Juli 1989

  • 02.07.89

    Die Frage nach dem „Sinn“ ist die Frage nach der Begründung, dem Zweck; sie kommt immer zu spät, post festum, oder anders: „Sinn“ ist immer Sinn für andere. Die berühmte Sinnfrage ist eine im bösesten Sinne müßige Frage; ihr eigener Sinn ist die Entlastung (von Verantwortung, von Schuld): sie suspendiert den Handlungszusammenhang (und ersetzt ihn durch den Schicksalszusammenhang), sie stabilisiert die „theoretische“, die kontemplative, die zuschauende Haltung; sie produziert das fatale pathologisch gute Gewissen.

    Die Idee der Ewigkeit enthält eine besondere Beziehung zur Zukunft (sie schließt die Vergangenheit von sich aus: was vergehen kann, kann nicht ewig sein). Näher heran führt die Vorstellung des mystischen Nu: einer Gegenwart, die die Totalität in sich begreift (Blochs Idee des sich selbst begreifenden Augenblicks, der Aufhebung des Dunkels des gelebten Augenblicks). Der Augenblick, der nur im Zusammenhang einer restlos durchsichtig gewordenen Geschichte sich selbst begreift. Die Vorstellung einer Allgegenwart Gottes könnte genau das meinen: nicht seine Gegenwart „an jedem Punkt des Raumes“, sondern die reine Gegenwart des Ganzen im mystischen Nu. – Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung: d.h. Gegenwart ohne Verdrängung, eine Gegenwart, in der die ganze Vergangenheit präsent und durchsichtig ist. Hegels Idee des Absoluten kommt dem nahe (verfehlt es nur um ein Geringes, das jedoch das Ganze ist: das zu erinnernde Vergangene ist nicht die Herrschaftsgeschichte). – Hinweis zum Verständnis/zur Kritik der Trinitätslehre?

  • 01.07.89

    Das „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“ ist es – seit dem Erscheinen der Reflexionen Ulrich Sonnemanns – nicht nur geblieben; das pathologische Syndrom war und ist offensichtlich noch steigerungsfähig. Die Gewöhnung an den Zustand enthielt immer schon Elemente des Einverständnisses, wenn auch zunächst mit schlechtem Gewissen und dem entsprechenden Zwang zur Verdrängung. Heute scheint dieses Einverständnis wieder offen auftreten zu wollen; verdrängt wird nicht mehr der Inhalt des schlechten Gewissens, sondern seine Qualität: man hat kein schlechtes Gewissen mehr, sondern umgekehrt das Gefühl, endlich wieder sich zu der Gemeinheit bekennen zu dürfen. Die Verdrängungsleistung selbst nimmt eine neue Qualität an, sie ist gründlicher und differenzierter zugleich. Es breitet sich ein Zynismus aus, der wieder auf dem Sprung zur Tat ist, sie eines bösen Tages wieder für gerechtfertigt, notwendig, zuletzt einfach für natürlich hält. Es ist, als sei alles, was an Aufklärungs- und Aufarbeitungsleistung inzwischen erbracht worden ist, nichts als der flatus vocis, als den der Nominalismus seit je begriffliche Arbeit denunziert hat. Das Buch über die „furchtbaren Juristen“ von Ingo Müller raubt nicht den Nachtschlaf; die Verhältnisse, die es darstellt, sind zum Kotzen.

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