November 1989

  • 29.11.89

    Die Welt ist Produkt der gleichen Abstraktion, der historisch auch die Philosophie sich verdankt. Das R’sche „von Jonien bis Jena“ bezeichnet als die Geschichte des Alls zugleich die der Welt, deren Begriff (und Realität) ebenso vergänglich ist wie die der Philosophie.

    Thales „die Welt ist voller Götter“ dokumentiert die erste Folge der Einheit der Welt: die Vielheit der Götter, die im Christentum dann auf die Trinität reduziert wird, darin jedoch fortlebt. Dagegen bezeichnet der jüdische Monotheismus die offene Wunde der Welt, über die der Mythos hinwegtäuscht, die er verdrängt.

  • 28.11.88

    National gesinnt oder wohl gesonnen?

  • 26.11.89

    Der nachchristliche Zynismus ist eine Folge des christlichen Selbstmitleids (Leidensmystik).

    Wir produzieren heute das Chaos, aus dem die Welt zu erschaffen wäre. – Das zusammendenken mit: Nach dem Weltuntergang ist Rettung nur noch über das „Abgestiegen zur Hölle“ (die heute einzig angemessene Form der Nachfolge) möglich.

  • 22.11.89

    Jürgen Habermas‘ „Nachmetaphysisches Denken“ zieht seine Verständlichkeit aus einer nachlässigen Redewendung (wie übrigens bereits 70 Jahre zuvor Peter Wust, der dann in Habermas‘ Index als Peter Wurst erscheint, ähnlich Hermann Krings als Hermann Krungs). Dieser eher aggressive als polemische Metaphysik-Begriff, in dem Marx und Heidegger sich gegenseitig denunzieren und zugleich in der Sache sich treffen, ist zwar nicht beliebig verwendbar, er zieht jedoch seine Kraft aus einem vorphilosophischen Impuls, aus einer begrifflichen Unschärfe, die ein geschärftes Ohr aus dem Beiklang der Empörung unzweideutig heraushören kann. Hier (im „nachmetaphysischen Denken“) könnte Habermas‘ eigene postmoderne Position liegen, die ihn dann so allergisch gegen die offene Postmoderne macht, die das Geheimnis ausplaudert (so reagiert einer, der sich ertappt fühlt). <genauer: Analyse des Metaphysik-Begriffs, Einheit von „naivem Realismus“, der nie Metaphysik war, und weltanschaulichem Religionsverständnis, das auch nie Metaphysik war. Hilflose Dogmen-Kritik.>

    Nähe und Differenz von Ideologie und Wahrheit: Ideologie ist (Selbst-) Rechtfertigung; wird verwechselt mit Verteidigung (des anderen, des angeklagten Objekts); „no pity for the poor“ ist die Gefahr des antiideologischen Denkens; die Differenz liegt im Verhältnis zur Schuld. (Das Verhältnis zur Schuld deckt den Grund der Reflexionsbegriffe auf und macht sie kritisierbar. Hier wird der Rosenzweig-Benjaminsche Gebrauch des Begriffs des Mythos bestimmbar; der Heideggerschen Fundamentalontologie wird der Boden entzogen, oder genauer: sie erweist sich hier als bodenlos.)

  • 19.11.89

    Nach dem Weltuntergang: In Deutschland kann man die Menschen bereits physiognomisch danach unterscheiden, ob sie die Erfahrung des Weltuntergangs verdrängt haben oder nicht. Das allgemeine „pathologisch gute Gewissen“ und seine Derivate und Folgen sind der genaueste Ausdruck dieser Verdrängung, der „zweiten Schuld“. Heideggers „In-der-Welt-Sein“ ist einer der Gründe für diesen Zwang zur Verdrängung: Mit der Welt wäre dann nämlich auch das Dasein erinnerungslos untergegangen. Die Verleugnung des Judenmords bei Heidegger folgt genau hieraus. Dem Schwarzen Loch Auschwitz entspricht das Schwarze Loch der Physiognomien jener, die aus dem letzten Krieg nichts mehr lernen können: Diese Gesichter strahlen nichts mehr aus, sie saugen die letzten Lebenskräfte aus einer Welt, die nur noch verwest.

    Der übermächtige Zwang zur Rechtfertigung, der auch Kritik noch instrumentalisiert, in seinen Dienst stellt, ist eine Funktion des verwesenden Weltbegriffs, des Zustands der Welt nach ihrem Untergang. Das transzendentale Subjekt ist nicht mehr zu halten. Der ökologische Konkretismus heute ist das zugleich hilflose und projektive Bewußtsein davon.

    Die falsche Symbolik des „Volkstrauertags“: Die Trauer um die Toten darf die Unterschiede nicht neutralisieren, darf das große Wort von der Versöhnung nicht, ohne es selbst zu schänden, unterschiedslos auf alle Toten (auf Opfer und Täter) anwenden. Die fünf Kreuze im Hintergrund machen – abgesehen von der sonst nicht mehr nachvollziehbaren christlichen Symbolik – wohl nur Sinn, wenn man die Zahl der „Schächer“ erhöht (worauf weisen die beiden Kreuze im Hintergrund des Hintergrunds hin)?

  • 15.11.89

    Das Verhältnis von Natur und Gesellschaft ist bisher nur unter dem Aspekt des Darwinismus gesehen worden (Kampf aller gegen alle unter dem Gesetz der Selbsterhaltung). Das Trägheitsgesetz und das Tauschprinzip bezeichnen aber nur das Formgesetz, das zwar mit seinem „Inhalt“ (dem Leben in Natur und Gesellschaft) unlösbar verbunden, nicht aber damit identisch und nicht daraus abzuleiten ist (die Hegelsche Form-Inhalt-Dialektik geht nicht ganz auf, außer im ästhetischen Bereich; es bleibt ein unauflösbarer Rest). Das Trägheitsgesetz reicht ebensoweit wie die Gravitation, nämlich bis in die Elektrodynamik und deren Derivate; ausgenommen bleibt das Licht und mit ihm die ganze sinnliche Welt.

  • 14.11.89

    Materialismus: Seit den griechischen Anfängen der Philosophie gibt es den physikalischen und den sinnlichen Materialismus (Demokrit und Leukipp). Der erste war der Motor des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts, der zweite der Ausgangspunkt aller Befreiungsbewegungen. Das klingt noch in der Marxischen Unterscheidung des Reichs der Freiheit vom Reich der Notwendigkeit nach (oder des Boehmeschen vom Baconschen Materialismus).

    Die teleologische Deutung des Opfers (seine Instrumentalisierung) ist die Ursünde des Christentums, der Anfang seiner Zubereitung zur politischen Ideologie, und zugleich Kern jeder Ideologie (Rechtfertigungslehre) seitdem.

  • 12.11.89

    Postmoderne: Aufklärung als Kritik unterliegt der gleichen Verblendung wie das kritisierte Bewußtsein.

  • 11.11.89

    Zur Unsterblichkeit der Seele:
    – Rosenstock-Huessy macht darauf aufmerksam, daß Zeit und Raum sich dadurch unterscheiden, daß, während beim Raum zuerst das Ganze wahrgenommen werde, bei der Zeit nur der jeweils einzelne Moment; es gibt keine Anschauung der Zeit im ganzen.
    – Das Ganze des Raums ist aber zeitlich affiziert (durch den Zusammenhang mit dem Trägheitsgesetz an die Vergangenheitsform gebunden); d.h. soweit der Raum als Form der sinnlichen Anschauung verstanden werden muß, versetzt er die ganze sinnliche Welt ins Vergangene, abstrahiert er von der sinnlichen Welt. Der Raum als Grund und Medium der Vergegenständlichung, Entfremdung (die in ihm selbst im Verhältnis der Dimensionen sich ausdrückt) ist vom Ursprung her bereits jene hegemoniale Gewalt, die auch die eigenen Konstituentien nicht unberührt läßt: sie verändert und entfremdet. Der Raum entspringt in der Trennung von Raum und Zeit, die selbst nur möglich ist durch Verräumlichung der Zeit.
    – Das Subjekt (für das die Vergangenheit Vergangenheit ist), steht gleichsam über der Vergangenheit; auch die Erinnerung hebt die Vergangenheit nicht auf.
    – Aber wenn es eine Unsterblichkeit der Seele gibt (und das wäre mehr als nur eine Unsterblichkeit der Seele), ist ihr Subjekt nicht das transzendentale, die Wissenschaft begründende Subjekt, sondern umgekehrt: das Subjekt des Wissens ist – wie das Wissen selbst – endlich und sterblich. Erst einer Erkenntnis, die die ganze Last der Schuld (die heute unendlich scheint wie der unendliche Raum) auf sich nimmt, sie umzuwälzen vermag (Nachfolge), gilt das Versprechen der Unsterblichkeit.
    – Alles Wissen ist kraft seiner Beziehung zu Vergangenem von jenem Bereich grundsätzlich getrennt, in dem Unsterblichkeit überhaupt sich denken läßt. Erst die Umkehrung dieser Beziehung (erst Versöhnung, der die Erinnerung nur vorarbeitet) rührt an den Grund der Unsterblichkeit. („Richtet nicht …“, „Was ihr dem Geringsten …“)
    – Es gibt keine Erbsünde (diese Vorstellung gehört zu den Gründen des Rassismus und ist im Rahmen einer Theologie nach Auschwitz aufzuarbeiten), wohl eine Erbschuld (die sich dann allerdings jeder einzelne als Erbsünde zurechnen lassen muß); und deren Last, die auf den Schultern aller ruht, wird immer größer; sie wächst im historischen Prozeß, in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur (das Telos des „Sündenfalls“ ist heute absehbar, es liegt greifbar vor Augen). Heute gibt es nichts mehr, für das uns nicht die Verantwortung zugewachsen wäre. Und jedes Bewußtsein, das dieser Verantwortung sich nicht stellt (oder sich ihr entzieht), ist Ideologie, vergrößert die Last der Schuld. – Das – und nicht die Opfertheologie, nicht die Lehre vom stellvertretenden Leiden, die eine blasphemische Gottesvorstellung als Grundlage und zur Folge hat – ist die Wahrheit der Idee einer Nachfolge Christi. Von hier aus wäre die ganze Sakramentenlehre (die genau das einmal ausdrückte) zu überprüfen.
    Wer die Lehre von der Nachfolge für unerträglich hält, braucht einen Sündenbock.

  • 07.11.89

    Es ist in der Regel die moralische Empörung, die dann von anderen Bekenntnisse fordert. Die moralische Empörung ist ein Teil der Rechtfertigungsmechanismen die den Bekenntniszwang begründen und auslösen. „Die Welt ist alles was der Fall ist“: In diese Mechanismen und Zwänge gerät man, indem man ihnen verfällt. Im Begriff der Verfallenheit drückt sich die Anpassung (Mimesis) an die subjektlose Welt („Natur“) aus. Wer einer Sache oder einer Person verfallen ist, ist seiner selbst nicht mehr mächtig, gleichsam subjektlos. Prototyp des Verfallenen ist der Fan. Die Verfallenheit drückt genauestens den Untergang des Subjekts im Schuldzusammenhang der (zweiten) Natur aus.

  • 05.11.89

    Der Antisemitismus hatte für die, die ihn für ihre Zwecke nutzten, zwei „Vorteile“:

    – Durch die Ernennung des „Judentums“ zum (biologisch, rassisch begründeten) absolut Bösen, war auch die Tradition, für die das Judentum einstand, diskriminiert, tabuisiert: Das Gewissen als individualisierende Instanz, als Grundlage des Selbstbewußtseins, als Realgrund der Verführung zum Selberdenken, war außer Kraft gesetzt (der Jude draußen wurde als Repräsentant des eigenen Gewissens erschlagen, das eigene Gewissen zum „inneren Schweinehund“ ernannt).

    – Umgekehrt war der „Arier“ der Bessere, Gesunde, von der Natur (der „Vorsehung“) zur Herrschaft Berufene; was auch immer er tat, es war dadurch entschuldigt, daß es sein Bessersein im Sinne einer (rassischen) Naturqualität nicht berührte. Dieses Begründungsschema liegt immer noch dem „pathologisch guten Gewissen“ derer zugrunde, die sich an nichts erinnern (durch selbstkompromittierende Komplizenschaft das Erinnern verlernt haben).

    Erschreckend der Trend in allen Parteien, Wähler durch Orientierung nach Rechts zu gewinnen (CDU -> Republikaner, SPD -> CDU, Grüne -> SPD); das Ergebnis ist vorprogrammiert: die jeweils rechten Parteien werden aufgewertet, die Wähler ihnen zugetrieben. Es mangelt an „linkem“ Selbstbewußtsein; politische Moral „lockt keinen Hund hinterm Ofen hervor“; aber wer die Wähler als Hunde einschätzt, darf sich nicht wundern, wenn sie die wirklich hündischen Parteien wählen. Hoffentlich gewinnen der Nationalismus und die Vaterländerei nicht hierdurch eine Schubkraft, die dann durch Moral nicht mehr gebremst werden kann.

  • 04.11.89

    Opfer, Liturgie, Sakramente gehören einer Welt an, die in den Weltkriegen untergegangen ist; gleichwohl ist es nicht überflüssig, ihren vergangenen Rechtsgrund näher zu bestimmen. Die notwendige Entkonfessionalisierung des Christentums kann nicht nur auf Vergessen begründet werden: Hier ist die Trauerarbeit zu leisten, zu der insbesondere Auschwitz ohnehin zwingt.

    So wie es heute keine Passagierschiffe mehr gibt (Untergang der Titanic), ist das Bild der Kirche als Schiff (in den Wellen der Völkerwelt: vgl. das Bild der Arche, die Geschichte von Jonas, den Schiffbruch des Paulus) nicht mehr tragfähig. Damit verliert auch das Bekenntnis (im Anblick des unsäglichen Mißbrauchs, der heute in der Politik damit getrieben wird) seinen theologischen Rechtsgrund. (Zusammenhang von sakramentalem Wesen und Konfessionalismus: Verbot der sakramentalen Gemeinschaft?) Modell des Glaubens und der Theologie heute: das Wandeln Jesu auf dem Meere.

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