Dezember 1990

  • 28.12.90

    Das Bekenntnissyndrom vollendet sich in der Wertphilosophie und im damit verbundenen Personalismus. Nicht zufällig ist Scheler einmal katholisch geworden, hat seine Philosophie in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine bestimmte Form der philosophischen Adaptation des Katholizismus geprägt. Hier wurde die Spitze der Remythisiserung erreicht: der Punkt, an dem die Umkehr hätte erfolgen müssen. Die versäumte Umkehr fand dann ihren präzisesten Ausdruck im fundamentalontologischen Höllensturz, in dem insbesondere der Personalismus sich als nicht haltbar erwies und völlig einbrach (Geworfenheit des Daseins, seine Verfallenheit an das Man).
    Nach Scheler ist der Mensch als Person Gegenstand der Ethik. Seine „aktiv transzendenten Akte (Gesinnung, Wille, Handlung)“ unterliegen dem Werturteil: Deshalb ist die Person „Wertträger“ (vgl. N. Hartmann: Ethik, S. 227ff). Diesen objektiven Zusammenhang (der Werturteile) denunziert Heidegger später als den des Geredes. Als Person begreift das Subjekt sich selbst (und andere) als Objekt des Urteils anderer, es sieht sich selbst durch die Augen der anderen (als Gegenstand des Geredes). Im Zusammenbruch der Wertethik trat die Gemeinheit dann offen zutage, die die Wertethik (als Theorie der Urteile, die hinter dem Rücken der Betroffenen über sie gefällt werden) noch scheinbar harmlos vorbereitet und verbreitet hat. Die Instrumentalisierung der Wertethik ist der Faschismus (Vermeidung des offenen Gesprächs, Denunziation, Informationen und Urteile als Mittel der Intrige etc.: Inbegriff/System der Gemeinheit, in deren Konsequenz der Mord liegt). Person ist das vorbezeichnete Objekt des Rechts und der Verwaltung: bis hin zur Liquidierung.
    Person, Bekenntnis, Antisemitismus: Jedes Bekenntnis bekommt Gewicht erst dadurch, daß sich gleichsam die Person selbst in die Waagschale wirft; mit dem dohenden Hinweis: wer das Bekenntnis angreift, greift mich, die Person, an („Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“). So wird das Bekenntnis unwiderlegbar, aber um den Preis der Unbelehrbarkeit (vgl. Sartres Portrait eines Antisemiten).

  • 27.12.90

    Rosenzweigs Kritik der philosophischen Unsterblichkeitslehre hängt mit seiner Kritik des All aufs engste zusammen: Die Unsterblichkeitslehre gewinnt ihre Plausibilität, ihre falsche Verständlichkeit vor dem Hintergrund der überzeitlichen Geltung der philosophischen Begriffe (die nicht wie die endlichen, kontingenten Einzeldinge in der Zeit sterben, zugrundegehen). Das Bindeglied, das dem Einzelsubjekt den Status des Begriffs gibt, ist der Begriff der Person, an den die Unsterblichkeitsvorstellung sich anschließt. Wie überhaupt die Unsterblichkeitsvorstellung mit der philosophischen Lehre vom Begriff, die Lehre von der Auferstehung hingegen mit der theologischen Namenlehre zusammenhängt (noch bei Thomas von Aquin leidet die getrennte Seele unter ihrer Trennung vom Leib, sehnt sich nach der Auferstehung).
    Naturbegriff und Akkusativ: Das Ergebnis des Objektivationsprozesses, durch den die Natur zum Inbegriff der Subjektlosigkeit geworden ist, hat insbesondere zwei Konsequenzen:
    – die Ausdehnung der Verantwortung vom individuellen Handeln aufs Schicksal der Welt und ihre Verlagerung ins Subjekt; auf die Natur kann sich niemand mehr zum Zwecke der Exkulpierung herausreden (auch nicht durch sozialdarwinistische Konstrukte);
    – zugleich macht die Subjektlosigkeit den Anklagestatus gegenstandslos: die Natur ist aus dem Akkusativ herauszunehmen (Akkusativ und double bind: es ist gerade die Unschuld der Natur, die sie absolut schuldig macht: es ist ihre Verdinglichung, die sie zum Objekt der Verwertung macht; nicht zufällig wurde die Melancholie als Kreativitätsquelle entdeckt, als die Voraussetzungen für die Verdinglichung der Welt geschaffen wurden – Zusammenhang von Melancholie und Hysterie?).

  • 26.12.90

    Der nominalistische „flatus vocis“ hat in der Tat zwei Konnotationen: den Hauch der Stimme, der auch den lebenschöpfenden Gottesatem und den Geist repräsentiert, wie den anderen Flatus, den Drewermann der Genesis-Stelle unterlegt: den Furz. Gegen die Drewermannsche Konsequenz (die das Verdienst hat, den blasphemischen Charakter der Begriffs-Theologie endlich auszusprechen) ist aber auch daran festzuhalten, daß die nominalistische Realismus-Kritik den Weg freigemacht hat zu einer neuen, dem theologischen Erkenntnisbegriff endlich angemessenen Namenslehre: zum parakletischen Denken. Erst jetzt ist begreiflich zu machen, was mit der Sünde wider den Heiligen Geist gemeint ist.
    Durch die Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip wird das Geld zu geldheckendem Geld (Kapital), gewinnt es die Potenz der Fortpflanzung, der Selbstvermehrung (Zeugungskraft?). Das Geld pflanzt sich im Warenkosmos ähnlich ins Unendliche fort wie -seit der kopernikanischen Wende – der Raum in der Natur: die unendliche Ausdehnung des Raumes ist identisch mit der unendlichen Ausdehnung des Trägheitsprinzips, sie repräsentiert (und ist der Vorgriff auf) die Unterwerfung der Welt unter die Herrschaft des Tauschprinzips. Das Jesus-Wort: Ihr könnt nicht zwei Herren dienen, Gott und dem Mammon, anwenden auf die Trinitätslehre. (Preisfrage: Was hat die Physik mit der Sexualität zu tun?)

  • 25.12.90

    Was haben Ich und Auge, I und Eye, Ego und Oculus miteindander zu tun?
    Heideggers „Dasein“ (beachte die Zweideutigkeit des „Sein des Da“) macht genau das Objektsein, Prinzip der Verdinglichung, zum Zentrum seiner Philosophie. Subjektivität als Projektion, was einmal mit dem Personbegriff begonnen wurde, kommt hier zum verdienten Ende. Das „Dasein“ ist (wie die Person) Sein für Andere. Der Trick besteht darin, ein Satz-Subjekt zu finden, zu dem es prinzipiell ein Prädikat nicht mehr gibt (dazu gehören insbesondere das Sein und das Dasein): die Frage an sich (die Seinsfrage, die deutsche Frage, die jüdische Frage). Wer dieses Spiel nicht mitmacht, hat den Ernst der Frage (nicht einer bestimmten Frage: die fällt unters Verdikt des metaphysischen Denkens, sondern der Frage, die sich in ihrer eigenen objektlosen Struktur, dem Grund der objektlosen Angst, verstrickt) nicht begriffen. Heidegger kritisiert (destruiert?) die Metaphysik (als Gesetz der Vergegenständlichung) mit ihrem eigenen Prinzip. Das ist eine „Überwindung“, die unvermittelt und ausweglos -Heidegger würde sagen: je schon – dem, was sie überwunden zu haben vorgibt, verfallen ist.
    Bubers Bemerkung, mein Brief habe ihn „personhaft“ berührt, hatte in mir unüberwindlich ambivalente Reaktionen ausgelöst: Ich empfand sie sowohl als Lob wie als Beleidigung.

  • 24.12.90

    Information als Unterhaltung: Fernsehnachrichten und BILD-Zeitung kommen darin überein, daß sie Informationen nicht nach ihrem objektiven Stellenwert, sondern nach ihrem Unterhaltungs- oder Sensationswert (Empörungsreiz) beurteilen. Der Begriff der Sensation erinnert nicht zufällig an den erkenntnistheoretischen Begriff der Empfindung (des sinnlich Gegebenen: nach Kant des chaotischen Materials, aus dem die transzendentale Logik die Urteile fertigt, durch die es Teil der Erfahrung wird). Diese Sensationen (die im Unterhaltungsbereich „Erlebnisse“ heißen) konstituieren sich erst im Kontrast zur transzendentalen Logik, nach Abzug ihres Erfahrungsgehalts, der nur als Kommentar, als Meinung zugelassen ist. Der Begriff der Sensation setzt die Unterscheidung von Tatsache und Meinung voraus und widerlegt sie zugleich. Die Ideologie, die geheimen Zusatzinformationen, die mit transportiert werden, resultieren aus dem ersten Gebot der Unterhaltungsindustrie: der Zuschauer/Leser darf aus der passiven Rolle nicht herausgerissen werden, er darf nicht (jedenfalls nicht politisch) zum Handeln verführt werden: die Fakten müssen so zubereitet werden, daß sie zur Entlastung des Zuschauers/ Lesers von dem moralischen Druck, den jede ungefilterte Information heute erzeugt, beiträgt: d.h. sie muß den Mechanismen der Schuldverschiebung, den Sündenbockmechanismen, mit einem Wort: dem Vorurteil das Feld überlassen. Bezeichnend das Interview mit einem Tagesthemen-Moderator der ARD in einer Unterhaltungssendung zum Jahresende 1990 (in der kritischen Phase der Golfkrise, über die der Interviewte täglich berichtete). Auf die Frage nach seinem zentralen Wunsch für das Neue Jahr: Er hoffe, daß es ihm endlich gelinge, das Rauchen aufzugeben.
    Zusammenhang zwischen zweiter Schuld und dem Verschwinden der Schamgrenze, die das Private, den Intimbereich von der Öffentlichkeit trennt (BILD, Werbung, Fernsehen, Bedeutung der Familienserien, Gestaltung der Wohnungen: die Privatisierung der Politik und die Politisierung des Privaten; das unaufhaltsame Vordringen der Gemeinheit).
    Der deutsche Begriff für Sexualität: das Geschlecht, das Geschlechtliche (auch die Geschlechter, z.B. die Genealogien? Zusammenhang mit der Trinitätslehre, der Zeugung des Sohnes?) scheint vom Ursprung her mit dem der Scham zusammenzuhängen. Das Geschlecht wäre demnach die Hypostase des Schlechten, des Verurteilten, das apriorische Objekt der Scham. Verletzt die Trinitätslehre die Schamgrenze Gottes?
    Zur Trinitätslehre: Umkehrung der Vater-Mutter-Sohn-Beziehung? Der Beistand (das Mütterliche) geht aus dem Vater und dem Sohne hervor und wendet sich nach außen, während im traditionellen Familienkonzept die Mutter dem Mann und den Kindern „Beistand“ ist, der empathische Anwalt, der alles versteht (auch den richtenden Vater).

  • 23.12.90

    Letzter Auftrag: „… und ihr werdet meine Zeugen sein … bis an die Grenzen der Erde“ (Apg. 18, direkt anschließend „wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken“). Kopernikus und dann insbesondere Newton haben kraft der Verknüpfung von Inertialsystem und Gravitationsgesetz die „Grenzen der Erde“ bis in die Himmel ausgedehnt (durchs Gravitationsgesetz wurden Himmel und Erde in ein einheitliches Universum umgeformt, der Himmel zum Verschwinden gebracht: mit dem Himmel die sinnliche Welt ins Innere, ins Subjekt zurückgenommen; das neue Einheitsprinzip des Universums war das Inertialsystem, eigentlich das Tauschprinzip).
    Christina von Braun: „… wie sehr die völkische Blutmythologie eine Form von säkularem Christentum darstellt.“ (Die schamlose Schönheit des Vergangenen, S. 106)
    Licht und Schwerkraft: Repräsentationen von Zukunft und Vergangenheit (Werden und Vergehen) im Objekt. Das elektromagnetische Feld ist Produkt der Projektion des Lichts ins Gravitationsfeld (seiner Subsumtion unter die Vergangenheit)? Und die träge/ schwere Masse Ausdruck der Herrschaft der Vergangenheit? Die Masse hat keine Ausdehnung!

  • 22.12.90

    Empörung schneidet jedes weitere Argument ab, gibt zu verstehen, daß der Empörte von diesem Punkt an sich selbst (seine Person) in die Waagschale wirft und nicht mehr mit sich reden läßt (vgl. Sartres Portrait eines Antisemiten). Empörung ist vergeistigtes „Martyrium“, zeigt die verzerrten Züge des „Bekenners“: Diese Empörung steht der Frau nicht zu (wird hier als Hysterie diffamiert); ihr bleibt nur der Ausweg der biologischen Unschuld: die Jungfrauenschaft. Empörung ist das säkularisierte Bekenntnis (und zugleich das aktive Bekenntnis zur Welt). So ist der Antisemit der letzte Nachfahre des Bekenners (und Vorbote des Antichrist: sein Bekenntnis drückt sich aus im apokalyptischen Zeichen des Tieres). Die confessio und die virginitas sind komplementäre Formen der christlichen Selbst- und Weltverleugnung, der mißlungenen Umkehr (in der das Selbst und die Welt aufgehoben, erhalten bleiben). Mißlungen deshalb, weil die Selbst- und Weltverleugnung selber bereits Folgen der Anpassung an die Welt (der Identifikation mit der Welt als selbstlosem Aggressor: Vorlaufen in den Tod) sind.
    Empörung instrumentalisiert die Moral und begründet so den modernen Naturbegriff.
    Bekenntnis und Messianismus: Gegenstand des Bekenntnisses ist der Name des Messias (der dann nur noch als quasi Familienname des Jesus Christus verstanden wurde). Der autoritäre Charakter erträgt es nicht, wenn dieser Name nicht sein Name (in notwendiger Verbindung mit einer der weltlichen Derivate des Messianischen: der Nation oder des Markennamens) ist. (Die Befreiung von dieser Säkularisation des Messianischen oder von der Neid-Beziehung auf das Messianische wäre die Entkonfessionalisierung.) Die tiefe Ambivalenz der Rezeption der Lehre vom mystischen Leib Christi, die ohne den Begriff der Nachfolge direkt in die Barbarei regrediert, in der Ära des Faschismus hängt hiermit zusammen.
    Bekenntnis = confessio, homologia.
    Adornos Bemerkungen „zum Ende“ auf die Heideggersche Philosophie anwenden.
    „Auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur lautet heute das Credo der Leute von Welt: […] „Ich glaube an die Natur und glaube einzig an die Natur (und das hat seine guten Gründe). Ich glaube, daß die Kunst nichts anderes ist und sein kann, als die genaue Wiedergabe der Natur (eine furchtsame und abtrünnige Sekte will die Dinge widerwärtiger Natur, so einen Nachttopf oder ein Skelett nicht zugelassen wissen). Und so wäre denn die Industrie, die uns ein mit der Natur identisches Resultat geben würde, die absolute Kunst.“Ein rächerischer Gott hat die Stimmen dieser Menge erhört. Daguerre ward sein Messias. Und nunmehr sagt sie sich: „Da uns also die Photographie alle wünschenswerten Garantien für Genauigkeit gibt (das glauben sie, die Unsinnigen!), ist die Photographie die Kunst.“ (Charles Baudelaire, zit. nach Christina von Braun: Nicht ich, Frankfurt 1993, S. 441)
    „Was die Photographie ermöglichte, war die Verwandlung der alten, dem Untergang geweihten Natur in ein Kunstwerk. Sie diente nicht so sehr der Wahrung des Untergehenden; auf ihre Weise trieb sie diesen Untergang auch voran.“ (Christina von Braun, ebd.)
    Das Fernsehen befreit den Faschismus durch Verinnerlichung und Vergesellschaftlichung vom Bilde des Führers. Auschwitz bleibt in verwandelter Form erhalten und allgegenwärtig.
    Zum Begriff des Charakters: „Der kommende deutsche Mensch wird nicht ein Mensch des Buches, sondern ein Mensch des Charakters sein. Und deshalb tut ihr gut daran, zu dieser mitternächtlichen Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen. Das ist eine große, starke und symbolische Handlung …“ (Goebbels anläßlich der Bücherverbrennung am 10.05.1933 auf dem Berliner Opernplatz, zit. nach Christina von Braun, a.a.O. S. 445). Heute ersetzt das Fernsehen die Bücherverbrennung (und bildet den Charakter; Charakter das caput mortuum des Geistes -seine nature mort, sein Stilleben).
    Geschichte des Scheiterhaufens: Ketzer, Hexen, Bücher, die Vergangenheit – Vergeblichkeit des Opfers und Wiederholungszwang (Fernsehen: das materialisierte Totenreich oder das Absterben, die Vergängnis des Sehens) – Hegels Philosophie lt. Baader das Autodafe der bisherigen Philosophie – Vergegenständlichung des universalen Verdrängungsprozesses (Abstraktion und Verdrängung).
    Bekenntnis und Symbol (Credo und symbolum): Absterben, Verwesung und Vergiftung des Symbols durchs Zwangsbekenntnis (säkularisiertes Bekenntnis) – Verwandlung des Symbols ins Bild (Bedeutung des Bilderverbots!) – Reklame und Propaganda – das Zeichen des Tieres.
    Name und Begriff: Während der Begriff Ausdruck der Herrschaft über das Objekt (Befreiung von Angst durch deren Verdrängung durch Depotenzierung, Entmächtigung des Objekts), ist der Name Ausdruck der Anerkennung des Leidens (der passio, des Selbstgefühls): Befreiung von Angst durch deren empathische, parakletische Aufarbeitung. Voraussetzung ist, daß das Tabu über die Angst (die Gottesfurcht) aufgehoben, ihre Verdrängung nicht mehr notwendig ist.
    Das letzte Bekenntnis wird ein Schuldbekenntnis sein.

  • 20.12.90

    Verführung durch den positiven Naturbegriff (das „Zurück zur Natur“ ist die Regression in die Barbarei): Vorstellung eines Grundes, auf dem alles aufruht, unzutreffend; das Widerständige, Böse ist nicht von außen in eine an sich heile Natur hereingekommen und kann deshalb durch menschliche Praxis, durch wissende Veränderung auch nicht eliminiert werden; die Vorstellung, daß die Welt danach wieder in Ordnung wäre, ist Ideologie. Völlige Veränderung der Perspektive, wenn begriffen wird, daß die Hypostasierung der Natur Produkt einer (paranoiden) Projektion ist (Humes Kritik der Kausalität und des Dingbegriffs sowie in seiner Nachfolge die positivistische Kritik der Äther- und Molekulartheorien wurden deshalb so wütend abgewehrt, weil sie an das dogmatische Selbstverständnis und das pathologisch gute Gewissen des wissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs, an die Grundlagen des autoritären Charakters, nicht zuletzt des Antisemitismus, rührten). Heute hätte die Verdinglichungskritik ihr zentrales Objekt an der gesamten Mikrophysik, an der Abwehr aller Versuche, die mikrophysikalischen Strukturen aus dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit abzuleiten: Voraussetzung wäre die präzise Diskussion des mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verbundenen Bewegungsbegriffs; das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit destruiert die Vorstellung eines mit Lichtgeschwindigkeit sich bewegenden Objekts; den mathematischen Strukturen angemessener wäre die mit einer Umkehrung des Richtungssinns verbundene Vorstellung einer Bewegung des Raumes, nicht des Objekts: Korrelat des Falls, der Vergängnis: diese Vorstellung löst auch die Rätsel des Quantenproblems.
    Die Instrumentalisierung ist eins mit der Verdinglichung, der Austreibung der Sinnlichkeit; das gilt für die Dogmengeschichte wie für die Geschichte der Naturwissenschaften. Die christliche Sexualmoral ist die Grundlage für die Entrealisierung und Verdrängung der primären Sinnesqualitäten: Nicht zufällig erinnert der Empfindungsbegriff an den der sinnlichen Lust.

  • 19.12.90

    Empörung macht gemein (macht den Reflexionsfähigen zum Sympathisanten des Feindes, des Objekts, damit selber zum potentiellen Feind und Objekt) und verstellt den Blick. Dem Empörten verschlägt’s die Sprache. Wut, die innehält und der Selbstreflektion Raum gibt, findet die Sprache wieder, wird zum Zorn. Der Bekenntniszwang raubt die Sprache (substitutiert sie durch Sprachersatz), gibt der Empörung das (pathologisch) gute Gewissen. Endpunkt der babylonischen Sprachverwirrung (Petrus schreibt aus Babylon – 1 Petr.). Das Ich im „Cogito ergo sum“ ist nicht das individuelle des Rene Descartes, sondern das kollektive des Idealismus. Unter Folter sagt der Angeklagte, was der Ankläger/Ermittler hören will (was in sein System paßt). Für die Naturwissenschaften ist das Freund-Feind-Denken ein erkenntnistheoretisches (transzendentallogisches) Apriori; Resultat des Objektivationsprozesses ist die Unterwerfung eines Feindes (und der Erkenntnisprozeß selber trägt paranoide Züge: die Hypostasierung der Natur ist das Ergebnis einer Verschwörungstheorie und der Grund ihrer selbstzerstörerischen Konsequenzen; er wird stabilisiert durch Identifikation mit dem Aggressor: Genese des transzendentalen Subjekts). Gefängnisse als Installationen zur Reproduktion des Klimas der „zweiten Schuld“: Was in den Gefängnissen passiert, wird ebenso wahrgenommen und verdrängt zugleich wie die Kenntnisse von den KZ’s während der Nazizeit (und die der Verhältnisse in der DDR bis vor einem Jahr – jeder weiß, was los ist, und alle blicken weg). Das pathologisch gute Gewissen wächst auf beiden Seiten (seitdem es keine angemessene Beziehung der Strafe zur Tat mehr gibt). Keiner hat die Chance, die doppelte Schuld (die der Tat wie die der Bestrafung) wirklich aufzuarbeiten. – Alle Probleme des Einigungsprozesses werden unlösbar wegen ihres Zusammenhangs mit der zweiten Schuld und der Verblendung.

  • 18.12.90

    Bekenntniszwang, Wut und Selbstmitleid, oder über das Verhältnis des Bekenntnisses zu den Formen der Anschauung (zum Inertialsystem): Das Zwangsbekenntnis befreit, erlöst den Bekennenden ebensowenig wie die Arbeit die unbearbeitete Natur, das rohe Naturobjekt; er erzwingt vielmehr die Anpassung und eine mittlerweile unerträgliche Verdrängungsleistung, die die Grundlage war für die Einbeziehung der Menschen in den Zivilisationsprozeß. Ausdruck und Folge dessen ist die selbstzerstörerische oszillierende Mischung von Wut (nach außen) und Selbstmitleid (nach innen), die die Grundlage bilden für die massenhafte Verbreitung des autoritären, faschistischen Charakters (Reflex des Inertialsystems im Subjekt). Die Wirkungslosigkeit der gesellschaftskritischen Aufklärung ist begründet in der Unfähigkeit, die Natur in diesen Aufklärungs-und Reflexionsprozeß mit einzubeziehen. Die Relativierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die Einsicht in ihre Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Prozeß, vom Prozeß der gesellschaftlichen Naturbeherrschung (in die das naturbeherrschende Subjekt mit verflochten ist), vermag vielleicht den Bann zu lösen.

  • 17.12.90

    Das Bekenntnis war im Anfang das „Bekenntnis des Namens“. In welcher Beziehung steht dieses Bekenntnis zur „Heiligung des Namens“ (z.B. im Herrengebet, aber auch in der jüdischen Tradition, in der die Heiligung des Gottesnamens besiegelt wurde durchs Martyrium). War dieses Bekenntnis von Anfang an ein Formelbekenntnis? Vor wem wurde es abgelegt? Unterschied zwischen dem Bekenntnis vor dem Verfolger und dem vor der kirchlichen Autorität (seit der Abgrenzung von der Häresie; im Rahmen der Dogmenentwicklung: Identifikation mit dem Aggressor)? Seit wann gibt es das Taufbekenntnis? Bei Augustinus war die Aushändigung des Symbolums bei der Taufe noch ein Sakrament; wann trat an die Stelle der Aushändigung an den Täufling das Bekenntnis des Täuflings (an die Stelle der Gnade die Leistung)? Wer war Subjekt des Bekenntnisses: die Kirche oder der einzelne Christ? War das individuelle Bekenntnis (des Märtyrers, des Confessors) nur ein Derivat des Bekenntnisses der Kirche? – Logisches Äquivalent: der Markenname (ein Teil der „theologischen Mucken“ der Warenform? – ist diese logische Beziehung so zufällig?). Zusammenhang von Trägheitsgesetz/materielles Objekt/Naturbeherrschung, Tauschprinzip/Eigentum/Recht und Bekenntnis/Person/Dogma (Kirche als Herr des Bekenntnisses)? Der Konfessionalismus leugnet die Gnade (und die Gottesfurcht). Das Inertialsystem hat eine andere Bedeutung fürs eigene Zentrum, für den Ursprung des I. (Repräsentant des Subjekts), und für das Objekt, auf das es sich bezieht. Das Relativitätsprinzip drückt nur die Äquivalenz von Subjekt und Objekt aus (ähnlich wie das Tauschprinzip die Äquivalenz von Verkäufer und Käufer, von Produzent und Konsument). Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit verweist auf die Subjekt-Objekt-Differenz im Inertialsystem. In der malerischen Perspektive hat der Betrachter die Unendlichkeit des Raumes im Rücken; und das Zentrum (der Ursprung) des Raumes liegt im Fluchtpunkt der Perspektive: der Betrachter ist demnach nicht Subjekt, sondern Objekt des Raumes. Hierbei ist der Fluchtpunkt, in dem alle zur Blickrichtung parallellen Linien sich treffen, kein Punkt, sondern die zur Blickrichtung senkrechte Ebene im Unendlichen. Wo trifft eine zur Blickrichtung nicht parallelle und nicht senkrechte Gerade diese Ebene? Was liegt hinter dem Fluchtpunkt? Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und das Gravitationsgesetz bezeichnen die Grenzen des Inertialsystems (nach innen: im Verhältnis zum Begriff, zum Subjekt, und nach außen: im Verhältnis zu den Naturobjekten). In welcher Wechselbeziehung stehen Licht und Schwerkraft (Licht als Innenseite der Gravitation)? Stehen die resp. Konstanten in einer rationalen Beziehung zueinander? Das Trägheitsprinzip macht Ungleichnamiges gleichnamig: Die physikalischen Unterscheidungsmerkmale (Masse, Konfiguration der Atome und Moleküle) entspringen bei der Verdrängung der realen Differenzen und sind Produkt der Gleichnamigkeit des Ungleichnamigen.

  • 16.12.90

    Der Personbegriff konstituiert sich durch Neutralisierung der „persönlichen Fürwörter“, durch Verdrängung der Differenzen zwischen Ich, Du und Er; das aber heißt: in der Neutralisierung und Verdrängung des besonderen Schuldverhältnisses (der Grundlage dessen, worauf sich das Nachfolgegebot bezieht, und des Verständnisgrundes des parakletischen Denkens) und durch Konstitutierung des allgemeinen Schuldzusammenhangs (abgesichert durch den Weltbegriff). Person ist das Selbst als Objekt: jemand, über den hinter seinem Rücken gedacht und geredet wird. Der Begriff der Person gehört zu der durchs Tauschprinzip definierten Gesellschaft wie der Pass zum Staat (vgl. Brecht: Flüchtlingsgespräche). Person ist das Objekt der Identifikation (durch den Namen, durchs Bild und durch die individuellen Merkmale). Zusammen mit der Einführung des Personbegriffs in die Theologie (in der lateinischen Variante der Dogmenentwicklung) wurde Christus zum Eigennamen (schon im 2. Petrusbrief werden die Begriffe Soter und Christus zusammen verwendet, der des caesarischen Retters, der den hebräischen go’el verdrängt, mit dem des jüdischen Messias, den er dann neutralisiert, überdeckt und verdrängt: Grund der getrennten christlichen Kaiser- und Königstradition). Physei ist thesei: Seit wann gibt es „die Natur“ als Totalitätsbegriff? In der philosophischen und theologischen Tradition wurde Natur als die von Einzeldingen (bis hin zu den zwei Naturen in Jesus) verstanden, in enger Beziehung zum Wesensbegriff. In der griechischen Philosophie (bei Aristoteles) hatten Bedeutung und Funktion dieses Begriffes die Idee einer ungeschaffenen, mit Gott gleich ewigen Welt zur Voraussetzung. Vorausgesetzt war die klare Trennung von physei und thesei: von Natürlichem (als nicht Geschaffenem) und gesellschaftlich Bedingtem. Der logische Zwang dieser Trennung war über den Ursprung des Weltbegriffs politisch vermittelt (in der Geschichte der orientalischen, ägyptischen, hellenistischen und römischen Staatsidee). Der moderne Naturbegriff dagegen hat das entwickelte Bürgertum zur Voraussetzung. (Das biblische Herrschaftsgebot: Macht euch die Erde untertan, bezieht sich nicht auf die Natur – es ist nicht imperialistisch -, sondern auf die Erde: Es schließt den/die Himmel nicht mit ein; erst das kirchliche Christentum hat versucht, auch den Himmel sich untertan zu machen, und damit die Voraussetzungen für den totalitären Naturbegriff und eine grenzenlose Naturbeherrschung geschaffen.)

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