Oktober 1990

  • 27.10.90

    Gewalt hat einen Adressanten und einen Adressaten (Waldenfels): sie hat m.a.W. sprachliche Struktur. Das Entscheidende an der Gewalt ist nicht die Verletzung von Eigentums- und Rechtsverhältnisses, sondern ihr Verhältnis zur Sprache, letztlich zur Theologie. Auch das Gewaltmonopol des Staates (und die Idee eines Rechtsstaats, der allein auf das Gewaltmonopol des Staates sich gründet) ist ein Eingriff in göttliches Recht, ist blasphemisch.

    Jede Strafe ist zutiefst fragwürdig geworden. In den Gefängnissen sitzen ohnehin nur noch die, die keine Alternative mehr hatten; und sie sitzen deshalb, weil die, die sie verurteilen, es nicht wahrhaben können, daß es Menschen in dieser Gesellschaft gibt, die keine Alternative mehr haben. Ebenso wie die Schuld unterliegt auch das Verbrechen einem Vergesellschaftungsprozeß; das Subjekt von Schuld und Verbrechen verlagert sich immer mehr von den Einzelnen weg in die gesellschaftlichen Institutionen, letztlich in den Staat; nur durch Projektion (aus Gründen der Selbstentlastung, der Freisprechung der Herrschenden) wird diese Schuld auf die Opfer abgeleitet (die Armen sind selber schuld; sie sind die Schuldigen). Die KZs der Nazis waren ebenso entsetzlich real wie symbolisch: für die anderen war die Tatsache, daß einer ins KZ kam, ein ausreichender Beweis, daß er schuldig war. Jede andere Beurteilung hätte Ängste ausgelöst, die keiner mehr ertragen hätte. (Ursprung und Auswirkung des pathologisch guten Gewissens, des Bewußtseins, nichts gewußt zu haben.)

    Paradoxe Situation: Schuldig (nicht im strafrechtlichen, wohl aber in theologischem Sinne) sind die Strafenden, die Bestraften hingegen (zwar nicht unschuldig, wohl aber:) Opfer. Und die theologisch allein noch bestimmbare Schuld (die nicht mehr beichtfähig ist) fällt nicht mehr unters Strafrecht, sondern definiert nur noch die Bedingungen und den Rahmen der Gottesfurcht. Strafe als Rationalisierung und Vergesellschaftung von Rache, als Mittel des Rechts, ist auf Teilhaber am Gewaltmonopol, an den mit Strafbefugnissen ausgestatteten Institutionen (auf Politiker und auf Richter) eigentlich nicht mehr anwendbar. Die Probleme der rechtlichen Aufarbeitung der Naziverbrechen rühren daher. (Diese Probleme scheinen sich bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht zu stellen: der Untergang der DDR, der Zusammenbruch der staatlichen Institutionen, ist der Beweis, daß die Macht- und Rechtsausübung illegitim war. Diese Leute waren nicht befugt: Das Gewaltmonopol dieses Staates hatte keine reale Grundlage: keine ausreichende Wirtschaftsmacht; keine ausreichende Macht zur Definition und Stabilisierung des heiligen Tauschprinzips).

  • 26.10.90

    Bekenntnis und Scham (Schuld, Rechtfertigung und Ideologie): Vgl. Gen. 3.7ff, 21ff. Es ist das Verhältnis des Bekenntnisses zur Schuld, das es an strenge Gesetze der Scham bindet. Das demonstrativ-exhibitionistische Bekenntnis derer, die es als Herrschaftsmittel mißbrauchen, ist so obszön wie der Appell an das Urteil des nachgeborenen Historikers blasphemisch (das Weltgericht Hegels); das Zwangsbekenntnis (sowie seine Folgen: die Instrumentalisierung der Welt) verwirrt die Scham. Erlaubt ist nur die angstfreie, paradiesisch-schamlose Nacktheit des Bekenntnisses der Schuld oder der Liebe. Zur Dialektik der Scham und des Bekenntnisses nach dem Fall gehört es, wenn Gott das Feigenblatt (der Vegetarier) durch Tierfelle (nach dem Übergang zu tierischer Ernährung) ersetzt.

  • 25.10.90

    Schneisen in das Dickicht der heutigen Sprachverwirrung schlagen. (Bedeutung von Gen. 11.1-9 für die Sprachphilosophie.)

  • 24.10.90

    Natur (als erste und zweite Natur) ist ein antitheologischer Begriff (securus adversum deos), Welt ein negativer Begriff der Theologie. Der Begriff der Natur besetzt die Stelle des Schöpfungsbegriffs, der der Welt (als Weltgericht) die des Erlösungsbegriffs.

    – Die Natur ist nicht erschaffen, sie besetzt die Stelle des Ursprungs (Natur als Inbegriff eines subjektlosen Subjekts der Schöpfung);

    – die Welt ist nicht erlösungsfähig, vielmehr ist ihr Untergang Teil der Erlösung;

    – warum gibt es „Welt-/Mensch-/Gottesbilder“ aber kein Naturbild?

    – Natur bezeichnet das Werden der Vergangenheit („Ursprung“, das Subjekt des Falls), Welt das Geworden-Sein (das Resultat des Falls, das Urteil, das Gericht); in beiden drückt sich die Herrschaft und der Bann der Vergangenheit aus; im Bannkreis von Natur und Welt gibt es keine Zukunft außer der endlichen, von Menschen gemachten: außer der Prolongation der Vergangenheit.

    – Natur als Subjekt (Naturteleologie) ist der gegenständliche Reflex des Subjekts, der Naturbeherrschung (der Inbegriff des Objekts der Naturbeherrschung): das ist der Grund für das (scheinhafte) Gelingen des Idealismus (Subjekt als Ursprung).

    – Den Naturbegriff gibt es nur im Kontext der Naturbeherrschung (Vorhandenheit und Zuhandenheit, Natur als Subjekt).

    – Natur hat das Erbe des antiken Schicksals angetreten (setzt die Verinnerlichung und Instrumentalisierung des Schicksals: das Herrendenken, voraus; Zwang, unter den Bedingungen von Herrschaft dem Naturgeschehen ein handelndes, zwecksetzendes und zugleich blindes Subjekt zu unterlegen – Natur handelt gleichsam instinktiv wie ein Tier); oder das Schicksal ist der Naturgrund des ästhetischen Objekts.

    – Dämonischer Charakter der Natur nicht mehr erkennbar, seit er ins Subjekt eingewandert ist (als blinder Fleck der Selbst-und Objekterkenntnis: bloße Entlastung vom Bewußtsein der Schuld, während der Schuldzusammenhang, als welcher Natur zu definieren wäre, bestehen bleibt, in dieser Entlastung gründet; falsche Befreiung).

    – Natur, Herrschaft und Bekenntnis (Instrumentalisierung des Bekenntnisses unter der Herrschaft des Naturbegriffs, Instrumentalisierung der Natur unter der Herrschaft des Bekenntniszwangs; Aufnahme von Naturkategorien in die Theologie <Opfer, Tod und Auferstehung>; dagegen Paulus: die ganze Schöpfung sehnt sich nach der Freiheit der Kinder Gottes)?

    – Theologische Kritik der Natur gelingt nur, wenn sie die Erkenntniskraft des Namens wieder erschließt; setzt Kritik des Begriffs und strikte Einhaltung des Bilderverbots (oder eine genetische Theorie der Mathematik) voraus.

    – Gibt es eine Befreiung der „Natur“ (die dann allerdings keine mehr wäre) oder nur eine Befreiung vom Schuldzusammenhang der Natur durch Reflexion der Natur?

    – Natur und Welt als differierende Strukturen der Gegenständlichkeit und des Gerichts (Welt als Subjekt und Natur als reines Objekt des richtenden Urteils? – Natur als apriorisches Objekt des Weltgerichts und als Produkt der Verdrängung des Erbarmens? Materie als objektiver Reflex des Selbstmitleids? -Zusammenhang von Selbstmitleid und Rigorismus? – Arme Seele und Teufel?).

    – Selbstmitleid und Rigorismus (Perversion des Rechts) = Umkehrung von Gerechtigkeit und Erbarmen (= Natur). Statt Mitleid nach innen und Strenge nach außen: Strenge nach innen und Mitleid nach außen.

    – Natur und Welt gibt es nur im Kontext der Autonomie (der Selbstbegründung des Wissens): die Leugnung der Offenbarung verstellt den Blick auf Schöpfung und Erlösung.

    Theologie konstituiert sich in der Kritik der Konstellation von Natur, Welt und Subjekt.

  • 23.10.90

    Der Mythos ist in der Antike durch die Opfertheologie, im Mittelalter durch die Islamisierung ins Christentum eingewandert (Beziehung zum Schicksal!).

  • 22.10.90

    Vgl. Lot’s Weib und das „vos estis sal terrae“ mit der antiken Beziehung von Salz und Gemeinschaftstreue (J.E., S. 220ff).

    Hat die Wahl des „achten“ Tags als Herrentag etwas mit David (dem achten Sohn des Isai) und/oder Octavianus (Augustus) zu tun (J.E., S. 248)? Ist der Herrentag ein Königs-/Kaisertag?

    Trinitätslehre, Symbolum und Genealogie? (Historischer Stellenwert der Genealogie, Kenntnis der Vaterschaft, Vergegenständlichung der Vergangenheit, Beziehung zu Zeugung und Tod; Genealogie und Herrendenken; die Form der Trinität ist in der genealogischen Struktur vorgebildet, gleichsam deren allgemeines Wesen; Vater-Sohn-Beziehung und Patriarchat; Frauen kommen weder in der Genealogie noch in der Trinität vor (vgl. Theweleit: Männerphantasien); Zeugung und Bekenntnis; Heiliger Geist und Leugnung der Mutter; biographische Vergegenständlichung, Opfertheologie und Instrumentalisierung der Theologie).

    Welche Frauen erscheinen in der j Urgeschichte? (Eva, die Frau des Kain – ohne Namen -, die zwei Frauen des Lamech: Ada und Zilla, die Schwester des Tubal-Kajin, in der Geschlechterfolge Adams „Söhne und Töchter“, die „Menschentöchter“, die Frau des Noach und die Frauen seiner Söhne, die Geschlechterfolge der Söhne Noachs ohne Nennung von Frauen, in der Geschlechterfolge Sems – nach dem Turmbau? – „Söhne und Töchter“, ab Abraham wieder Frauen mit Namen)

  • 20.10.90

    Bekenntnis und Zeit: Das Bekenntnis vergangener Schuld schließt den Glauben, die Erwartung der Versöhnung, mit ein. Das Bekenntnis ist Ausdruck der Hoffnung, daß der Bann und die Herrschaft der Vergangenheit gebrochen, die Zukunft neu eröffnet wird. Dieses formale Verhältnis ist ohne ein freies, aus dem mythischen Bann herausgetretenes Ich nicht denkbar. Subjekt des Bekenntnisses ist der Liebende. Das Bekenntnis setzt Angstfreiheit: die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, voraus, denn jede Angst verstört und vergiftet das Bekenntnis wie auch die Liebe. Bekenntniszwang, der die (Schuld-/Straf-) Angst als Mittel gebraucht, ist Liebeszwang, Vergewaltigung: er ist obszön. Seine Grundlage ist das Selbstmitleid, die Unfähigkeit zu lieben und das Bedürfnis, geliebt zu werden (die Unmündigkeit, das Nicht-erwachsen-Sein). Das Ziel des Bekenntnisses: die Versöhnung, hat Teil an der zeitlichen Struktur des Ewigen. Der Bekenntnisfähige ist nicht mehr kränkbar; die Grundlage der Kränkbarkeit ist die verdrängte, unaufgelöste Schuld, an die nicht gerührt werden darf. Das Bekenntnis ist die Innenseite des Gebots „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“; dieses Gebot wird durch das Zwangsbekenntnis verletzt.

  • 18.10.90

    Zum Zusammenhang von Zeugung, Pneuma, „Zorn“, Logos (richtendes Wort = schaffendes Wort? – Schöpfung durch den entladenden Akt des Zorns? – der Gezeugte, der Sohn = Manifestation des göttlichen Zorns, sitzend zur Rechten des Vaters, des Gerichts?) vgl. J. Ebach: Weltentstehung und Kulturentwicklung bei Philo von Byblos, S. 39 (Anm. 49). – Vgl. auch S. 129f (Anm. 22): Umdeutung von Pest (Hab. 3.5) in Logos (LXX), Grundlage für die Logos-Spekulation im Joh.-Evangelium.

    Genealogie und Vergegenständlichung: Wurde geboren, zeugte, lebte noch x Jahre und starb (vgl. das Symbolum!). Die Abstraktionsleistung, die in dieser Aussage steckt, ist kaum zu ermessen; sie schließt die Einsicht mit ein, daß das auch der eigene Lebenslauf sein wird: die Fähigkeit, sich selbst von außen oder als vergangen wahrzunehmen, eigentlich bereits gestorben zu sein (Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ hat hier seine historische Stelle).

  • 15.10.90

    Gemeinheit ist kein Straftatbestand; Bemerkung zum Begriff der Öffentlichkeit: Die perfekte Beherrschung der double-bind-Technik, die Mitleid vortäuscht, wenn sie in Wahrheit den Bemitleideten fertig macht; in der Wunde, die in zivilisierteren Zeiten aus Takt öffentlicher Behandlung entzogen war, mit Genuß und unter dem Beifall aller herumstochert. Heute hat der Tratsch, der zuvor nur hinter vorgehaltener Hand verbreitet wurde, die Grenze zur Öffentlichkeit durchstoßen: die Takt- und die Schamgrenze hat sich im gleichen Maße verschoben, in dem das pathologisch gute Gewissen sich ausgebreitet hat und die Aufmerksamkeit, die Grundlage der Humanität, zu verschwinden droht. Die schlimmste Gemeinheit ist die, die außer dem Betroffenen keiner mehr wahrnimmt. Die Gemeinheit ist nicht justifiziabel. Es ist kein Verteidiger mehr da.

  • 14.10.90

    Zur Pseudonymität der jüdischen Apokalyptik vgl. R.H.Charles (in Koch: Apokalyptik, S. 173ff); Anwendung auf Kabbalah (Apokalyptik/ Prophetie: Mystik/ Rabbinische Tradition).

    Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie: Philosophie ist der verinnerlichte Intimfeind der Theologie; ihre Kritik wird als Selbstkritik, wenn nicht als Nestbeschmutzung erfahren. Es gibt allerdings auch keinen Weg an der Philosophie vorbei, sondern nur durch ihre Kritik (ihre genaueste Kenntnis) hindurch. In dieser neubegründeten Theologie erfüllt sich auch die Philosophie. Das „bis an die Grenzen der Welt“ gilt nicht nur in seiner extensiven (geographischen), sondern auch in der intensiv-qualitativen (geschichtlich-gesellschaftlichen) Bedeutung (im Hinblick auf die fortschreitende Säkularisation).

  • 13.10.90

    „500-Jahrfeier zur Entdeckung Amerikas“ (am 12.10.1992): Was für ein Selbstverständnis Europas steckt hinter diesem Begriff! Amerika als reines Objekt (so ist es dann ja auch behandelt worden), das erst durch „unsere“ Entdeckung (und Namengebung) historisch existent geworden ist. Einem ganzen Kontinent und seinen Bewohnern (ähnlich Australien) wird der eigene Name vorenthalten. Die „Indianer“ als reines Material der Geschichte, sozusagen ein natürlicher Rohstoff wie das Gold und die anderen natürlichen Rohstoffe des Landes, die uns auch erst seit der „Entdeckung Amerikas“ zur Verfügung standen. Im Namen dieser Feier lebt der Kolonialismus fort, verdrängt wird, daß auch die vorkolumbianischen „Amerikaner“ (die „Indianer“) Menschen waren und sind.

    „Einsatztruppen“: Noch heute „kommen“ Angestellte, Arbeiter, Soldaten „zum Einsatz“, werden „eingesetzt“ wie willen- und subjektlose Schachfiguren: mit dem Privileg, nicht schuldig werden zu können, da sie ja keine Subjekte (d.h. nicht verantwortlich) für die Bedingungen und den Auftrag ihres „Einsatzes“ sind. Sie sind subjektlos wie die Toten, die Helden der Vergangenheit und die personae der abgebildeten, verdoppelten Welt der Kunst (Schauspiel, Roman, Film). Über sie wird wie über den Gegenstand ihres Tuns: die äußere Natur, die verwaltete und die nichtzivilisierte (vor allem die außereuropäische) Welt verfügt. – Zur Dialektik der Schuld allerdings gehört es, daß das „Nicht-schuldig-werden-Können“ eins ist mit dem Zustand der absoluten Schuld, der Ver-worfenheit (mit der übrigens Heideggers „Geworfenheit“ nicht nur sprachlich zusammenhängt: ähnlich wie Gewalt mit Verwaltung).

    Ursprung des Bekenntnisses im Martyrium; Umkehrung und Vergeistigung nach Enttäuschung der Parusieerwartung: Privatisierung, falsche Politisierung. Das Zwangsbekenntnis ist ein erpreßtes Liebesbekenntnis, die Bekenntnisforderung Ausdruck des Sich-ungeliebt-und-deshalb-schuldig-Fühlens (Gott hat sein Versprechen nicht gehalten?), mangelnder Liebesfähigkeit (Selbstmitleid), des Rechtfertigungsbedarfs. Wer das Bekenntnis fordert, sucht die Bestätigung, daß die Schuld nicht wahrgenommen wird, daß sie nicht öffentlich wird, daß sie unten bleibt. Das Zwangsbekenntnis ist Teil der kirchlichen und später auch der staatlichen Verdrängungsmechanismen, ihrer autoritären Strukturen, die durch dieses religiöse System hindurch sich erhalten. Ausdruck der Herrschaft über die Gewissen der Gläubigen oder der Untertanen.

  • 12.10.90

    Der Bekenntniszwang unterstellt die Identität von Denken und Handeln. Geäußerte Anschauungen sind aber nur noch als Vorurteile direkt handlungsbestimmend. Ihr Stellenwert ist mehr durch Rechtfertigungszwänge als durch ihren objektiven Wahrheitsanspruch bestimmt. Die Konstruktion der Gesellschaft verlegt das Selbstwertgefühl immer mehr in irrationale Bereiche. Das Verhältnis zur Wahrheit ist vollständig verwirrt. Sprachregelungen ersetzen Informationen und verhindern sie. Die bekenntnisorientierte Ketzerjagd trifft deshalb fast grundsätzlich schon die Falschen: die letzten Wahrheitssucher. (Genauer: Warum gibt es kein „wahres Bekenntnis“ mehr?) Geschichtsphilosophische Änderungen der Struktur und des Stellenwerts von Bekenntnissen. Öffentliche Bekenntnisforderungen haben mit der Wahrheit nichts mehr, umso mehr dagegen mit Unterwerfungsgesten zu tun. Geschichte des Bekenntnisses von der Homousia bis zum Radikalenerlaß.) Bezeichnend, daß Argumente nicht mehr widerlegt zu werden brauchen, sondern einfach verschwiegen, unterdrückt werden. Probleme sind allemal dezisionistisch zu lösen; Argumente haben nur noch Alibifunktion.

    Das Bekenntnis ist notwendig in einer Welt, in der es fürs verdinglichte Bewußtsein einen anderen Halt oder Schutz außer dem, den die Gemeinschaft bietet: die Kirche, das Volk, der Staat, nicht mehr gibt. Das Bekenntnis ist Ausdruck der Kälte und der Hoffnungslosigkeit, zu deren Inbegriff die Welt geworden ist. Das Bekenntnis, daß Jesus Gottes Sohn und selber Gott ist, hatte vielleicht einmal Bedeutung, als es noch Ausdruck des substantiellen Glaubens und der realen, auf den Zustand der Welt bezogenen Hoffnung war, daß seine Lehre und sein Leben den Ausblick auf ein Leben in Gerechtigkeit eröffnen. Von seiner Realitätsbezogenheit getrennt ist dieser Glaube zu einem abstrakten Zeichen geworden, das nur noch ein ebenso abstraktes wie verhängnisvoll wirksames Gemeinschaftsgefühl vermittelt (Bindung durch scheinhafte Exkulpation; Regression auf eine magische Stufe unter den Bedingungen von Zivilisation, durch Erzeugung der Ängste, die sie aufzuheben vorgibt; Wiederholungszwang, der durch Selbstverstärkung, durch Eigenbeschleunigung in einen gleichsam chaotischen Wirbel, eine panikauslösende und -verstärkende Situation hineinführt; eine Situation, die nur scheinbar durch das Bewußtsein, von einer „höheren Macht“ getragen zu sein, zu ertragen ist).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie