Juni 1990

  • 14.06.90

    Statt Anklage und Rechtfertigung: Verständnis und Bekenntnis?

    Joh. 14,27: der Friede, den die Welt nicht geben kann. – Aber: Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen …(Mt. 28,19)/ Geht hin in alle Welt und predigt die Heilsbotschaft allen Geschöpfen …(Mk. 16,15)

    Joh. 8,12ff: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wandelt nicht im Finstern, sondern wird das Licht des Lebens haben. … Ihr urteilt nach dem Äußeren, ich urteile über keinen. … Wenn Ihr mich kenntet, würdet Ihr auch den Vater kennen.

    Joh. 14,22: Judas, nicht Iskariot, fragte ihn: Herr, wie kommt es, daß Du Dich nur uns offenbaren willst, nicht auch der Welt?

    Konstruktion der Scham (Sexualität; von außen Gesehenwerden, Form der Beziehung zu anderen, Verhältnis zu Anklage und Objekt/Akkusativ; Scham, Anschauungs- und Urteilsformen, Lachen, Geschwätz/Tratsch; Scham der Tiere <Folge des Ausgelachtwordenseins>: Tiere sind nicht nackt, Instinkt und Identifikation mit dem Aggressor; Scham und Organismus, Organisation Problem der Namengebung; Scham, Anklage und Liebe; Scham und Lachen, Scham über das Benanntwerden <Adam benennt die Tiere und – nach dem Sündenfall – Eva>; Benanntwerden und Ansprechbarkeit; Ansprechbarkeit ohne Rechtfertigungszwang; Zeugen und Erkennen: Ursprung des Wissens; Scham als Bewußtsein der Sterblichkeit, des Todes (Überwältigung durch Scham: „Vorlaufen in den Tod“); die Reklame verschweigt den Tod, vollendet die Scham, indem sie sie unsterblich macht: der Reflexion entzieht, in den Rechtfertigungszwang verstrickt; Schamgrenze zwischen Innen und Außen, Ursprung und Geschichte der Intim-/Privatsphäre als Teil der Freiheitsgeschichte; Schamverletzung und totalitäre Systeme, Scham und Geschichte).

  • 12.06.90

    Das Rätsel D. scheint sich zu lösen in „Krieg und Christentum“, schon im Vorwort: Es ist sein Begriff des Politischen, der selbst neurotische Züge aufweist (depressive Kritik-Unfähigkeit). Genau gegen diesen Politikbegriff, nicht neben ihm, als gleichsam unpolitische Religion, ist Freiheit überhaupt erst zu begründen, die sich jedoch dann bei D. in dem gleichen Schuldzusammenhang wieder verstrickt, aus dem sie herausführen soll, und deshalb des göttlichen Trostes bedarf.

    D.’s „Politik“ ist eine, an der man sich nur die Hände schmutzig machen kann, die notwendig die Folgen nach sich zieht, die dann niemand mehr verantworten kann. Aber da hilft dann D.’s Therapie. D’s Politikverständnis schließt eigentlich jeden politischen Widerstand aus (und schändet so nachträglich den historischen: er war ja nutzlos), es entmündigt und infantilisiert den Gläubigen (nicht zufällig gibt es – zumal in Deutschland -diesen auffälligen physiognomischen Trend zum Baby-Face in der Politik; es gibt bereits viele Menschen, die offensichtlich nicht mehr alt werden, nur noch irgendwann plötzlich vergreisen).

    Nach der Realisierung der Einen Welt (in der es keine unberührten Enklaven, keine Schlupfwinkel mehr gibt, in der alles mit allem zusammenhängt) ist die Haltung des Zuschauers (der Verzicht aufs Eingreifen) insgesamt unmoralisch geworden; in dieser Welt gibt es zur Nachfolge (zur Übernahme der Schuld der Welt, zum Prinzip Verantwortung) keine Alternative mehr.

    Vgl. Christina von Brauns „Mutter Staat“ (Die schamlose Schönheit des Vergangenen, S. 73f)

    D.’s Religion: sublimierter Inzest? Das Angenommen-Werden eine Erlösung unter dem Vorbehalt des Fortbestehens der schuldbehafteten Beziehung? (Vgl. das „Rauschen des Blutes“, überhaupt die Affinität von Kitsch und Wiederholungszwang).

  • 11.06.90

    Hängt die Gereiztheit D.s gegenüber Rahner und vor allem Metz vielleicht mit dem Konzept der „ubiquitären“ Struktur der j Urgeschichte zusammen, mit der Tilgung ihres historischen Charakters, der Anpassung an den naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff (letztlich mit der Verdrängung der Schöpfungslehre)?

    „Selten nur wurden Menschen in größerer Zahl in Deutschland …“ (III, S. XVI) – Auschwitz lag nicht in Deutschland. – Diese Selbstmitleidsblockade war der Grund für die unsäglichen Verdrängungsleistungen in den vierziger Jahren.

    „(Die Psa) versteht die Angst nur (?) als einen Reflex äußerer Gefahrensituationen, nicht als etwas, das vom Bewußtsein der Menschen selbst ausgeht.“ (III, S. XX)

    „Nicht was andere aus einem gemacht haben, ist das Entscheidende, sondern zu wem man sich selbst bestimmt hat und wozu man sich in jedem Augenblick auch heute noch weiter bestimmt.“ (III, S. XXIII) – Konkreter: Für das, was andere aus einem gemacht haben (d.h. für sich selbst, für den eigenen Charakter), die Verantwortung übernehmen. Der Sartresche Existenzialismus, auf den D. sich hier offensichtlich bezieht, abstrahiert von der Geschichte und von der versöhnenden Kraft der Erinnerung, wenn er den Vorrang der Existenz vor dem Wesen und die Fähigkeit, das eigene Wesen selbst zu setzen, vertritt.

    „So wird die Objektivität des Erkennens, die den Aufstieg der Wissenschaft ermöglichte, von der ständigen Ichbezogenheit der Angst blockiert.“ (III, S. XXXV) – Nicht nur blockiert, sondern gleichzeitig und ebensosehr blind weitergetrieben (vgl. die DdA).

    „Was ein Neurotiker an seinem Therapeuten lernt, das hat die Menschheit lernen müssen in dem Glauben an den Gott des Volkes Israel, mit dem einen wesentlichen Unterschied …“ (III, S. XXXVI) – Ist das das D.sche Konzept?

    Die Anwendung des Bildes vom brennenden Dornbusch (III, S. XXXVII) liegt nur knapp daneben: Nicht die Menschen, sondern das Werk ihrer Hände (was ihre Bearbeitung des Ackers für sie hervorbringt: die gegenständliche Welt als Substrat der Geschichte und als Gericht) ist das mit dem Bild Gemeinte.

    „Im Umkreis der Mythen wie der Neurosen gibt es keine Geschichtlichkeit (er meint: keine wirkliche Geschichte, H.H.); alles erstarrt darin vielmehr zu einer angsterfüllten Gegenwart (zur Ubiquität, H.H.), die von dem Schrecken und den Mächten der Vergangenheit (vom Mythos, vom Schicksal, H.H.) vollkommen überlagert wird.“ (III, S. XXXIX) Der Umkreis der Mythen wie der Neurosen ist demnach exakt der durch das Erkenntnisgesetz der Wissenschaft (in den Naturwissenschaften durchs Inertialprinzip) bestimmte, und er umfaßt nachweisbar auch das D.sche Konzept (das Inertialsystem stellt jene Zweideutigkeit, jene Ununterscheidbarkeit von Objektivität und Projektion, Paranoia und Selbstmitleid, her, die Medium sowie Grund und Folge der Instrumentalisierung ist und nur durch Schuldreflexion sich auflösen läßt).

    D.’s Versuch, eine theistische Theologie ohne Sündenfall und Auferstehung der Toten zu begründen, führt zwangsläufig in den Mythos zurück. Die Existenz Gottes läßt sich nicht daraus ableiten, daß andernfalls nur Verzweiflung, „das Böse“ und der Wahnsinn bleiben. Auch die therapeutische Instrumentalisierung ist blasphemisch. – Im übrigen würde seine Theologie anders aussehen, wenn er wirklich glauben (und den Glauben wörtlich nehmen) würde anstatt an den Wunsch sich zu klammern, daß es (für wen?) gut wäre, wenn es einen Gott gäbe.

    Gibt es einen trinitarischen Bezug von Angst, Schuld und Scham (Projektionen: Macht, Gericht, Sexismus; Opfer: Juden, Ketzer, Frauen)?

  • 09.06.90

    Die Opfertheologie und die daran anschließende (die Kirche als Verwalterin des Heilgutes begründende) Gnadenlehre rückt durch die gleiche Form der Instrumentalisierung (der „Verweltlichung“), die insbesondere dann die Geschichte der Naturerkenntnis und -beherrschung charakterisiert, die Gläubigen auf die Täterseite, blasphemisiert die Theologie, entmündigt die Christen, macht die Lehre für politische Zwecke verfügbar, polarisiert den Terror (nach innen durch die Unterwerfungsbereitschaft, durch Verführung zur Identifikation mit dem Aggressor; nach außen durch das Angebot von Opfern für Entlastungsaggressionen – Heiden, Häretiker, Juden, Frauen; durch Exkulpierung offenen Terrors). Sie eröffnet den masochistischen Nachfolgebegriff (durch stellvertretendes Leiden) und verdrängt den realen: Nachfolge als Übernahme der Schuld der Welt, als Verantwortungsfähigkeit. An die Stelle einer säkularisierten Theologie, einer Theologie, die selber Opfer der Säkularisation geworden ist (in der Geschichte des Dogmatisierungsprozesses), müßte eine kritische Theorie der Geschichte der Säkularisation treten, eine theologische Erkenntniskritik als Kritik des Herrendenkens in der Theologie (als Selbstreinigung der Theologie): die Vergangenheit ist nicht frei verfügbar.

    Zu Lyotards Reflexionen über Auschwitz (Verbrechen sind nicht mehr justiziabel, weil es gelungen ist, die Spuren und die Zeugen restlos zu beseitigen): Die zynische Anwendung dieses Prinzips findet heute bereits öffentlich, z.T. mit Zustimmung der Öffentlichkeit, jedensfalls ohne nennenswerte Kritik, vor allem aber in gesetzlichem Rahmen statt; gegen freigegebene Opfer (Mitglieder einer „terroristischen Vereinigung“) ist jede Schikane möglich und zulässig, die nicht juristisch dingfest zu machen ist (wenn sie unter einem Vorwand erfolgt, gegen den rechtlich wirksame Einwände nicht möglich sind). Moral ist nicht einklagbar.

    Anwendung der psychoanalytischen Interpretation der „Schaulust“ (vgl. II, S. 452) auf den philosophisch-wissenschaftlichen Theorie-Begriff (und auf das Verhältnis der kantischen Anschauungsformen zur transzendentalen Logik, zur kritischen Begründung des Wissensbegriffs).

    Die psychoanalytische Ableitung des jüdischen Bilderverbots (K. Abraham, sh. D. II, S. 457) vergißt den erkenntniskritischen Zusammenhang, auf den das Bilderverbot verweist (die Theorie-Kritik). Das Bilderverbot, das allen Menschen-, Welt- und Gottesbildern den theologischen Grund entzieht, trennt die jüdische Religion sowohl vom Mythos wie von der Philosophie (der postmythischen Schwester des Mythos); es hat einen Begriff der Erkenntnis zur Folge, der das Unrecht des Wissens und der Gegenstandslogik aufzulösen trachtet durch eine parakletische, an der Idee des Namens sich orientierende Erkenntnis. Frage, ob nicht in diesem bisher uneingelösten Erkenntniszusammenhang auch der patriarchalische Grundzug der jüdischen Religion (ihre letzte Bindung an den Mythos) sich auflöst. Hat die feministische Theologie dem vielleicht schon vorgearbeitet?

  • 08.06.90

    Der Eindruck des Konfusen ist in der assoziativen Methode D.’s begründet. Man ist immer wieder überrascht über wirklich eingreifende Einsichten, die dann aber wieder völlig unverbunden neben Formulierungen stehen, die sich dazu wie ein Dementi verhalten. Hinzu kommt der Eindruck, daß er offensichtlich zu qualitativen Unterscheidungen nicht fähig ist (Affinität zum Kitsch).

    „Das ‚Raffinement‘ der Sintflutmythe“ (II, S. 396) läge nach der Darstellung D.’s darin, daß durch ein gigantisches Projektions-und Schuldverschubsystem die ganze alte Menschheit geopfert wird, um von der Schuld des „Helden“ abzulenken, die Kastrationsdrohung abzuwenden, den Vater zu überlisten, die Vereinigung mit der Mutter zu ermöglichen und dem Helden das gute Gewissen zu verschaffen, in einem neuen Bund mit Gott eine neue Menschheit, fast eine neue Schöpfung zu begründen. Nach D. (ebd.) „(wurde) die Vernichtung der Menschheit gehemmt durch das Erbarmen Gottes; das Gericht sei zugleich die Rettung, … der Aufstand des Sohnes gegen den Vater (wird) in eine Versöhnung mit dem Vater umgewandelt“ (nur eben auf Kosten des Untergangs der übrigen Menschheit, die ja hiernach an dem „Aufstand des Sohnes“ unbeteiligt, deren „Schuld“ nur noch als Produkt einer Projektion zu verstehen, und deren Vernichtung der Preis für die Rettung wäre). – Diese Interpretation verwirrt mehr als sie klärt.

  • 07.06.90

    Es ist ein einfaches Schema, das die Argumentation D.’s beherrscht: drinnen (in der Familie, in der Kirche: ohne Gott) herrscht Angst; draußen (bei den andern, in der Welt: im Paradies) ist der Mensch entronnen, frei. Freiheit ist da, wo ich nicht bin (für dem Zölibatären: in der Liebe). So einfach und (deshalb) so konfus ist die Argumentation D.s tatsächlich. Das erklärt es vielleicht, wenn er bei Autoren, die beim Wort genommen werden wollen, ausflippt.

    Gibt es auch eine kollektive Anorexia nervosa (II, S. 243ff); den Versuch, „von der eigenen Substanz zu leben: autark, narzißtisch, voller Schuldgefühle, besetzt mit Angst, Ekel- und Schamschranken, nach rückwärts gewandt, ohne Hoffnung auf Zukunft, …“ (II, S. 246)? Ist das nicht die präzise Beschreibung des Nationalismus oder auch des Konfessionalismus? – Vgl. hierzu aber Christina von Braun!

  • 06.06.90

    D. schneidet den historischen Grund (die aufzuarbeitende Vergangenheit) der Kirche, ihre Verflochtenheit in den historischen Naturprozeß einfach ab. In der Feststellung ihrer Unzeitgemäßheit ergreift er Partei für das Zeitgemäße.

  • 05.06.90

    Drewermanns Kritik an den Klerikern gründet im Blick auf die (von ihm als Kleriker beneidete) Welt; sein Ideal ist die „freie Persönlichkeit“.

    Die Kritik D.’s nimmt demagogische und denunziatorische Züge an, wenn es darum geht, projektiv die Ansprüche und Forderungen des Gebots (das er vom Gesetz und vom Befehl offensichtlich nicht unterscheiden kann) abzuwehren (vgl. vor allem die Ausführungen zum Gehorsam).

    Merkwürdiger Eindruck beim Drewermann: Argumentation unverbunden, auch auf Kosten von Widersprüchen; schwer zu fassen: zu jeder Aussage auch das Dementi; großes strategisches (oder nur taktisches?) Geschick. – Vor allem merkwürdig die gereizte Reaktion auf Rahner, mehr noch auf J.B.Metz. Frage, ob nicht gerade hier projektiver Anteil? Insbesondere das Problem der gesellschaftlichen und historischen Valenz/Vermittlung psychoanalytischer Einsichten. Psa. gebunden an die familiäre, intime Situation; reif für Psa. erst bei einem bestimmten Stand der Entwicklung der Privatsphäre (an die insbesondere auch der katholische Religionsbegriff gebunden ist)? Übertragbarkeit auf andere Situationen? Privatsphäre selbst gesellschaftlich-historisch vermittelt; Zusammenhang mit der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur; Funktion des Weltbegriffs. Fehlende Reflexion hierauf hat Zweideutigkeit/Ambivalenz zur Folge; Folge der Herrschaft der Reflexionsbegriffe? (…: Seit Entwicklung der Psa erübrigt sich die Produktion von Kunst, da jetzt Neurosen direkt (ohne Sublimierung) bearbeitet werden können: Anwendung auf Drewermann). Abwehr der Theologie notwendig aus Selbstschutzgründen, zur Erhaltung der Produktivität?

    Steckt in Adornos Satz: „Der Ankläger hat immer Unrecht“ nicht auch ein logisches Problem, der Kern der negativen Dialektik? Und rührt nicht die „Unlogik“, der merkwürdig diffuse und oszillierende Wahrheitsbegriff bei D. aus der Nichtbeachtung der durch A.’s Satz bezeichneten Logik? M.a.W.: folgt aus dem Verständnis, der Entschuldigung, immer auch die Erlaubnis? Es ist das gleiche Mißverständnis, das der Verwechslung von Moral und Recht zugrunde liegt. (Bezeichnend, daß immer die gegen die „Gesetzlichkeit“ der jüdischen Religion aufbegehren, die selbst diese einfache Unterscheidung nicht verstehen oder nicht wahrhaben wollen).

  • 04.06.90

    „… Illusionen, deren Trugbild dem ungetrübten Auge eines Kindes verborgen bleiben sollte.“ (S. 476)

    „… verzehrte rasch und gewaltsam wie ein Steppenbrand die kleinen Reste an spärlichem Grün in den Niederungen und Tälern des irdischen Lebens.“ (S. 472) – Solche Sprachbilder verraten mehr, als der unmittelbare Wortlaut des Textes wahrhaben will.

    So verdienstvoll die Gesamtdarstellung des Klerikers ist, es bleibt ein Verdacht, daß hier eine katholische Assimilation (wie im letzten Jahrhundert die jüdische) auch den Schatten des Selbsthasses (eines verinnerlichten Antiklerikalismus) nach sich zieht. Ausgeblendet wird der Hintergrund (der Symptomenkomplex der zweiten Schuld) in Deutschland; die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird nur soweit mit vollzogen, wie sie sich in die Kritik an der Kirche mit einbeziehen läßt. Die Psychologie des Klerikers wird sicher überhaupt erst durchsichtig, sobald sie die Reflexion auf den welthistorischen Zustand der Dinge mit einbezieht: das gesamtgesellschaftliche Verhältnis von Es, Ich und Über-Ich, von dem das kirchliche nur ein ohnmächtiger Reflex ist. Der Verdacht bleibt, daß D. die Vorteile der Assimilation und des Schutzes der kirchlichen Institution zugleich haben möchte; den Widerspruch, der daraus notgedrungen folgt, hat er nicht aufgearbeitet (den Widerspruch des antiautoritären Autoritarismus).

    D.’s Antisemitismus? (S. 493ff: die „Religion des Alten Testamentes“)

    Das Christentum und das Erbe Ägyptens (S. 496): Verrat des Exodus.

    Zusammenhang der umfassenden Adaptation mythischer Motive mit der zentralen Verdrängung des politischen Teils der Idee des seligen Lebens. (Bedeutung Ägyptens für D.: Kein Gedanke an die Realität des Pharaonischen Reichs; Entpolitisierung, Psychologisierung der Befreiungstat Moses, des Mordes an dem Sklaven-Aufseher).

    2 Fragen:

    – Mit dem sozialen Hintergrund blendet D. auch das Faktum aus, daß sein Thema, insbesondere Keuschheit und Sexualität jetzt, infolge einiger genau bestimmbarer gesellschaftlicher Veränderungen, zum „Problem“ wird, an dem auch die Kleriker selbst nicht mehr vorbei kommen (Zusammenhang mit dem Ursprung der Psychoanalyse).

    – Ausgeblendet wird bei der Darstellung der Probleme der Keuschheit eigentlich vollständig das Problem, wie es aus dem Blickwinkel der Frau sich darstellt, der sehr wohl Vorbehalte gegen die freie Verfügbarkeit für männliche Begierden mit einschließt.

    M.a.W. verkürzt wird das gesamte Problem um den Problemkern, der vielleicht doch (freilich mit ganz anderen Konsequenzen, als aus der Sicht des Sexismus, des klerikalen Herrendenkens) in der kirchlichen Tradition steckt.

    „… der Haß auf die eigene Männlichkeit … übersetzt sich jetzt in eine Fülle reiner Gedanken zur Rettung der Welt“ (S. 556): D.h. wer über Auschwitz den Verstand verliert, und ernst macht mit der Maxime, daß das nicht wieder eintreten darf, tut es aus „Haß auf die eigene Männlichkeit“? Umgekehrt: Birgt nicht das Bestreben, den „Haß auf die eigene Männlichkeit“ zu vermeiden, gerade die Gefahr des Sexismus in sich? – Unfreiwilliger Hinweis auf den Zusammenhang von Empathie und parakletischem Denken?

    D.s Konzept stimmt nur unter der Voraussetzung, daß wir in einer heilen Welt leben, die nur von der Kirche angeschwärzt wird. Nur so läßt sich der Eindruck vermitteln: Wenn ihr aus den Fängen des Klerikalismus euch befreit, ist alles in Ordnung. Statt dessen käme es darauf an, diesen Zustand des Klerikalismus als selbst vermittelt (objektiv im Zustand der Welt, subjektiv in der Unfähigkeit, den Wahrheitskern der theologischen Tradition zu realisieren) zu begreifen. Und die begriffene Vermittlung könnte sehr wohl ein Moment der Realisierung der Wahrheit der theologischen Tradition sein.

  • 03.06.90

    Drewermann/Metz:

    – Strukturen des Bösen ohne Erwähnung von Auschwitz, ohne Kenntnis der bisherigen Analyse des Antisemitismus, offensichtlich ohne Kenntnis der Untersuchung des autoritären Charakters („no pity for the poor“: Weigerung, die Verantwortung für den Zustand der Welt zu übernehmen)

    – Karl Thieme: Verwandtschaft von Antisemitismus und Antiklerikalismus (D.s Grenze gegen beide diffus, nicht eindeutig)

    – Begriffe wie Forderung, Gebot lassen sich nicht streichen (irgendwann muß jeder die Verantwortung für den eigenen Charakter übernehmen, ohne sich noch auf fremde Schuld herausreden zu dürfen; Psychoanalyse nur sinnvoll, wenn sie bei Übernahme dieser Verantwortung hilft: „wo Es war, soll Ich werden“, andernfalls nur strategische Nutzung des Schuldverschubsystems zur eigenen Entlastung: zur Verdrängung von „Schuldgefühlen“ und zur Herstellung des pathologisch guten Gewissens)

    – D. wehrt mit dem „moralischen Zwang“ eigentlich die Erinnerung an die Ehre und Würde des Subjekts (seiner Verantwortung) ab; die Psychologie ersetzt nicht die Moral, sie ist nur ein notwendiges Hilfsmittel gegen die Ideologisierung der Moral (gegen ihre Verwendung als Mittel der Rechtfertigung und Anklage – der Ankläger hat immer unrecht)

    Psychoanalyse auch Prototyp, Paradigma des „Wissens“ im Sinne Benjamins.

    „… Geld und Besitz in einen Fetisch absoluter Daseinssicherung zu verwandeln“ (S. 378): Dieser „Fetisch“ ist doch nun tatsächlich das transzendentale Apriori des Realitätsprinzips, des Ich, die Verknüpfung der Formen der Anschauung mit der transzendentalen Logik, Grund und Motor des historischen Abstraktionsprozesses, Konstitutionsgrund der Welt, Inhaber des Gewaltmonopols (auch gegen den Staat – kraft des Verfassungsprinzips des Eigentums), Subjekt der Rechtfertigung, der Anklage und des Weltgerichts. Diesem „Fetisch“ ist mit moralischen Argumenten nicht beizukommen. – Vergleichbar nur dem hilflosen kirchlichen Kampf gegen die Naturwissenschaften zu Beginn der Neuzeit. (Welche Bedeutung haben vor diesem Hintergrund das vatikanische Bankwesen und die deutsche Kirchensteuerregelung? – Vgl. Auch Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers und Wucherzins und Höllenqualen – auch eine bis heute unaufgearbeitete Vergangenheit)

  • 02.06.90

    „… entsprechend seiner zwangshaften Art sind die Kategorien seines Denkens das ‚Du sollst‘ und ‚Man muß‘, und so kennt seine Sprache keinen Konjunktiv noch Optativ, doch um so mehr den Indikativ und Imperativ.“ (S. 296)

    Das Mönchstum als innerkirchlicher Protest gegen die Verweltlichung der Kirche, wird fortgesetzt in der Ketzerbewegung, in den abgespaltenen (dann selbst verweltlichten) Konfessionen. (vgl. S. 346)

  • 01.06.90

    D. meidet die Anbindung psychoanalytischer Begriffe an die Strukturbewegungen im historischen Prozeß: Die Ableitung der „Methoden theologischer Zwangsvereinheitlichung durch Ketzermacherei und Häretikerausschluß“ aus der Psychologie des Klerikers z.B. müßte ergänzt werden durch eine kritische Analyse der realen Geschichte von Ich, Es und Über-Ich (der Geschichte der Herrschaft, in die sie verflochten sind): Hier wäre die Kenntnis der materialistischen (politisch-ökonomischen) Geschichtsanalyse zweifellos von Nutzen. Hätte D. sich etwas mehr mit der jüngsten Vergangenheit befaßt, würde er z.B. den Begriff der „Identifikation mit dem Aggressor“ kennen, der sicherlich mehr zur Aufklärung frühkirchlicher Vorgänge beitragen könnte (wie überhaupt die Anwendung psychoanalytischer Methoden auf diese Periode konstruktiver sein würde als ihre Anwendung auf die „jahwistische Urgeschichte“: kann es vielleicht sein, daß das Christentum das Objekt der Psychoanalyse überhaupt erst „geschaffen“ hat? – vgl. S. 278: die „ödipale Problematik … lediglich eine kulturelle Variable, deren Einfluß auf die Mentalität der europäischen Zivilisationsgeschichte allerdings nur schwer überschätzt werden kann“).

    Zu Dornen und Disteln: sh. Mt 7,16 „die Trauben bei den Dornen und Feigen bei den Disteln suchen“.

    Adorno: Heute ist schon jeder Katholik so schlau wie früher nur ein Kardinal. – Hat D. nie den Zynismus (und seine Wurzeln) analysiert, der heute als notwendige Folge aus dem Zustand der Theologie (nicht erst aus der Psychologie des Klerikers) resultiert, und der möglicherweise stärker, wirksamer und weiterreichend im katholischen Laien sich manifestiert, der gelernt hat, sein instrumentalisiertes Christentum als Herrschaftsmittel im privaten Bereich wie in der Politik taktisch und strategisch zu nutzen. Dagegen hat der Kleriker durch seine theologische Ausbildung noch Reibungsflächen, die vielleicht sein Leiden /am Zustand der Theologie) erhöhen, die aber auch die Chance eröffnen, durch Reflexion, durch Aufarbeitung dieses Leidens den Zustand der Theologie selbst zu ändern (die Möglichkeiten ihres Mißbrauchs zu reduzieren).

    Bemerkt D. nicht die Projektion, die in der unkritischen Rezeption des Katharerbildes steckt? (S. 162).

    Zu dem „Mangel an Persönlichkeit“ (S. 167, 170) vgl. die Bemerkungen von F.R. im „Stern“. Ist der Begriff der P. eigentlich psychoanalytisch relevant?

    Zu der wirklich nur noch polemischen Darstellung der klerikalen Kleidung: Warum eigentlich so ausführlich nur hinsichtlich der Nonnenkleidung? Was ist mit der liturgischen Kleidung? Und vor allem: Fehlt nicht als Hintergrund eine Soziologie der Kleidung (und hierbei auch der Mode) überhaupt? Ist es zulässig, hier die Realität als nicht mehr zu hinterfragende Normalität hinzunehmen, an der dann die klerikale Kleidung (ihre diachronische Symbolik) so unreflektiert gemessen werden darf? Wäre hier nicht eher ein Aufklärung dieser Diachronik, eine Aufarbeitung der Geschichte dieser gegenwärtigen Vergangenheit vonnöten?

    Drewermann kennt offensichtlich nur das „persönliche Gebet“ (das es heute eigentlich schon nicht mehr gibt, jedenfalls nicht mehr in authentischer Form), nicht jedoch das meditative Gebet (vgl. Reinhold Schneiders „allein den Betern …“ und Ernst Blochs „Wahrheit als Gebet“): Das persönliche Gebet ist den Tätern nach Auschwitz untersagt; das meditative Gebet (als Trauer- und Erinnerungsarbeit) behält seine Bedeutung (ja gewinnt sie heute vielleicht sogar verstärkt) als Vorstufe und als Exercitium des parakletischen Denkens.

    Was ist eine „persönliche Vertiefung der Frömmigkeit“ (S. 179)? Auch die Wachmannschaften in den KZs haben Weihnachten gefeiert.

    Zur Bußpraxis (S. 180): Die wirkliche Schuld ist heute nicht mehr beichtfähig, sie ist nicht mehr in dem Sinne individuell, wie es das Institut der Beichte voraussetzt. Vgl. hierzu das Jesus-Wort über die Aussöhnung mit dem Bruder vor dem Opfer: Dürfte hiernach heute überhaupt noch jemand am Opfer teilnehmen?

    „Was immer heute Religion heißt, vermittelt sich persönlich oder gar nicht …“ (S. 212f): Das kann doch nur heißen, daß der Inhalt, die Wahrheit, nicht mehr vermittelbar ist, sondern nur noch die „personality“ des Vermittlers (des „Führers“ – vgl. die Vorbereitung des H.J. Degenhardt auf das Priesteramt), vielleicht so etwas wie Charisma, Aufrichtigkeit o.ä., jedenfalls etwas, daß nicht mehr anhand nachvollziehbarer Kriterien (außer denen des „positiven Denkens“) zu beurteilen ist?

    D.s Begriff von den Psalmen: „tagaus tagein zu dem Hersagen altorientalischer Lieder genötigt“ – „Haßtiraden der Psalmen“ -„nicht ein einziges wirkliches Fürbittgebet“ – „Texte, gebunden an den heiligen Egoismus einer altorientalischen Stammesreligion“ – „muß sie beten, daß Gott dem König Macht gibt, seine Rache an den Feinden zu genießen“ (S. 179)

    S. 245ff: D. hat den entscheidenden Punkt des double bind in der Psychologie des Klerikers offensichtlich nicht begriffen (obgleich er ihn selbst kurz vorher sehr genau beschrieben hat): nämlich die „Doppelbindung“ an die „Mutter Kirche“, nicht selten projektiv ausgebildet in der priesterlichen Marienverehrung (sh. jedoch hierzu S. 287f). Dagegen ist das von D. beschriebene Beispiel der Gefühlsverwirrung in der ungeklärten Beziehung einer Frau zu „ihrem“ Pfarrer ein Fall, der nur vor dem Hintergrund einer selbst bereits wahnhaften (blasphemischen) Religionsbindung double-bind-ähnliche Züge annimmt (vgl. Schizophrenie und Familie – Anwendung auf Genesis und Struktur der Marienverehrung?). – Einbindung von double-bind-Strukturen in die Normalität zunächst durch die Religionen, dann Verselbständigung (sekundäre Religion – vgl. Spengler)?

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