Der Begriff der Wahrheit läßt sich nach Kant nicht mehr auf das Verhältnis von Begriff und Objekt reduzieren. Jegliche Identität, sowohl die des Subjekts als auch die des Objekts leistet der Idee der Wahrheit nur den Widerstand, an dem sie sich abzuarbeiten hat. Hegels Hinweis, daß auch das Objekt nur als Begriff des Objekts ins Urteil mit eingeht, die Wahrheit demnach nur eine (notwendig dialektische) Beziehung zwischen Begriffen repräsentiert, hat weitreichende Konsequenzen. Wenn anders der Wahrheitsanspruch der Sprache (des Satzes, des Urteils), der innerhalb der (objektivierten) Sprache nicht einzulösen ist, gleichwohl nicht aufgegeben werden kann, so nur deshalb, weil die Sprache einen Rest von Materialität, Objektcharakter, nicht abstreifen kann, eine Objektivität, die nicht durch das Abstraktionsgesetz der Anschauungsformen vermittelt ist. Diesen Objektcharakter hat der mittelalterliche Begriffsrealismus verfälscht und verstellt; er liegt nicht diesseits, sondern jenseits des Nominalismus.
März 1990
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30.03.90
Die Naturwissenschaften gründen in einem Organisationsgesetz, zu dessen Nebeneffekten das Vergessen gehört. Das „auswendige Wissen“, dessen Modell die Naturwissenschaften sind, gehorcht einem Gesetz, dem dann auch andere Wissenschaften, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, dessen Objektivitätskriterien übernehmen, unterworfen sind, z.B. die dogmatische Theologie. Kein Zufall, daß auch die Moden, denen die an naturwissenschaftliche Theoreme (z.B. den Kältetod, heute überboten durch das Modell des „schwarzen Lochs“) anschließenden Weltanschauungen unterworfen sind, dem Gesetz der Veralterung unterliegen; sie verdienen nichts anderes, als vergessen zu werden (Zusammenhang von Mode und Vergessen!: Mode als organisiertes Vergessen, als Hilfe bei überlebensnotwendigen Verdrängungsprozessen; Mode als Schmerzmittel, als Narkotikum, als Droge; Mode und Auswendigkeit: wer der Mode gehorcht, gehorcht dem Prinzip des Sich-in-den-Augen-der-Anderen-Sehens, will um keinen Preis mißverstanden, falsch zugeordnet werden; Mode befreit von Schuldgefühlen, unterstützt und promoviert das pathologisch gute Gewissen; Mode resultiert aus der Verweigerung der Empathie; Mode repräsentiert das Grundgesetz der Wertphilosophie).
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25.03.90
Bild und Herrschaft: Das Bild (Abbildbarkeit, Verdoppelung) ist der Grund der Aufspaltung und Polarisierung der Welt in Technik und Reklame; der Grund des Bilderverbots liegt im Verbot der Magie. Die Abbildbarkeit der Welt ist ein Indiz für den projektiven Charakter des Weltbegriffs: Jede Abbildung ist zugleich eine Projektion (Bedeutung des Portraits!); die Welt ist ihr eigenes projektives Abbild (Projektion ins Vergangene, Aufspaltung in Technik und Reklame, Grund der Kantischen Urteile apriori). Und jedes „Gottesbild“ (sogar jedes Menschenbild) ist blasphemisch. Gott und Mensch sind – wie die Sprache (gegen die formale Logik) – nicht abbildbar. Soweit die Sprache abbildbar ist (nämlich in der Form des Urteils), ist sie den Formen der Anschauung unterworfen, hat sie Teil an der Aufspaltung und Verdoppelung, die Gegenständlichkeit und Wissen (Objekt und Begriff) konstituieren und herschaftsbegründend gegenseitig substituierbar machen.
Nicht nur die Reklame, auch die Technik verschweigt den Tod: beide haben ihn zur gemeinsamen Voraussetzung. Jedes Bild ist eine „nature mort“ (verräterischerweise ins Deutsche übersetzt als „Stilleben“): der Tod der Natur ist der Grund ihrer Abbildbarkeit und somit der Grund sowohl der Technik wie auch des Naturschönen.
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24.03.90
Nochmals „Wir Deutschen“: vgl. die Kontroverse zwischen Peter Schneider und Peter Iden in der FR (21. und 24.3.90).
– Hinweis darauf, daß die Deutschen sich nur von außen (im Blick der Andern) sehen (die Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere ist ein Surrogat für den verdrängten realen Ursprung des Subjekts, das sich nur zusammen mit der Sprache entfaltet);
– Zusammenhang mit der tiefen Neigung zur Ausländerfeindschaft (Projektion, präventive Aggression, Sprachfeindschaft);
– Sich-selbst-Durchstreichen als Subjekt, Hinweis: Wir sind für das, was in deutschem Namen begangen wurde, nicht verantwortlich (hier sind wir – als Deutsche – beim Namen gerufen, verweigern die Antwort);
– ist diese Konstruktion nicht in der deutschesten Philosophie, nämlich in der Heideggers: in seiner Hypostasierung des Seins (und der taktischen Nutzung der „verandernden Kraft des Seins“), vorgebildet und fast unaustilgbar in den Grund der deutschen Muttersprache eingesenkt (ein Bastard aus der bis heute illegitimen Verbindung von Vaterland und Muttersprache; die Gewalt, die sich in Heideggers Sprache ausdrückt, ist keine Sprachgewalt, sondern die inzestuöse der paranoiden Selbstbehauptung gegen die Muttersprache; kein Zufall, daß – nach einer Bemerkung von Karl Kraus – Deutschgesinnte kein Deutsch können: die deutsche Sprache taugt nicht zur Deutschtümelei; der genaueste Ausdruck dessen war der Spruch, der sowohl den frühen Selbstverrat des Sozialismus in der DDR wie auch dann das Umkippen der Revolution gegen den Sozialismus markierte: „Deutschland, einig Vaterland“)? Das „Wir Deutschen“ macht sich mit der verfolgenden Unschuld gemein, mehr noch: es ist ihr Prototyp.
– Kann es sein, daß diese wie auch die andere Vergangenheit erst aufgearbeitet sein wird, wenn wir gelernt haben, „Wir Deutsche“ zu sagen, d.h. auch sprachlich die Verantwortung für unsere Taten zu übernehmen, anstatt sie erneut durch Projektion und Schuldverschiebung zu verdrängen (oder die entlastende Zuflucht des neudeutschen Atheismus, dessen Grund auch die Kirchen nicht mehr wahrzunehmen sich trauen, weil er in ihrer eigenen Bekenntnis-Tradition und – Verfassung liegt, endlich zu meiden: jede „Konfession“, jedes Formelbekenntnis, ist ein Ersatz des wirklichen, ist somit strukturell atheistisch)?
– Das wirkliche Bekenntnis, die einzige heute noch erlaubte Konfession, ist das Schuldbekenntnis, ist die Fähigkeit, Schulderinnerung an sich heranzulassen, sie nicht zu verdrängen („abgestiegen zur Hölle“): der einzige noch erlaubte Zugang zur Theologie.
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23.03.90
Die Ontologie steht unter der Herrschaft des Plusquamperfekt: Sie unterwirft die Zukunft der Vergangenheit. Daher ihre Nähe zum Mythos, zur Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die von Heidegger gesuchte Zukunft ist die quietistische der Erwartung der Ankunft des Seins, der vollendeten Vergangenheit; daher das „Vorlaufen in den Tod“ als Kriterium der Eigentlichkeit in „Sein und Zeit“. (Vgl., auch Nicolas Tertulian: „Seinsgeschichte als Legitimation der Politik“ in Lettre International Heft 8 I. Vj. /90, S. 86ff, insbesondere das Heidegger-Zitat über die Unbesiegbarkeit der Deutschen)
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18.03.90
„… das Andenken daran (an das letzte Abendmahl als Vergegenwärtigung des Kreuzestodes) bis zum Ende der Welt festhalten …“ (Trid. Sess. XXII, c.1): also nur „bis zum Ende der Welt“, nach dem Weltuntergang nicht mehr. Die Zeit danach ist die des Abstiegs zur Hölle, der letzten Aufgabe vor der Erlösung der Welt.
Die Kirche hat keine Aufgabe mehr in der Welt, die ohnehin nach ihrem Untergang (in den Weltkriegen) und nach der realen Wiederholung des Kreuzestodes in Auschwitz („Was ihr den Geringsten meiner Brüder getan habt, …“) in Verwesung übergegangen ist; die Postmoderne (die gegenwärtige Gestalt des Nominalismus) ist der genaueste ästhetisch-philosophische Ausdruck davon.
Zusammenhang damit: Die Weltkriege haben die „eine Welt“ (die sich dann in zunächst drei, demnächst möglicherweise nur noch zwei Welten aufgespalten hat) erst geschaffen; aber die Schaffung der Welt ist der Vollzug des Urteils über die Welt, denn der Begriff der Welt ist kein Objektbegriff, sondern der Inbegriff des transzendentalen Urteils: die Welt ist das Weltgericht (jedoch nicht das Jüngste Gericht, sondern eher deren Objekt!).
(Ängste angesichts der Ereignisse in Deutschland: nationalistische Besoffenheit; Fremdenhaß; Wiederholungszwang, Verschiebung und Projektion von Schuld; soziale Marktwirtschaft als Nachfolgeorganisation des mißlungenen politischen Herrschaftstriebs; den letzten Krieg doch noch gewinnen und die Erinnerung an die Schuld endlich aus der Welt schaffen; Entstehung eines exkulpierenden, rechtfertigenden Fundamentalismus: „Marx ist tot, Jesus lebt“)
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17.03.90
Wenn Heidegger den Geburtsfehler der Philosophie (die Ontologie) zu ihrem einzigen Inhalt gemacht hat, dann Luther den Geburtsfehler der Theologie (die „Rechtfertigung“) zur deren einziger Grundlage. – Genesis der Fundamentalontologie und des Fundamentalismus (Fundamentalismus und Antichrist: das Mittelalter, die Heiden und die Juden; Geschichte der Beziehung von Islam und Christentum).
Rechtfertigung und Bekenntnis.
Die Frage „was ist Wahrheit“ ist obsolet geworden als Frage des Pilatus, der dann übrigens die Hände in Unschuld gewaschen hat (wie in den katholischen Kirchen die Priester während der Messe: „lavabo inter innocentes“ – Ursprung des pathologisch guten Gewissens und des kirchlichen Antisemitismus: Verschiebung der Schuld von Pilatus auf die Juden; Grundlage des Ursprungs der Orthodoxie, der Vorstellung von einer exkulpierenden Kraft der rechten Lehre; Ursprung des Bekenntnisbegriffs).
Im Gegensatz zum Begriff der Unschuld (einer Kategorie des Seins oder des Mythos), ist der der Gerechtigkeit (einer Kategorie des Handelns) ein theologischer Begriff. Nicht zufällig erinnert der Begriff der Unschuld an den Bereich der Sexualmoral, während seine Anwendung im Bereich der politischen Moral (im Gegensatz zur Anwendung des Begriffs der Gerechtigkeit) unmöglich ist (es sei denn als Anwendung auf einen marginalen Objektbereich der Politik wie den der Armen, der Außenseiter, derer, die nur noch herausfallen wie z.B. die Asozialen, die Penner). Unschuldig ist nur der, dem das Handeln unmöglich geworden ist, während der Handelnde der Gefahr, schuldig zu werden, nicht entgehen kann, und die Gerechtigkeit nicht auf Unschuld (einen Bereich vor der Schuld), sondern auf Befreiung (einen Bereich jenseits der Schuld: auf die Auflösung des Schuldzusammenhangs) abzielt. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich die Lehre von der Sünde wider den Heiligen Geist: parakletisches (verteidigendes) Denken.
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14.03.90
Kann es sein, daß die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft so konstruiert ist, daß sie ihre wesentlichen dynamischen Strukturen (ihr selbstdestruktives Potential) in den blinden Fleck rückt, dem Begriff entzieht? Sind die Ängste angesichts der nationalistischen Besoffenheit in Deutschland nur irrational?
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10.03.90
Das Problem der kontrafaktischen Urteile hängt engstens mit der Frage, ob man aus der Geschichte was lernen kann, zusammen. Aber auch mit der Frage: Aus welchem Grunde befassen wir uns mit der Geschichte (wegen der Herkunft, des Ursprungs und des Ziels)? Die Lösung des Problems ist die parakletische oder auch die prophetische Erkenntnis.
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04.03.90
Es fehlt immer noch eine objektive Interpretation der speziellen Relativitätstheorie Einsteins und des Prinzips der Konstanz der Geschwindigkeit:
– Inertialsystem als Medium der physikalischen Begriffe,
. Inertialsystem als Todesgrenze (Begriff des Wissens);
. Inertialsystem als Medium der Instrumentalisierung;
. Inertialsystem als System der „Fälle“ (Wittgenstein).
– Bedeutung der Lichtgeschwindigkeit
. Beziehung auf den geradlinigen Weg nur Reflex ihrer Beziehung zum ganzen Raum (Korpuskel-Welle-Dualismus);
. keine „Geschwindigkeit“ einer Bewegung, sondern Maß der Vergängnis;
. Abweichung vom Gesetz der Objektivität, Projektion;
. Bedeutung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit für den Begriff des Lichts;
. Einsatzpunkt für eine qualitative Interpretation der mathematischen Naturerkenntnis;
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02.03.90
Die Entwicklung im Osten und die Wahl in Nicaragua haben der Linken eine Illusion genommen: Daß es eine Lösung in der instrumentalisierten Welt, im Rahmen und auf der Basis des Kapitalismus geben könne. Muß die kopernikanische Wende rückgängig gemacht werden?
Der Kapitalismus hat in der Tat gesiegt; aber nichts hat ihn bisher deutlicher widerlegt als dieser Sieg.
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