Juni 1990

  • 27.06.90

    Die Theologie ist der Einspruch gegen die Zwänge, als welche die gesellschaftlichen Strukturen des Realitätsprinzips heute erfahren werden; sie wird blasphemisch, wenn sie mit schwindender Kraft der Reflexion selber diesen Zwängen unterliegt (ihnen einen religiösen Anstrich verleiht: zweite Religiosität; Anbetung der „theologischen Mucken“ der Warenform).

    FR: „Vatikan droht kritischen Theologen“ – Hier fordert die Kirche, die selbst kein Mitleid kennt, in paranoider Verkehrung der Verhältnisse Mitleid mit sich selbst, mit den „Hirten der Kirche“, wenn sie von den Theologen fordert, daß sie bei Konflikten mit der Kirche keinen „Druck auf die öffentliche Meinung ausüben“ sollen. Übernahme des „Nestbeschmutzer“-Syndroms? (Ähnlich schon im Hirtenwort der deutschen Bischöfe zum 50. Jahrestag der „Reichskristallnacht“). – „Triebkräfte der Untreue gegen den Heiligen Geist“? Es gibt die Sünde wider den Heiligen Geist, aber keine Untreue gegen den Heiligen Geist (die Nibelungentreue sollte man dem nationalen Wahn überlassen); und bei den „Triebkräften“ kann es sich nur um die allzu bekannten subversiven Kräfte handeln (projektive Nebeneffekte der krichlichen Sexualmoral).

    D.’s Interpretation des „Richtet nicht, damit ihr nicht von Gott (E.D.) gerichtet werdet“ entstellt den Sinn des Gebotes.

    Mit der Kritik der politischen Theologie und der Rechtfertigung des Bürgers blendet D. das Herrendenken und seine Folgen für den Prozeß der Verweltlichung aus. Wer die Kritik der Welt aus der Theologie eliminiert, kastriert die Theologie. Da trifft sich D. mit Habermas, mit dessen Kritik an der Frankfurter Schule: an den Weltbegriff wird nicht mehr gerührt. D.’s Diffamierung des „Retter-Syndroms“, eigentlich der Erlösung, ist der genaue Ausdruck davon. Hier adaptiert er, was er zugleich kritisiert (und das macht den D. so anstrengend): die Kirche als Gnaden-Verwaltungsanstalt. Zusammenhang mit der von D. sowohl kritisierten als auch dann doch akzeptierten Opfertheologie.

    Ist nicht D.’s Verständnis der j Urgeschichte neokolonialistisch (Vergangenheit als Rohstofflieferant). So wird die j Urgeschichte wieder einmal von oben her erledigt, anstatt sich wirklich darauf einzulassen.

    Die Schöpfungsgeschichte wörtlich nehmen: das ist auch einer anderen Interpretation fähig als einer fundamentalistischen.

    Religion ist heute entweder Blasphemie oder eine offene Wunde, deren Sinnesorgan z.B Adorno, Jean Amery, Primo Levi oder Nelly Sachs heißt. Es ließe sich leicht ein Kanon verbindlicher Schriften zusammenstellen, deren Kenntnis bei einer Neubegründung der Theologie vorauszusetzen wäre: Drewermann scheint keine dieser Schriften zu kennen. Zu beachten ist freilich, daß diese Literatur Literatur von realen oder potentiellen Opfern ist und von den (realen und potentiellen) Tätern nicht unverwandelt rezipiert werden kann. Dazwischen steht die Vernichtungswut, die Opfer und Täter trennt. Unsere Kraft reicht nur soweit, wie wir bereit sind, uns durch diese Literatur aufstören zu lassen.

    Das angstfreie Leben, das D. wohl als Utopie, als Bild eines Lebens, das mit sich versöhnt ist, vorschwebt, ist in der D’schen Version nur auf der Grundlage neuer Verdrängungen und Rationalisierungen möglich, das aber heißt: nur als Quellgrund neuer Angstregionen. Angst ist ein Indikator für Unaufgearbeitetes: freilich für ein nicht nur im Subjekt, sondern zugleich draußen, in der Objektivität Unaufgearbeitetes.

    Zu Kant: Die Moral ist der Schopf, an dem sich die Philosophie aus dem zuvor selbst produzierten Sumpf ziehen muß.

    Das Prophetenwort „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ rückt den Kreuzestod Christi überhaupt erst in die richtige Perspektive. Es ist die schärfste Kritik an seiner Instrumentalisierung zur Opfertheologie. Die Vorstellung, daß die KZ-Schergen nach getaner Arbeit auch 1944 noch zu Hause mit Frau und Kindern unterm Weihnachtsbaum Weihnacht gefeiert haben, sollte eine Schutzimpfung gegen den sentimentalen Sog des Weihnachtsfestes sein, der ohnehin nur dem Weihnachtsgeschäft zugute kommt, in dem sich Auschwitz fortsetzt.

    Die Opfertheologie verhält sich zur Befreiungstheologie wie die Familie zur Ehe (oder wie die Eucharistie zum Kannibalismus?). Die Ehe ist ein Sakrament, nicht die Familie; die ist eines der Zentren des bürgerlichen Schuldzusammenhangs, ein Mythos-Generator.

    Gibt es für die Idee der seligen Anschauung Gottes eine biblische Grundlage, oder handelt es sich hier um ein philosophisches (aristotelisches) Erbe? Zusammenhang mit dem aristotelischen Theorie-Begriff, abgegolten und erledigt durch die kantische Philosophie (Zusammenhang der Formen der Anschauung mit der transzendentalen Logik).

    Der Rosenzweigsche Weltbegriff scheint mir den Punkt zu bezeichnen, von dem aus der „Stern“ aufzuarbeiten wäre. Das „All“, gegen das er seine Philosophie setzt, ist ja der Gegenstand des Weltbegriffs, gegen den seine Philosophie andenkt. Der Weltbegriff ist selber an die Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur gebunden, ein Nebenprodukt des Objektivationsprozesses, der Vergegenständlichung der Natur, hinter deren Rücken gleichsam der Weltbegriff sich konstituiert. Herrschaft verstrickt sich in Welt.

    Wenn das Verhältnis des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zur Planckschen Strahlungsformel begriffen ist (Ursprung und Bedeutung des Korpuskel-Welle-Dualismus), ist der Einstieg in eine neue Naturphilosophie geschafft (Zusammenhang mit dem -vierdimensionalen – Raumzeitkontinuum, mit der Minkowskischen Raumzeit: Stellenwert des die Lichtgeschwindigkeit repräsentierenden imaginären Raumteils: Grund für die Begrenzung auf den mikrophysikalischen Bereich?).

    Dem Naturschönen wohnt ein utopisches Element inne, während die weltliche Schönheit nur regressive Züge trägt (Zusammenhang von Natur- und Weltbegriff).

    Der eigentliche Gegenstand des Inzest-Verbots ist der Ursprungs-Mythos, in letzter Instanz die Fundamentalontologie. Parvus error in principio magnus est in fine. Aktualität von Kafkas Parabel vom Schauspieldirektor, der zur Vorbereitung einer neuen Inszenierung die Windeln des künftigen Hauptdarsteller wechselt.

    Zusammenhang von Öffentlichkeit und Krieg (unter Einbeziehung der Lehre vom Heiligen Geist).

    Das Gefühl ist das Gegenteil von Glück; das Glück ist kein Gefühl.

    D. überantwortet die Theologie einem Abfall-Vernichter.

    „Zeit ist’s zu handeln für den Herrn“.

    Gilt das Kreuzeswort Jesu „Vater, vergib ihnen, …“ auch für die Kirche, die sich mit der Opfertheologie auf die Seite der Täter gestellt hat?

    F.R. hat nach W.B. die Tradition auf dem eigenen Rücken weiterbefördert statt sie seßhaft zu verwalten, D. wirft die Tradition wie einen Ballast ab, um die Verwaltungspraxis zu erleichtern. Dabei ist er sich nicht zu schade für die denunziatorische Nutzung einer instrumentalisierten Psa. z.B. im Falle des Franz von Assissi.

    Wenn Jesus die Schuld der Welt auf sich genommen hat, dann war das kein stellvertretendes Opfer, sondern ein durchaus realer Versuch, verdrängungslos zu leben.

  • 26.06.90

    Der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozeß (auf den D.’s Begriff der „Verstandeseinseitigkeit“ primär zu beziehen wäre) ist erkauft mit einer Abstraktionsleistung, die als gesellschaftlicher Prozeß zu dechiffrieren wäre. Die Abstraktion ist ein paralleler Verdrängungsvorgang in Subjekt und Objekt; oder der Abstraktionsleistung am Objekt entspricht eine Verdrängungsleistung im Subjekt. Beide stehen in direkter Abhängigkeit von den Erfordernissen der Selbsterhaltung (des Realitätsprinzips), von der Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur. Das heißt aber, daß der direkte Rekurs auf die verdrängten Emotionen und Gefühle, auf das Irrationale, nicht weiterhilft, da dieser Bereich selber unter dem Bann des Abstraktionsprozesses steht: er ist entstellt und trägt die Narben seiner Geschichte an sich, der Geschichte der Herrschaft. Benjamins Forderung, die Geschichte aus der Sicht der Unterlegenen (und nicht der Sieger) zu schreiben, gilt auch für die Geschichte und die Resultate der Naturwissenschaften. Auch hier (vielleicht sogar zuletzt und vor allem hier?) bereitet parakletisches, verteidigendes Denken die rettende Erkenntnis vor.

    Es kommt heute zunächst einmal darauf an, eine Schneise in das Dickicht zu schlagen; die Kultivierung wäre der nächste Schritt.

    „Die Kirche ist nicht demokratisch“ – die römische Kongregation für die Glaubenslehre heute, in einer „Instruktion über die kirchliche Berufung des Theologen“ (wobei die Grenzen hinsichtlich der Sexualmoral offensichtlich wieder einmal die wichtigsten sind). So übt sich die Kirche in selffulfilling prophecie.

    Die Institution des Klerikers ist bereits Produkt der Verweltlichung der Kirche. Und ihre Kritik ist nur dann sinnvoll, wenn sie die Kritik der Welt mit einschließt. Alles andere greift zu kurz. Kleriker, Hierarchie, Priestertum sind Kristallisationskerne der Instrumentalisierung der Kirche und insofern ihrer Verweltlichung (der Zusammenhang insbesondere von Hierarchie und Instrumentalisierung läßt sich auch an ihrer Beziehung zur alten Planeten- und Engellehre nachweisen: jede Stufe der Hierarchie ist sozusagen ein eigenes Inertialsystem und somit Kristallisationskern der Instrumentalisierung). Die gleiche Kritik, die D. am Kleriker übt, ließe sich mit gleichem Recht auch an anderen Institutionen üben (Politiker, Professoren, Militärs, die unter vergleichbaren objektiven Zwängen ähnlich sich verhalten).

    D. hat insoweit recht: Unter den Bedingungen der Geldwirtschaft ist die (Existenz-)Angst unvermeidlich. Eigentum, das im Ernst die Existenz sichert, gibt es eigentlich nicht mehr; und wenn es das noch gibt, so ist sein Bestand nicht mehr von Naturabläufen (wie eine gute Ernte von der geregelten Folge der Jahreszeiten, von Klima und Witterung) abhängig, sondern von den politisch-ökonomischen Bedingungen (Konjunktur, technische Entwicklung, Verschiebungen im gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozeß, den niemand mehr durchschaut). Hier liegt der Realgrund der Angst, der insoweit mit der der j Urgeschichte überhaupt nicht mehr vergleichbar ist. Und es ist die Frage, ob gegen diese Angst die (individuelle) Einheit mit Gott, Geborgenheit in Gott o.ä. noch etwas ausrichtet. Hier werden für falsche Probleme falsche Lösungen angeboten. Wenn es noch eine begründbare Theologie gibt, so wird sie die Gesellschaft und den gesellschaftlichen Vermittlungsprozeß in ihre Reflexionen mit aufnehmen müssen. Es gibt die Unmittelbarkeit zur Natur nicht mehr, die einmal Grundlage der theologischen Erkenntnis war.

  • 25.06.90

    Die Längenkontraktion und die Zeitdilatation beziehen sich nicht unmittelbar auf Entfernungen und Zeiten, sondern nur vermittelt: ihr direktes gegenständliches Korrelat sind Farben und die Wärme, die Elektro- und Thermodynamik sowie Mikrophysik und Chemie insgesamt.

  • 24.06.90

    Die Probleme der drei Offenbarungsreligionen (Juden, Christen, Islam)? – Auschwitz, Staat Israel, politischer Fundamentalismus? (Hat das Christentum im Judentum die eigene Vergangenheit, der Islam die eigene Zukunft vor Augen? Antizipation der Erlösung / Rückfall hinter die Offenbarung? – Islam ist über Stammesreligion nicht hinausgekommen; mißlungener Versuch, ohne Zwischenstufe der Urbanisierung ein Imperium zu begründen; islamisches Recht, Grenze der arabischen Mathematik und Ökonomie?). Gegenüber der mittelalterlichen Theologie galt der Islam als „Heidentum“, als Vorwelt, als (äußerer) Repräsentant des Vergangenen (- und das Judentum als innerer?).

  • 22.06.90

    Die Herstellung von Komplizenschaft (der Grundlage für das pathologisch gute Gewissen) ist ein Teil des Initiationsritus der Anpassung an die kapitalistische Gesellschaft (Einübung des Realitätsprinzips, des Konkurrenzverhaltens; Verdrängung der Neigung zur Empathie, zum Mitleid). Der Ausschlag nach Rechts, der in der DDR zu beobachten ist (insbesondere an der Einigkeit im Ausländerhaß), ist eine natürliche Reaktion darauf, daß hier der Anpassungsprozeß chokhaft, ohne die Möglichkeit der Verarbeitung sich vollzieht.

  • 21.06.90

    Verhältnis von Bekenntnis (Konfession), Lehre, Verkündigung? Ist eine entkonfessionalisierte Kirche noch fähig, den sogenannten „Verkündigungsauftrag“ wahrzunehmen, ist der „Missionsauftrag“ überhaupt noch sinnvoll und begründbar („Judenmission“; Probleme der Islammission; Probleme der Missionserfolge bei den vorzivilisatorischen Völkern, bei den Stammesgesellschaften; Mission und Kolonialisierung; Mission und Geschichte der Sozialisation, M. und Ethnologie; Probleme nach Herstellung der „Einen Welt“, Genesis der zweiten/dritten Welt; Missionsland Europa). Rückwirkung auf das Selbstverständnis der Theologie; was heißt „in alle Welt“? Wäre ein entkonfessionalisierter „Missionsauftrag“ nicht der Auftrag zur Welt-Kritik, zur Ausbreitung des parakletischen Denkens?

    D.’s Verinnerlichung, Entrealisierung und Enthistorisierung der Schuld, sein Konzept einer ubiquitären „j Urgeschichte“ hat u.a. auch den Nebeneffekt der Relativierung von Auschwitz. Wenn Auschwitz mit dem (historischen, nicht nur innerlichen, psychologischen, archetypischen) Sündenfall zu tun hat, dann darf dabei die Geschichte, die Veränderung, die z.B. allein schon in der veränderten technischen Dimension, in der veränderten Gestalt der Naturbeherrschung (Grund und Reflex der gesellschaftlichen Strukturverschiebungen) sich ausdrückt, nicht unterschlagen werden: die reale Geschichte.

  • 19.06.90

    Der Turmbau zu Babel und die Verwirrung der Sprache: Zusammenhang von Rechtfertigungssprache, Ghettoisierung, Untergang der Kommunikationsfähigkeit im Schuldzusammenhang; Bedeutung des parakletischen Denkens. Heute ist die Klassentrennung (die Ghettoisierung der Herrschenden und der Beherrschten) so weit verinnerlicht, in die Struktur des Subjekts mit eingegangen, daß sie gegenständlich fast nicht mehr zu erkennen ist (die Beherrschten übernehmen das herrschende Bewußtsein – das Bewußtsein der Herrschenden – und damit das darin beschlossene Urteil über sie selber, dem sie nicht entrinnen können; Grund der Trennung von Bw und Ubw und der Zerstörung der Sprache, die bis in die differenziertesten wissenschaftlichen Theorien hinein fast nur noch Rechtfertigungszwängen gehorcht – vgl. die Untersuchungen zur Sprache des Faschismus).

    Die Differenz zwischen der typologischen (prophetischen) Interpretation der Schrift und der Substituierung ubiquitärer Mythen ist die differentia specifica der Offenbarung gegenüber dem Allgemeinbegriff der Religion oder der Unterschied ums Ganze.

    Der dreifache Verrat des Petrus und der krähende Hahn (Mt 26.31-75, Mk 14.27-72, Lk 22.31-62, Joh 13.36-38, 18.15-27).

  • 18.06.90

    D. nimmt Rationalisierungen unkritisch als Feststellungen objektiver Tatbestände, Schutzbehauptungen als reale Kausalbeschreibungen. Die Psychologisierung der Kriegsursachen ist Resultat der Verdrängung der materiellen Ursachen.

    Erst vor dem Hintergrund der Erkenntnis der objektiven historischen Kriegsursachen (die nicht ubiquitär sind) wird auch der Sinn und das Gewicht ihrer psychologischen Verstärkung erkennbar: insbesondere der Komplex der Komplizenschaft, der dann z.B. auch die Funktion des Antisemitismus (als Überwindung des „inneren Schweinehundes“, als Instrument zur Ausschaltung des Gewissens) erkennbar macht. Hier würde auch die Kritik der Geschichte des Christentums eine ganz andere Bedeutung gewinnen.

    D.’s Begriff der Eucharistie ist nur ein weiterer Hinweis darauf, daß dieses Sakrament heute (nach Auschwitz) ohne Reflexion seines barbarischen (kannibalischen) Aspekts nicht mehr nachvollziehbar ist. Aber: welche biblischen Hinweise muß D. verdrängen (vom „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ bis zur Forderung, vor dem Opfer mit dem „Bruder“ – und nicht im Opfer mit sich selbst und mit dem „Schicksal“ (S. 323) – sich zu versöhnen)? Nicht die „Versöhnung mit dem erlittenen Leid“ (die seitens des Täters die Forderung, das Opfer möge sich doch gefälligst damit abfinden, mit einschließt) sondern die Versöhnung des angetanen Leids (über die der Täter nichts vermag, außer durch Erinnerung, durchs Schuldbekenntnis) ist das einzige religiös noch zu begründende Ziel (vgl. S. 328); diese Grenze der Ethik aber ist innerhalb der Ethik, im Rahmen ethischer Argumentation, zu bestimmen, sobald man bereit ist, den Bann der reinen Innerlichkeit, der Psychologisierung zu sprengen und die Realität der Schuld (gegen ihre Verharmlosung zu bloßen „Schuldgefühlen“) sowie den Unterschied zwischen Tätern und Opfern wahrzunehmen und anzuerkennen.

    Die Instrumentalisierung ist eine Folge der Ubiquität, der Abstraktion von der historischen Realität (oder der Umwandlung der realen Schuld in Schuldgefühle, Grundlage der denunziatorischen Selbstentlastung). So wird die Psa verinnerlicht, im schlechten Sinne psychologisch und schließlich selber mythisch. Das Vieldeutige des Mythos (seine Funktion im gesellschaftlichen Schuldzusammenhang) zieht die Willkür an, gibt den Mythos frei zur beliebigen Verwendung (insbesondere zur Selbstrechtfertigung durch Schuldverschiebung).

  • 17.06.90

    Zu der unsäglichen Interpretation des „Peer Gynt“ („Krieg und …“, S. 261ff): Das Verständnis der „Mutter Solveig“ als Symbol der „Mutter Kirche“, in deren Schoß zurückkehren muß, wer die verlorene Einheit mit Gott wiederherstellen will, beweist das inzestuöse Religionsverständnis D.’s; die Sünde liegt hier offensichtlich in der Freiheit, die sich aus der symbiotischen Beziehung lösen, aus dem Bann der Mutter heraustreten will; das erklärt seine gereizte Ablehnung der politischen Theologie. D. braucht die „Geborgenheit“, und zwar eine Geborgenheit, die ihn dann für sein Handeln in der feindlichen Welt vorab freispricht, gleichsam Generaldispens erteilt: die Moral soll ihm nicht mehr in die Quere kommen. Daher sein Haß auf den „Klerikalismus“ und die offene Nähe zum Antisemitismus. Er selbst will, was er der politischen Theologie vorwirft: die sich aufopfernde Mutter (vgl. auch „Kleriker“, S. …) retten.

    Es ist Abwehr und auswegloses, zwanghaftes Reagieren zugleich, wenn D. offensichtlich Handeln nur noch als „Machen“ kennt (S. 271, vgl. hierzu auch die dekouvrierende Einleitung zur „Krieg und …“). Ist es auch ein „Machen“, wenn ich ein Kind, das in den Brunnen gefallen ist, rette? War der Widerstand gegen den Faschismus, war das Retten von Juden ein „Machen“?

    D.’s Kanonisierung des eigenen Werks: Er wirft mit dem schlichten Hinweis auf sein eigenes Buch … vor, daß er den Stand der exegetischen Forschung nicht kennt.

    D: ein Wolf im Schafspelz?

    „… und jeder psychische Mißklang im Inneren hinterläßt spürbar seine sozialen und politischen Folgen draußen“ (S. 273): Stellt D. hier die Kausalbeziehung auf den Kopf, um die andernfalls notwendige Schmerz- und Trauerarbeit zu umgehen?

    „… statt weiterhin zerstörerisch an seiner Exklusivität zu hängen“ (S. 275): Hier verwechselt D. die notwendige Entkonfessionalisierung des Christentums mit seinem Untergang in einem allgemeinen Religionsbrei. (Hat die extensive Analogiensammlung von Mythen und Märchen bei der Exegese nicht auch den Nebenzweck, den wirklichen Text zu verwischen, sich auf ihn im Detail dann nicht mehr einlassen zu müssen?)

    Kann es sein, daß jeder „Fortschritt“ eigentlich nur eine andere Gestalt des schlechten Alten realisiert? Die Abschaffung der Sklaverei war erst möglich, als die Herrschaftsbeziehung (im kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis) gesellschaftlich institutionalisiert (entpersonalisiert, objektiviert) und zugleich individuell verinnerlicht war; auch die Abschaffung der Todesstrafe hatte ihre Vergesellschaftung und Verinnerlichung zur Voraussetzung.

    Ist etwa D.’s Rückgriff auf den archaischen Kannibalismus bei seinem Eucharistieverständnis exakt der Punkt der Remythisierung des Christentums, und zugleich der Bekenntnispunkt, an dem nur noch das non credo den Weg in ein versöhnungsfähiges (entkonfessionalisiertes) Christentum eröffnet? (S. 290ff) – Übrigens hier wieder der Eindruck wie schon in den SdB, daß D. strategisch geschickt Material beibringt, das u.a. den Nebeneffekt des Spurenverwischens hat.

  • 16.06.90

    Nach Kant und Hegel (aber auch in Kenntnis der in jeder Hinsicht verhängnisvollen Folgen kirchlicher Dogmatik) dürfte dieses Verfahren (Philosophie als Streit von Meinungen, von denen eine wahr sein soll) eigentlich nicht mehr möglich sein. Insoweit ist das D.’sche Konzept in der Tat regressiv. (Jede Meinung ist als Produkt von Instrumentalisierung unwahr. – „Bekenntnis“ und Meinung.)

    D.’s Kriegstheorie (begründet in Angst, die durch moralischen Druck einer veräußerlichten Ethik erzeugt und verstärkt wird) ist a) spekulativ und b) zu harmlos. Er bringt keine wirklichen Belege für seine Theorie. Daß er ausgerechnet an Franziskus und Tolstoi sich ärgert, die nun wirklich nicht zu Kriegen aufgehetzt haben, läßt nur auf seine eigenen Verdrängungen schließen. Vor allem aber übersieht er den gesamten (insbesondere am Faschismus zu studierenden) Komplex von gezielter Verführung, Herstellung von Komplizenschaft, Erzeugung des pathologisch guten Gewissens (die Ausbeutung von Angst, Ich-Schwäche, Schuldgefühlen ist nur ein Teil des Arrangements). Statt dessen denunziert er Beispiele der Umkehr.

    Die Gefahr der Psa liegt darin, daß sie mit der Hypostasierung des Unbewußten aus einem Adjektiv einen Substanzbegriff macht, aus einer Eigenschaft ein Ding. Wahr daran ist, daß es in der Tat (nach Groddeck) so etwas wie eine Dramaturgie des Es, etwas Subjekthaftes im Unbewußten gibt; aber dieses wäre konkret abzuleiten; im Übrigen ist das Es zwar unbewußt, aber es ist nicht „das“ Unbewußte: Das Unbewußte ist (als Negation des Bewußten) zunächst gegenstandsbezogen, Hinweis auf eine Verdrängung und auf deren Resultat: eine verkürzte, eingeschränkte Sicht der Realität, der Objektivität, die dann eine Art naturhaften, subjektlosen Subjekts (gleichsam den Schatten des verdrängenden „Ich“, das „Es“) nach sich zieht, konstituiert. Darauf bezieht sich in Büchners „Dantons Tod“ der Satz „was ist das, was in uns hurt, mordet …“ Dagegen setzt Freud das aufklärerische „Wo Es ist, soll Ich werden“. Wer (wie u.a. Jung und jetzt auch Drewermann) das Negative des Unbewußten verdrängt und gar von den heilenden Kräften des Ub redet, sollte vielleicht doch einmal darüber nachdenken, an welche Angst-, Schuld- und Gewaltquellen er damit rührt, welche Schleusen (des Vorurteils, der Verblendung, der Aggression) er öffnet.

    Doppelter Effekt der methodischen Kraft der Ubiquität:

    – es begründet eine dem Inertialsystem nachgebildete Objektivität, und

    – es stellt eine Gegenwart her, die die Fremdheit ausschaltet und verdrängt, indem sie die Gegenwart dem Vergangenen angleicht, die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit (die Todesgrenze) tilgt.

    Die Ubiquität der Mythen ist ein Reflex davon, daß es im Bereich des Mythos einen Ausweg aus dem Totenreich nicht gibt.

  • 15.06.90

    „Krieg und Christentum“: Eine Diskussion, die nur auf Strategie, Technik und Psychologie sich beschränkt, aber den gesamtgesellschaftlichen Kontext verschweigt, hilft nicht weiter. Die fürchterlichen Auswirkungen der modernen Waffen, der Zwang, sie zu beschaffen und weiterzuentwickeln, reflektieren einen Aspekt des gesamtgesellschaftlichen Zustands, den D. verdrängt. Nach der DdA steckt in der Vergegenständlichung (im geschichtlichen Erkenntnisprozeß) das Verhältnis des Herrn zum Beherrschten mit drin: Ist der Stand der Waffentechnik, ist die darin sich manifestierende materielle Gewalt nicht auch ein Teil des geschichtlichen Stands der Objekt-Beziehung (der Erkenntnisstruktur) überhaupt? Ist die Rüstung nicht schon Teil des herrschenden Realitätsbegriffs (und war es je anders)?

    Zu S. 185ff: Kennt die Bibel überhaupt die Darstellung von Jagden? – War nur Nimrod ein großer Jäger? – Ist es nicht zu wenig, wenn D. die Tierfeindschaft des AT nur aus seinem Anthropozentrismus ableitet, aber nicht konkret belegt?

  • 14.06.90

    Der „Blut und Boden“-Mythos gewann seine Verführungs- und vor allem seine Bindungskraft aus der Verletzung des Inzest-Tabus (der bodenständigen, fremdenfeindlichen Symbiose mit der „Mutter Erde“ galt schon die Anwesenheit „fremden Blutes“ als „Blutschande“): Wer ihn akzeptierte, war Komplize der Urschuld und verloren. Durch die Enthistorisierung des biblischen Sündenfalls zur ubiquitären „j Urgeschichte“ und durch die Einbindung in den psa Mythos wird auch D’s Theologieverständnis in die Nähe des Inzestsyndroms gerückt (den er dann projektiv und stellvertretend in seinem Klerikalismus-Buch kritisiert). Die „falsche Zärtlichkeit“ (vgl. Hegels „falsche Zärtlichkeit für die Welt“), die jede moralische Forderung wegen des darin enthaltenen Schuldvorwurfs abweist, erinnert an die verwöhnende Fürsorge der Mutter, die dem Kind mit der Verantwortung für sich selbst auch die Erfahrungsmöglichkeit und die Freiheit vorenthält. D.’s Freiheit bleibt im Bann des autoritären Denkens (Kriege wird es immer geben; no pity for the poor, außer für die arme Seele, die man selber ist, denn lt. D. ist die wirkliche Armut nicht die materielle, sondern die seelische).

    D.’s Problem ist, daß er – aufgrund seiner psa Erfahrung -imgrunde weiß, daß eine Befreiung ohne Verarbeitung der Schuld nicht möglich ist, die Verarbeitung der Schuld heute (nach Auschwitz) jedoch die Verarbeitung der gesamten Natur- und Menschheitsgeschichte (der gesamten Vergangenheit) mit einschließt, das aber ohne wirklich freies (kritikfähiges) Verhalten zur Gegenwart, zu den realen politischen und ökonomischen Mächten nicht möglich ist (der „Mut“ zur Kritik der mythischen Mächte ist dafür nur ein ebenso schlechter wie verhängnisvoller Ersatz).

    Kannibalismus und „Eucharistie“? (Erst wenn die Beziehung zum Kannibalismus geklärt ist, …)

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