Dezember 1989

  • 13.12.89

    Heute geht ist nicht mehr um die Verantwortung der Macht, sondern um die der Ohnmacht. Nicht das Ändern, sondern das (im Entscheidenden) Nicht-Ändern-Können ist der belastendste Inhalt der Verantwortung, die Schuld, die nicht verdrängt werden darf.

    Zur Verstärkung des Nationalismus gehört heute auch der Zwang zur Identifikation mit dem Beruf, den man ohnehin hat (Herrhausen: „Sagen, was man denkt, tun, was man sagt, sein, was man tut“); dabei käme es gerade darauf an, diese Identifikation zu unterlaufen, das Fachidiotentum (und seine verhängnisvollen subjektiven und objektiven, insbesondere auch politischen Folgen) durch Distanz und Reflexionsfähigkeit zu verhindern.

  • 09.12.89

    Die Diskussion der Ereignisse in der DDR hat etwas Gespenstisches. Unterschlagen werden generell die äußeren Bedingungen (Glasnost und Perestroika, die Entwicklung in Polen und Ungarn, die Verstärkerwirkung der westlichen Medien-Berichterstattung auf die ansteigende Republikflucht in den letzten Wochen, nicht zuletzt die – wenn auch bisher im einzelnen nicht nachweisbare, so doch zu vermutende – direkte Einflußnahme aus der BRD: BND, nationalistisch gestimmte Jugendverbände von JU bis Wikingerjugend, offenkundige Absprachen zwischen Oppositionsgruppen in der DDR und westdeutschen Fernsehteams über Demonstrationen …). Das alles schließt die Anerkennung der Emanzipationsleistung der DDR-Bevölkerung nicht aus, rückt sie nur in eine realistischere Perspektive, macht aber vor allem die propagandistische Verwertung der Ereignisse im Sinne des hier epidemisch sich ausbreitenden Nationalismus schwerer, wenn nicht unmöglich. Die Angst ist nicht unbegründet, daß dieser Nationalismus von der Erwartung lebt, eine „Wiedervereinigung“ könne, indem sie die offene Wunde der Spaltung schließt, den Zwang zu Erinnerung an die unerträgliche Schuld auflösen. Die Gefahr der Auflösung der VVN gewinnt unmittelbaren Symbolwert: daß mit der SED und ihrem Markenzeichen Antifaschismus die Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt diskriminiert wird. Der Untergang des Kommunismus in Osteuropa scheint der Nazi-Invasion in Rußland, dem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg im Osten nachträglich recht zu geben und so den Faschismus freizusprechen. Das alles könnte das ohnehin wahnhafte Klima der zweiten Schuld in Deutschland stabilisieren und der Angst einen endgültigen Grund geben.

  • 03.12.89

    Entfremdung: Der Gebrauch dieses Wortes widerspricht auffallend seinem Wortsinn. Gemeint ist das (sich selbst und anderen) fremd Werden, ein Abstraktions- und Verdrängungsprozeß und sein Resultat (das entfremdete Dasein), während die Vorsilbe „Ent-“ sonst gerade die Auflösung, Vernichtung des mit dem folgenden Verb Bezeichneten anzeigt: Das Entfremdete müßte demnach etwas sein, dessen Fremdheit aufgehoben, das nicht mehr fremd ist. Sinnvoll wäre der allgemeine Gebrauch nur, wenn der Zustand, dem ich eine Sache entfremde, die Fremdheit dieser Sache wäre, und die Entfremdung sie uns (oder der eigenen Bestimmung) gerade nahebringen würde. Vielleicht ist dies sogar der eigentliche Sinn; nur wäre es dann interessant zu wissen: Was ist hier das Fremde? – Im Allgemeinen wird mit der Entfremdung die Instrumentalisierung bezeichnet, das „Für-uns-Werden“, die Unterordnung unter fremde Zwecke; und das Fremde wäre gerade das An sich, das in der Tat seit Kant das völlig Unbekannte, Unerkennbare und Fremde geworden ist. Aber ist das nicht die Sicht aus dem Blickwinkel der Herrschaft, der die These von der Unerkennbarkeit dessen, was sie ohnehin nicht interessiert, genau ins Konzept paßt? M.a.W., der Gebrauch des Begriffs Entfremdung wäre korrekt, wenn die Instrumentalisierung gleichsam die natürliche Bestimmung der Dinge wäre, und das Ansich nur ein barbarischer Rohzustand (die vorzivilisatorische Welt der Wilden, die erst durch Kolonialisierung zu Menschen werden).
    Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß bei Rosenzweig „der Mensch“ (im Kontext der drei Elemente Mensch, Welt und Gott) gerade nicht ein allgemeiner Gegenstand (wie der Baum oder der Tisch; so wäre er nur Teil der Welt), sondern der einzelne, besondere Mensch (mit Vor- und Zunamen) ist.

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