April 1990

  • 29.04.90

    Das Telos des theoretischen Kontrukts Drewermanns ist die Regression: die Einheit mit Gott hat ihr Modell an der symbiotischen Einheit mit der Mutter. Deshalb kann er eine politische Theologie nicht anerkennen. Er kennt keine geschichtliche Entwicklung, nur einen Abfall von der ursprünglichen Einheit. Seine Theologie bleibt vergangenheitsbezogen, kennt eigentlich keine Utopie; die Idee des seligen Lebens ist ihr fremd, ebenso die zentrale theologische Kategorie des Ewigen (die sie mit dem „männlichen, geistigen Element mit dem Willen zum Ewigen und Unvergänglichen“ verwechselt und d.h. vom sexistischen Erklärungsschema nicht lösen kann, SdB II, S. 87, vgl. auch S. 81). Was bleibt, ist ein religiöser Einheitsbrei, die identitätsstiftende Instanz nicht die Wahrheit, sondern der Mythos, und zwar eine Gestalt des Mythos, dem die Abgrenzung zur Magie nur über die Gewalt gelingt (Affinität zum Antisemitismus!).

    Ursprung der Reflexionsbegriffe ist das Gravitationsgesetz, das zusammen mit der Reflexivität der Gravitations-Anziehungskräfte und mit der Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde erstmals die absolute Bedeutung der Beziehung von oben und unten (den Kern der Herrschaftsmetaphorik) aufgehoben und damit einer traditionellen Grunderfahrung der Theologie den Boden entzogen hat.

  • 21.04.90

    Der Kosmos und das pathologisch gute Gewissen: Die Instrumentalisierung der Vernunft, die das Gewissen neutralisiert, hat sich endgültig mit der kopernikanischen Wende, mit der Vorstellung eines unendlichen Raumes, in der Realität verankert.

    Hängt das Bilderverbot damit zusammen, daß die Menschen nach Gottes Bild erschaffen wurden?

  • 16.04.90

    Gibt es eine Beziehung zwischen den Stationen der j Urgeschichte (von der Vertreibung aus dem Paradies über den Brudermord und die Sintflut bis zum Turmbau zu Babel) und der Abfolge der Tage der Schöpfungsgeschichte? – Vergleich mit Augustinus „Gottesstaat“?

    Sintflut und Matriarchat (j – Mondjahr; P – Korrektur zum Sonnenjahr), Turmbau zu Babel: Konsolidierung des Patriarchats? (Waren die babylonischen Türme nicht sakrale Bank- und Verwaltungsgebäude? Dienen Hochhäuser – Prototyp Banken – nicht immer noch als Potenzbeweis – als Suche nach der Mitte und dem „tragenden Grund“ der Welt, wie E.D. es zu nennen nicht verschmäht? – Und scheitert die Fundamentalontologie nicht daran, daß sie sich selbst den Blick auf den „tragenden Grund“ verstellt: das Geld und in seinem Innern die drohende Gewalt der Überrüstung – als wahre Deckung des Geldes?)

  • 15.04.90

    „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“: Beginnt hier die Welterkenntnis, ist das erste Gebot „Ihr sollt euch kein Bildnis machen“ nicht ein spätes und genaues Echo darauf; hängt das „Richtet nicht …“ nicht mit dem Bilderverbot zusammen; und ist theologisches (parakletisches) Denken nicht aus eben diesem Grunde Sprachdenken und Kritik der Anschauung (des Bilderdenkens, der transzendentalen Logik und des apodiktischen Urteils)? (Zusammenhang mit Nacktheit, Scham; Ursprung von Schuld und Materialität; Ökonomie, Politik und Sexualität; zum Begriff des Sexismus und des Obszönen vgl. Rosemary Radford Ruether)

    Die Materie hat etwas zu verbergen; sie ist das gegenständliche Pendant der Scham, diese der Grund jeglicher Projektion und der Ursprung der Mathematik (der Verdoppelung). Am meisten zu verbergen hat der Pomp (vom Dogma bis zu den Ritualen und Uniformen/Gewändern aller hierarchischen Organisationen).

    Vgl. auch Walter Benjamins Sprachphilosophie: Erkenntnis des Guten und Bösen als Geschwätz, sowie seine Theologie des Wissens im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“.

    Zum Bekenntnis: Jedes wirkliche Bekenntnis ist Schuldbekenntnis; der Erlöste, wäre er es wirklich, bedürfte des Bekenntnisses nicht mehr; jedes falsche Bekenntnis (als Rechtfertigung) ist Ideologie, verstrickt in den Schuldzusammenhang. Und Konfession ist Schuldgemeinschaft. Das Bekenntnis, als Zeichen der Zugehörigkeit zur Schuldgemeinschaft, löst die Schuld nicht auf, sondern macht sie unsichtbar für die Betroffenen und verstärkt sie zugleich durch Komplizenschaft (Aufnahme in die Gemeinschaft: Genesis des pathologisch guten Gewissens – das Confiteor/Confiteri kennt nur die passivische Konstruktion).

    Zur j Urgeschichte (E.D.): Liegt die Schuld, das Böse, denn wirklich nur im Ungehorsam, in der Übertretung des Gebots: Von diesem Baum dürft ihr nicht essen? Gibt es keine inhaltliche Begründung für das Verbot, nur die autoritäre Drohung mit der Todesstrafe? Besteht die Sünde nur in der Trennung von Gott? Müßte Gott diese Trennung nicht eigentlich sogar wollen? Kommt diese Interpretation nicht letztlich doch dem konfessionellen Schuldzusammenhang und der falschen kirchlichen Bindung der Gläubigen zugute?

    Wichtiger als die Entstehung der Strukturen des Bösen in der j Urgeschichte wäre deren Geschichte selbst, die Geschichte des gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs, die dann vielleicht am Ende ein völlig neues Licht auf seine Genesis werfen könnte. Denn nur so läßt sich die Distanz ermessen, die uns heute von dieser Urgeschichte trennt, und deren Kenntnis zum Verständnis der j Urgeschichte essentiell dazugehört. So bleibt die Darstellung in einem entsetzlichen Sinne nur erbaulich.

    Kann es sein, daß das „kreisende Feuerschwert“, das das Paradies nach dem Sündenfall gegen die Rückkehr des Menschen schützt, etwas mit dem Planetensystem zu tun hat und die „Flucht gen Osten“ der aus dem Paradies Vertriebenen mit dem Tag-/Nacht-Wechsel und mit der Erddrehung? Die Erklärung der Cherube mit alten Tiergöttern (die die Tradition der Engellehre völlig außer acht läßt) greift mit Sicherheit zu kurz (Abwehr der Naturphilosophie?).

  • 14.04.90

    Wie kann man noch 1977 (im Jahre Stammheim) ein dreibändiges Werk mit dem Titel „Die Strukturen des Bösen“ schreiben, ohne Auschwitz, den Faschismus, den Antisemitismus, die Hexenverfolgung, die Inquisition, ohne Hitler, Himmler, Eichmann zu erwähnen, ohne „Die Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt zu kennen (Rosemary Radford Ruethers „Brudermord und Nächstenliebe“ oder auch Ralph Giordanos „Zweite Schuld“ sind später erschienen): Ist nicht diese Art, Fachtheologie zu treiben, d.h. sich dabei um Gott und die Welt nicht kümmern, ein wesentliches Moment der „Strukturen des Bösen“? – Welches Böse meint Eugen Drewermannn eigentlich (nur das innerliche, private, psychologische, oder auch – wenn schon nicht zentral – das öffentliche: Wissenschaft, Ökonomie, Politik, die Welt)? Besteht nicht die Gefahr, daß er – wie die christlich-apologetische Geschichtsschreibung zum Ende des Römischen Reiches – den politischen Untergang auf die moralischen Verfehlungen der Menschen in dieser Zeit zurückführt?

  • 13.04.90

    Am Ende kommt es heraus: Das Christentum war seit Beginn seiner Instrumentalisierung auch eine blasphemische Bild-Religion (der Bildersturm – und in anderer Beziehung auch der Islam – ein ohnmächtiges, weil den Ursprung und den Kontext nicht begreifendes Aufbegehren dagegen). Bild und Dogma sind zwei Seiten der gleichen Sache: ihr Zusammenhang rührt her von der Verdrängung der gleichen Schuld, deren Reflexion die eigentliche Quelle theologischer Inspiration wäre (das Dogma verstößt gegen das Bilderverbot).
    Aus dem gleichen Grunde ist die christliche Sexualmoral erwachsen: Ihr Ursprung ist zu begreifen aus dem Zusammenhang von Entfremdung, Lust und Macht. Die Verteufelung der Sexuallust meint bewußt-unbewußt (mit bewußter Ambivalenz jedenfalls) eigentlich die politische Macht, die Lustverführung der Macht, deren letzter Abkömmling das pathologisch gute Gewissen ehemaliger Nazis ist. Das technologisch (durch die neueren Verhütungstechniken, nicht im Kontext realer Befreiung) begründete Tabu auf der Lustkritik verstärkt den politischen Schuldzusammenhang durch Stabilisierung des Konsumzwangs als Phantasmagorie der Befreiung. Insbesondere: Die Reduzierung der Moral auf ein Anklage- und Urteils-System (unter Verletzung des Gebots: „Richtet nicht …“), verstellt mit dem Verlust der Bereitschaft und der Fähigkeit zur Empathie (dem Grund des parakletischen Denkens) den spekulativen Kern und die theologische Wahrheit der patristischen Sexualtheorie. Die Sexualmoral ist verinnerlichte und deshalb verhexte politische Philosophie.
    Vor diesem Hintergrund wäre das Verhältnis von Psychoanalyse, Religion und Politik zu überprüfen. Die falschen Harmonisierungen von Jung bis Drewermann unterschlagen und neutralisieren, was Freud in „Totem und Tabu“, „Die Zukunft einer Illusion“ und „Der Mann Moses“ hierzu mit großem Ernst erarbeitet hat; sie verfallen der (politisch und moralisch reaktionären) Lust am Urteil (im übrigen nach dem gleichen Schema, dem die Sexualmoral sich verdankt). Der entscheidende Punkt dürfte in der Einsicht liegen, daß Verdrängung nicht allein ein innerlicher, psychologischer Vorgang ist, sondern primär ein objektiver, gesellschaftlicher. Die Objektivität der Verdrängung ist der gesellschaftliche Schuldzusammenhang, im Kern der Sexismus: Hier hängen politische und Sexualmoral zusammen, mehr noch: sind sie eins.
    Hinzu kommt, daß die Verinnerlichung und Psychologisierung selber begründet sind in der Objektivierung der Subjektivität: in der Geschichte der Naturwissenschaft (die die Entstehung des Schuldzusammenhangs in der Gesellschaft ebensosehr voraussetzt und begleitet wie begründet).
    Die Theologie droht heute zu verschwinden, weil die Einsicht in diese Zusammenhänge zu nahe gerückt ist. Kann es sein, daß dieses Verschwinden der Theologie die einzige Möglichkeit ihrer Rettung wäre?

  • 10.04.90

    Der Einsturz der kommunistischen Welt (der nicht das Produkt einer Revolution, schon gar nicht einer gewaltfreien, sondern Resultat eines Wirtschaftskrieges ist) und die Ausbreitung der verwaltungs- und rechtstechnischen Stützsysteme für ein Wirtschaftssystem, das „gesiegt“ hat, während es zugleich dahinwuchert und siecht; die Phantasmagorie eines Wohlstandes, der mehr in den Schaufenstern (inclusive der Medien „zur höheren Ehre des Wohlstandes“) als real besteht (jeder wird zum Angestellten seines Besitzes, dessen Erhaltung mehr Aufwand erfordert als das einfache Leben, das es nicht mehr gibt, außer in der Dritten Welt, die nach dem Abschluß der Kopernikanischen Wende in unserem Jahrhundert in die kapitalistische Galaxie mit hereingezogen wurde: mit dem Schwarzen Loch Europa als Gravitationszentrum), diese Vorgänge haben zur Grundlage eine Armut, einen Mangel, die nicht an sich, sondern nur als Motor und Grund des Reichtums noch erscheinen und gesehen werden. Der Unterhalt des Autos oder einer Wohnung verschlingt den größten Teil der Arbeitszeit und steht in keiner angemessenen Relation mehr zum Effekt, zur Nutzung, die ohnehin immer mehr und immer deutlicher zum demonstrativen Konsum, zu einem medialen Vorgang, zur blasphemischen Bild-Religion (zur wuchernden Verdrängung der Scham) wird. Dem entspricht die völlige Verkehrung des Lebenszwecks, der dahinter systembedingt (ebenfalls wie in einem Schwarzen Loch) verschwindet. Korrespondenz der Veränderungen im öffentlichen und im privaten Bereich.

  • 08.04.90

    Ist das Heideggersche „Dasein“, sind die „Eigentlichkeit“, „Entschlossenheit“, das heroische „Vorlaufen in den Tod“ nicht männliche Kategorien; kommen Frauen in Heideggers Philosophie (wie in den Texten zu Theweleits „Männerphantasien“) überhaupt vor (außer als andächtige Hörer)? Ist die Fundamentalontologie ein Prototyp oder gar das genaue Strukturgesetz der Männerphantasien und derart insgesamt sexistisch (und das Selbstmitleid und die genetische Struktur für das „pathologisch gute Gewissen“ ein notwendiges Pendant dazu)?

    Heidegger hat das Modewort der 60er Jahre „Identität“, gegen das auch Adornos Einsichten nicht geholfen haben, im Begriff der „Eigentlichkeit“ vorweggenommen, zugleich aber das Dezisionistische daran (das heute Adorno-Schüler wiederum gegen die Postmoderne glauben verteidigen zu müssen) protokolliert. Dieser Dezisionismus (Reflex des unreflektierten Schuldmoments am Subjekt) ist es, der sich über Projektionen, Vorurteile den Schein der logischen Notwendigkeit geben muß.

    Unter dem Oberbegriff der Identität (dem Rest oder dem Widerschein der Einheit des Dings, des Objekts: der Schuld) ist die Idee der Wahrheit nicht zu retten; daraus zieht der Sexismus (als Grundvorurteil) seine zerstörerische Gewalt (vgl. auch die lange akademische Tradition dieses „Grundvorurteils“; Belege bei Christine de Pizan; Wahrheitsmoment der Sexualmoral).

    Die Idee der Wahrheit ist ohne die (identitäts- und schuldauflösende) Idee des Gottsuchens nicht zu halten. Der materialistische Kern der Wahrheitsidee (ihr brennender Dornbusch) ist die Theologie.

    Transzendentale Logik/ Unerkennbarkeit der Dinge an sich/ Bedeutung der Kantischen Formen der Anschauung/ Inertialsystem und Relativitätsprinzip: Zusammenhang mit dem Ursprung der Reflexionsbegriffe. Der Ursprung des Inertialsystems repräsentiert die falsche (männliche) Einheit von Subjekt und Objekt (Maßstab und Gemessenem), Herrschaft und Beherrschten, die Unwahrheit des richtenden Prinzips, das Formgesetz und den Ursprung des Schuldzusammenhangs.

  • 05.04.90

    Werte sind Objekte für Bekenntnis-Urteile, Konfessionen. Bezeichnend, daß es eigentlich nur positive Werte gibt (negative Werte erinnern an Schulden). Zusammenhang

    – mit dem Zustand der Religion heute,

    – mit der Struktur und der Genesis des pathologisch guten Gewissens.

    Werte sind nicht reziprok (auf den Urteilenden), sondern immer nur auf andere anwendbar, sie haben einen apriorischen Objektbezug und enthalten einen Schuldverleugnungs- und Subjektvernichtungsmechanismus (gibt es überhaupt einen Subjektbegriff ohne Schuldreflexion?).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie