August 1989

  • 09.08.89

    Die Welt (Korrelat des Realitätsprinzips) ist durch die besondere Beziehung von Allgemeinem und Besonderem, die sie repräsentiert, bezogen auf das Selbsterhaltungsprinzip (objektiv: das Tauschprinzip); dieses ist der Kristallisationskern, an den die Begriffe und Anschauungen, die die Welt konstituieren, anschließen. Zugleich damit wird jedoch alles, was nicht in das System paßt, was durchs Sieb fällt, ausgeschlossen, insbesondere Güte, Mitleid, Empathie. Die Welt repräsentiert eine Gestalt der Realitätswahrnehmung und -erkenntnis, genauer: ein Begriffssystem, das die Wahrnehmung im vorhinein strukturiert und bestimmt, das insbesondere Anklage und Gericht kurzschließt und jede Verteidigung als „Rechtfertigung“ ideologisiert. Die Welt ist der Inbegriff aller Objekte des Herrendenkens. Insoweit ist die Welt die Sünde wider den Heiligen Geist, und der Vulgärbegriff der Ideologie der Kern der zugrunde liegenden Abwehrreaktion.

    Die Welt als ein System des Zerfalls von Sprache durch Logik ist Grund und Medium der Subjektivität, gesellschaftlich des Nationalismus (als kollektive Gestalt von Subjektivität). Es ist kein Zufall, daß Deutschgesinnte in der Regel Probleme mit der deutschen Sprache haben.

    v. Rad: Wie kann man noch 1957(!) eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne auch nur mit einem Wort Auschwitz und den Holocaust (die Shoah) zu erwähnen? – Kann man den „sinnlich-übersinnlichen“ Gehalt, der nicht nur unmittelbar auf die Liebe, sondern ebenso auf ihre Derivate zu beziehen ist (Beispiel: Dornen, Dornbusch, Dornenkrone), so einfach als „vagen Symbolismus“ abtun (und dagegen auf dem historischen Realgehalt bestehen, dem dann jedoch nur noch eine Theologie abzugewinnen ist, die nicht mehr harmlos ist). Kann man eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne die jüdische Tradition (die Kabbala) zu kennen? Hier kann man mit Händen greifen, welchen verhängnisvollen Einfluß eine unaufgeklärte naturwissenschaftliche Aufklärung auf die historische Aufklärung hat. (Zusammenhang der großen protestantischen Tradition der Bibelkritik mit der Rechtfertigungslehre?)

    Das Christentum ist keine Siegesreligion: Es sollte skeptisch machen, daß die Dogmengeschichte auch eine Geschichte der jeweils Siegenden ist, mit der Zusammenfassung der Siege im Triumphalismus Roms. Sicher waren die Unterlegenen nicht jedesmal die Besseren; aber ist die Vorstellung so abwegig, daß mit der Abtrennung der Häresien jedesmal auch ein Teil der (zu früh und deshalb unreif hervorgetretenen) Wahrheit abgetrennt, ausgeschieden und verdrängt wurde? Eine unter diesem Aspekt geschriebene Geschichte der Häresien wäre zweifellos einer der wichtigsten Beiträge zur Selbstverständigung der Theologie (vgl. z.B. Elaine Pagels Darstellung der Gnosis oder auch Thomas‘ und Mussners Beiträge zu einer christlichen Theologie des Judentums, die freilich zu revidieren wären anhand Radford Ruethers „Brudermord und Nächstenliebe“ und der weitergehenden Konsequenzen daraus).

  • 06.08.89

    Auschwitz ist Anlaß, den theologischen Stellenwert des Martyriums (und der Opfertheologie) zu überprüfen. Falsch ist die Vorstellung, daß das Leiden schon für sich Erlösungsgrund ist (Gott ist kein Kannibale); das so erzeugte masochistische Religionsverständnis (diese Form der Leidensmystik) hat

    – die Religion zu einem Herrschaftsmittel instrumentalisiert und

    – (durch die vom Masochismus nicht zu trennende sadistische Komponente) die Bahn frei gemacht für die Schreckensgeschichte, die das Christentum für andere dann geworden ist.

    Das Selbstmitleid, das der „Aufmerksamkeit“, der Wahrnehmung, was man selbst draußen anrichtet, den Boden entzieht, hat hier seinen Ursprung. Insofern ist Heideggers Fundamentalontologie christlichen Ursprungs. (Vgl. hierzu Elaine Pagels: Versuchung durch Erkenntnis, Kap. IV.)

    Das Glaubensbekenntnis enthält weder die Lehre Jesu, (die Bergpredigt: Nächsten-/Feindesliebe), noch gehorcht es ihren Grundsätzen („Richtet nicht, …“), sie ist bereits Produkt der Neutralisierung und Instrumentalisierung, die (wie jedes Bekenntnis) die Wahrheit zur Unkenntlichkeit entstellt und so für die Heuchelei brauchbar macht. Diese Tradition hat sich neben der anderen, befreienden (und mit ihr verbunden) in der Geschichte der christlichen Religion und Theologie erhalten.

    Innen und Außen: „Glücklich ist, wer seiner selbst ohne Schrecken inne wird“ (W. Benjamin). Wer kann seiner selbst ohne Schrecken inne werden, wenn Menschen im Knast sitzen, als „Penner“ nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen, als Huren sich prostituieren müssen, um zu überleben; wenn in der Dritten Welt Kinder verhungern, weil wir im Wohlstand leben; wenn die Erinnerung an Auschwitz (wie nach alter religiöser Vorstellung Gott) allgegenwärtig ist (übrigens mit besonderer Eindringlichkeit in den Dingen, die einmal konzipiert waren als Verdrängungshilfe: dem Erscheinungsbild des deutschen „Wiederaufbaus“: unserer Städte).

    Gott suchen im eigenen Selbst: das ist wahr nur, wenn man weiß, daß das Selbst die Beziehung zum Zustand der Welt mit einschließt: wenn der Verdrängungsberg abgetragen ist (der Glaube diesen Berg versetzt hat).

  • 06.08.88

    Heute leben die meisten in ihren Wohnungen so, als seien sie nur bei sich selbst zu Gast. In den Wohnungen wird nicht mehr gelebt, es herrscht nur noch Ordnung; und diese Ordnung ist nicht die der Bewohner. Das entspricht der Entrechtung, die das Eigentums- und insbesondere das Mietrecht denen, die darunter fallen (über die es „gefällt“ wird), antut; es verweist auf die Struktur und Bedeutung des Rechts überhaupt, das eigentlich nur noch Eigentums- und Machtpositionen begründet und zementiert, zugleich aber selber nur funktioniert aufgrund und mit Hilfe des Gewaltmonopols des Staates; und wieviel Gewalt nötig ist, um den Zustand aufrechtzuerhalten, ist an dem Gewaltpotential zu ermessen, das zumindest die „hochentwickelten“ Staaten heute (nach innen wie nach außen) real brauchen. Zu den Baumaterialien der Wohnungen heute gehört – neben den altbekannten wie Holz und Steine – auch das Atomwaffenpotential der die Welt beherrschenden Mächte. Wenn es keine ästhetisch überzeugende Architektur mehr gibt, dann nicht zuletzt deshalb.

    Wenn heute die Einrichtung einer Wohnung nicht mehr von Dauer ist, ein periodischer Wechsel, eine Neugestaltung unabweisbar zu sein scheint, so ist das ein Hinweis darauf, daß es ein Wohnen eigentlich nicht mehr gibt (Zusammenhang mit der Heideggerschen „Seinsvergessenheit“).

    Der Begriff des Rechts ist zweideutig. „Menschenrechte“ gehören einem anderen Kontext an als z.B. der Begriff des „Rechtsstaats“, der nicht zufällig im allgemeinen ein Instrumentarium zur Einschränkung und Aufhebung von Grundrechten bezeichnet. Der Rechtsstaat meint die Rechte des Staates (und ist insofern mythisch); in letzter Konsequenz duldet er keine besonderen Menschenrechte neben sich.

    Das private Dasein ist zu einem Appendix der Maschinerie geworden, von der es nicht nur materiell abhängig ist, die es vielmehr in seiner Struktur bestimmt (Sonnemann: Zusammenhang von Traum und Betrieb oder proletarischer Komfort).

  • 04.08.89

    Der Feminismus bleibt solange ambivalent, wie die (grundsätzlich und unaufhebbar patriarchalische) „Welt“ besteht; die tiefste Gefahr des Feminismus ist, sich mit der Welt (dem ersten Produkt, der ersten Schöpfung des Patriarchats; der Gott der Philosophen ist nicht Schöpfer, aber Erzeuger der Welt: Zusammenhang mit der Logos-Spekulation? – Anfang des Joh.-Evangelium) gemein zu machen: so wird sie zu einem möglicherweise entscheidenden Teil der Selbstzerstörung des Patriarchats (die mit der Welt mitgesetzt ist).

    Der gegenwärtige Generationenkonflikt ist unaufhebbar: die Welt, die die junge Generation vorfindet, ist die von der älteren Generation (den Vätern) geschaffene (erzeugte?); sie wird zugleich immer starrer, härter, feindlicher; diese Welt ist das notwendige Medium und die Ursache des Generationenkonflikts. Die Auflösungsängste der älteren Generation (die Ängste vor dem Zerfall der Welt) sind die Überlebensängste der jungen Generation (die Ängste angesichts der Starrheit, Unveränderbarkeit der Welt). Beide Ängste sind korrelativ, aber fast nicht kommunizierbar. Jede Welt ist ein Ghetto.

    „Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen.“ Der Satz stimmt physikalisch (er bezeichnet den Erfahrungsgrund für das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit); er stimmt jedoch nicht in seiner moralischen Anwendung: Jede Versöhnung ist ein Sprung über den Schatten, den die eigene Schuld auf eine Beziehung zwischen Menschen wirft; und diese Schuld ist das moralische Äquivalent der physikalischen Äquivalenz von Masse und Energie (E = m.c2).

    Der Abgrund, der die Welten trennt, erscheint in der verhexten Welt als ihr innerster Zusammenhalt: der ganze Inhalt der Physik. Durch ihr immanentes Prinzip, die Instrumentalisierung unterwirft sich die Welt heterogenen Zwecken und wird dadurch multivalent.

  • 02.08.89

    Welt: mundus, mundan, kosmos, tout le monde, the whole world. Himmel ist das Korrelat zur Erde, nicht zur Welt; der Himmel wäre vielmehr ein Teil der Welt. Korrelate zur Welt sind Mensch und Gott, wobei der Mensch – anders als Gott – zugleich Teil der Welt ist (nicht identisch mit „In-der-Welt-Sein“). Die ganze Welt kann über einen reden, was die ganze Erde nicht kann (der „orbis terrarum“ ist nicht identisch mit der Welt, vielleicht ein Vorbegriff). Die Welt ist das Man, das Gerede, die Neugier (die Welt ist zwar nicht männlich, sie ist aber ein patriarchalischer Begriff).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie