November 1990

  • 14.11.90

    Zur Verweigerung der Haftverschonung für Frau Isabel Jacob:

    Ich meine, es wird Zeit, endlich auch einmal darauf hinzuweisen, daß der „Terrorismus“ nicht nur als Angriff auf den Staat, sondern ebenso auch als Produkt der Verzweiflung an den moralischen Problemen dieses Zeitalters, als Ausdruck einer Sensibilität sich begreifen läßt, die keinen anderen Ausweg mehr sieht.

    Die paranoide Reaktion auf den Terrorismus gehört mit zu den Ursachen seines Weiterbestehens, seiner Reproduktion.

    Nicht Wut, sondern Trauer (die die Kraft der Identifizierung auch mit dem Täter mit einschließt) wäre angemessen und notwendig; das allgemeine Bekenntnis gegen den Terrorismus wird nur von denen gefordert, die ihres eigenen Urteils nicht ganz sicher sind und deshalb der kollektiven Absicherung durch das Bekenntnis der anderen bedürfen. Moralische Souveränität hat zur Voraussetzung, daß das Urteil über die Tat die Empathie mit der Person und seiner Intention und den Bedingungen seines Handelns nicht ausschließt.

    Nicht zufällig erinnert die Wut, mit der der Terrorismus verfolgt wird, an die Wut des Antisemiten (Sympathisanten hießen damals Judenfreunde); die Ursachen sind in der Tat vergleichbar: verfolgt werden nicht die Taten, sondern mit ihnen das, woran sie erinnern: beim Antisemitismus das Gewissen, und beim Terrorismus die verdrängte Schuld der Vergangenheit, der rechtfertigungsbedürftige Wiederholungszwang in der Gegenwart (die zweite Schuld).

    Die Zerstörung des Gewissens ist gelungen. Indiz ist der praktische Atheismus auch der Religionen heute; die verwirrte conscientia derer, die den Umgang mit dem Gewissen nicht mehr gelernt haben. Recht als Gewissensersatz ratifiziert nur die Zerstörung der Gewissen, ist die Ursache und die Folge der Verwirrtheit; es macht die Dinge noch schlimmer. Heute hat das Recht im Terrorismus sein von ihm nicht mehr zu trennendes Objekt, in dessen Verfolgung es weniger den Terrorismus als vielmehr sich selber zerstört. (Der Terrorismus ist das apriorische Objekt des richtenden Urteils, das durch Kompetenzverteilung des Gewissens sich entledigt hat und deshalb paranoid geworden ist.)

    Die Dinge aus dem Teufelskreis herausholen, die Probleme wieder diskussionsfähig zu machen, anstatt sie als „anschlagsrelevante Themen“ im vorhinein zu kriminalisieren.

    Kein Zufall, daß schließlich auch die Verteidiger Über das Konstrukt „Organ der Rechtspflege“ in Hilfs-„Staatsanwälte“ umfunktioniert wurden.

    Es gibt eine Hysterie, die glaubt, nur die Gesetze anzuwenden, und nicht merkt, wie parteiisch sie ist.

    Isabel Jacob möchte nicht auf den psychosomatiche Aspekt der Sache sich beziehen, da sie fürchtet, dann u.U. psychiatrisiert zu werden (Alternative Knast/Anstalt).

    Die Gemeinheit hat kein Bewußtsein über sich selbst (hätte sie es, wäre sie’s nicht): deshalb ist sie vor der Vernunft wie vor dem Strafrecht unfaßbar.

    Würden die Regelungen im Zusammenhang des 129 a auf die größte terroristische Vereinigung, die es je in Deutschland gegeben hat, angewandt worden, die Mehrheit der Bevölkerung säße in Isolationshaft.

  • 11.11.90

    Staat und Gesellschaft verhalten sich wie Welt und Natur. Das Bekenntnis begründet die Welt über ihre Beziehung zum Staat (die Polis, den Kaiserkult, die Trinitätslehre).

    Komitee für Grundrechte und Demokratie: Wider die lebenslange Freiheitsstrafe. – Was richtet diese Gesetzesregelung bei denen an, die sie anwenden müssen (bei Staatsanwälten, Richtern und Vollzugsbediensteten, nicht zuletzt aber bei dem Volk, in dessen Namen die Anwendung erfolgt)? Welche Verdrängungsleistungen müssen erbracht und abgesichert werden, um die Folgen des eigenen Handelns vor sich selbst zu verbergen; welche Entsühnungsrituale sind notwendig, um mit der Schuld im Angesicht des Schicksals der Strafgefangenen überhaupt leben zu können?

    Gemeinheit ist strafrechtlich nicht faßbar, und deshalb nicht strafbar: wird sie nicht zwangsläufig produziert, wenn es keine kritische Distanz zum strafrechtlichen Schuldbegriff mehr gibt (Ableitung der juristischen Niedertracht aus der Logik der Strafkompetenz; das letzte Argument des Rechts ist das staatliche Gewaltmonopol, die Polizei)? Sind wir, das Volk, nicht mitschuldig an dem, was den Opfern und den Tätern im Bereich der Strafverfolgung und des Strafrechts heute „im Namen des Volks“ angetan wird?

    Politik als straflose Einübung der Gemeinheit, der Häme; Wahlkämpfe sind zu Konkurrenzkämpfen der Gemeinheit geworden – im gleichen Maße, in dem sie scheinbar harmlos, unpolitisch geworden sind; Gemeinheit als Erfolgsgarantie; Stellenwert und Funktion der Öffentlichkeit – BILD, Regenbogen-Presse, FAZ nützen die Straflosigkeit der Gemeinheit bis an die Grenze des rechtlich Möglichen aus.

  • 06.11.90

    Freiheit definiert sich nicht im Gegensatz zur Macht sondern zur Schuld (gegen den Rechtfertigungs- und Wiederholungszwang). Grundlage ist nicht die Unschuld, sondern die Versöhnung.

  • 04.11.90

    Bekenntnis und Philosophie: mit der Rezeption der Philosophie in die Theologie ändert sich u.a. der Begriff der Schöpfung; der Begriff einer Schöpfung aus Nichts setzt voraus, daß die Schöpfung sich auf die Welt bezieht, die Welt Produkt der Schöpfung ist. Das berührt auch den Gottesbegriff (hierauf bezieht sich der gnostische Schöpfungsbegriff: der Schöpfer der „Welt“ ist in der Tat ein böser Demiurg: die Gnosis plaudert das Geheimnis dieses Theologumenons aus). Vermittelt ist die Rezeption durch den Logos-Begriff. Das magische Wort-Verständnis ist der Vorläufer des begrifflich-technischen; es hat sein Korrelat im Bekenntnis.

  • 01.11.90

    Wichtiger Hinweis (Christina von Braun: Nicht-Ich), daß zum Patriarchat die Vergeistigung der Vaterschaft und die Leugnung der biologischen Vaterschaft gehört. Nur bleibt es leider bei einer gleichsam geistesgeschichtlichen Darstellung (patriarchales Erbe), die Verflochtenheit in den historischen Prozeß wird ausgespart.

    „Es handelt sich nicht um eine Verschmelzung mit der Natur, sondern um ein Bekenntnis zur Natur.“ (Definition des Matriarchats, CvB, S. 90) – Frage: Gab es vor Beginn des Patriarchats eine „Natur“? Ist nicht der Naturbegriff der Strick, der das Konzept ins Patriarchat wieder einbindet (gibt es den Naturbegriff außerhalb des Zusammenhangs der Naturbeherrschung)?

    Ist nicht der Gegensatz von „spiegelbildlicher“ und „projektiver“ Vorstellungswelt ein Gegensatz im Patriarchat, unter den Bedingungen des Patriarchats, und nicht gleich dem Gegensatz zwischen P. und M.? – „Die Utopie ist der ’spiegelbildlichen‘ Vorstellungswelt konträr“ (S.91ff): sie ist zugleich deren Voraussetzung (das Vorhandene ist das Zuhandene). Der Gegensatz bleibt innerhalb des gleichen (patriarchalischen) Bezugsrahmens. Konsequenz ist ein dezisionistischer Wahrheitsbegriff („Weltanschauung“, „Weltbild“).

    Die Kritik der Theologie (2. Kap.) ist im schlechten Sinne spekulativ (Folge des dezisionistischen Wahrheitsbegriffs).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie