem Planetensystem zusammen (die Benennung der Wochentage scheint darauf hinzudeuten)? Gibt es in der Kabbalah oder in der frühchristlichen Engellehre Hinweise auf solche Zusammenhänge?

  • 12.07.89

    Die Weltkriege heißen nicht nur deshalb so, weil „die ganze Welt“ in sie verwickelt war, sondern auch, weil die Welt (dieser logische Sprengbegriff) Subjekt-Objekt dieser Kriege war: Sie waren in der Tat (aber anders, als man es sich gemeinhin vorstellt) Vorboten des Weltuntergangs – des Untergangs der „Welt“ als Institution.

    Preisfrage: Kann die Welt erlöst werden? Ist Erlösung nicht in der Tat Erlösung (der Welt) von der Welt, Rettung (der Welt) durch Untergang (Vernichtung) der Welt?

  • 08.07.89

    Das Licht repräsentiert die Gnade in der Natur; die herabsteigende Bewegung (S. Weil), die nicht dem Gesetz der Schwerkraft gehorcht. Das „Es werde Licht“ ist die Prophetie der Gnade. Die Schöpfungstage sind Stufenfolgen von Schwerkraft und Gnade (Nacht und Tag).

    „Die Einbildungskraft ist unablässig bemüht, alle Ritzen zu verstopfen, durch welche die Gnade eindringen könnte“ (S. Weil, S. 28): Das ist eine der wichtigsten Funktionen des Geredes, des Gerüchts, andringende Wahrheiten so zu interpretieren, daß sie nicht mehr gefährlich werden können (Sprachregelungen). Wenn Gerüchte bis zur Unbelehrbarkeit fortschreiten, so ist das nur ein Hinweis darauf, wie nahe die Wahrheit bereits ist. Es gibt einen vom Es arrangierten strategischen Gebrauch des Gerüchts (erkennbar als Wiederholungszwang).

    Das Ende des Faschismus (die „Gnade der späten Geburt“) erschwert die Auseinandersetzung mit ihm, erleichtert sie nicht: Das Urteil über die Vergangenheit (die „Empörung“, die der Erinnerung den Weg verstellt) ist nämlich selber eine der Quellen des Faschismus.

  • 07.07.89

    Das Bild des „entwurzelten“ Intellektuellen ist die projektive Umkehrung des eigenen (verdrängten) Selbstverständnisses: der Entwurzelung des eigenen Denkens aus dem Boden der Humanität. – Das 3-dimensionale Geld (Begründung des Kapitalismus durch das Institut der Lohnarbeit) und das Schuld- und Macht-begründende Recht (zu J. Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, S. 68). Die Lohnarbeit hat der theologischen Vergeltungslehre (der individuellen Eschatologie) den Boden entzogen (oder umgekehrt: die Lehre von der individuellen Eschatologie, von der Unsterblichkeit der Seele, die darin begründet ist, hat dem Kapitalismus vorgearbeitet). – Die Lohnarbeit als Ware und die Identität von schwerer und träger Masse, oder der kapitalistische Materiebegriff (die Nacht, in der alle Katzen grau sind, oder die Schattenwelt der Physik; kann wirklich niemand über diesen Schatten springen?).

    Der 7. Tag ist der Tag der – nach geglückter Umkehr – vollendeten Naturerkenntnis.

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