November 1989

  • 04.11.88

    Das richtende Urteil wütet mindestens ebenso verhängnisvoll wie in den Naturwissenschaften im Bereich der historischen Erkenntnis. In beiden Fällen dient es als Ich-Stütze, als Instrument des Herren- und Siegerdenkens. Wie herrlich weit wir es doch gebracht haben – dieses Ergebnis des Vulgärdarwinismus, eines Fortschrittsdenkens, das die gesamte Vergangenheit nur als rückständig (Vergangenheitskolonialismus), höchstens als Stufe der Entwicklung zur Gegenwart begreift, rückt die Erkenntnis, auf die das Vergangene Anspruch hat (Benjamin), präzise in den blinden Fleck. Nicht Einfühlung (in den Sieger), sondern Identifikation mit den Zukurzgekommenen, Gescheiterten, mit allen Tendenzen, die über das Bestehende hinaus zielten, wäre parakletisches Geschichtsdenken. (Zur Kritik des Historismus vgl. Steven T. Katz: On Historismus and Eternity: Reflections on the 100th Birthday of Franz Rosenzweig. In: Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929), hrsg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Freiburg/ München 1988, Bd. II, S. 745ff)

  • 03.11.89

    Der Dezisionismus ist die notwendige Folge der Herrschaft des Kausalprinzips: Wenn es keine objektiven Ziele (keine teleologischen Ursachen) mehr gibt, wenn alle Ziele gleich gültig sind (die Verfolgung des Eigeninteresses den gleichen Rang hat wie die Güte), ist Objektivität über naturwissenschaftliche Sachverhalte hinaus nur noch durch Willkür zu begründen; das findet seinen logischen Ausdruck in den Reflexionsbegriffen (und wird begründet durch die transzendentale Logik).

  • 01.11.89

    Der Dezisionismus ist ein notwendiges Korrelat der Reflexionsbegriffe, in ihrem Geltungsbereich begründet, ebenso übrigens der Hegelsche Begriff der „List“, dessen Anwendung nur unter diesen Voraussetzungen (aufgrund der „verandernden Kraft“ des Seins) möglich ist. Frage (und zu prüfen) wäre, ob nicht der Zusammenhang von Wesen und Schein in Hegels Philosophie (für mich immer schon eine Zone, die dem Verstehen besondere Widerstände entgegensetzte, die allerdings umgekehrt die besondere Stellung der Ästhetik im Hegelianismus begründen könnte) in diesem Zusammenhang durchsichtig wird. Die Folge wäre, daß jede Ontologie eo ipso als dezisionistisch und damit als Betrug (Produkt von List) sich erweist (der heute sich nicht mehr halten läßt, nachdem Heideggers Strategie nur noch unmodern, d.h. komisch ist).

    Bei Hegel wird der Kunstgriff manifest im Begriff des absoluten Wissens (das ausgeführte futurum perfectum?): Jedes Wissen ist – aufgrund seiner Beziehung zur Vergangenheit – endlich, und das absolute Wissen nur die sich in sich selbst spiegelnde Vergangenheitsform: der Deckel auf dem brodelnden Topf.

    Beziehung der Reflexionskategorien zur Struktur des Mythos (Zweideutigkeit, Schicksal, Beziehung zur Offenbarung; Grenze der Identifikation; Beziehung zum Herrendenken, Unmöglichkeit des verteidigenden Denkens; Unentrinnbarkeit der Anklage; Ideologie).

    „Religion als Blasphemie“: Wenn Blasphemie die Verletzung religiöser Gefühle bezeichnet, dann ist jede Religion blasphemisch, nämlich eine notwendige Verletzung der Reinheit des religiösen Gefühls, die keine Instrumentalisierung zuläßt.

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