Dezember 1990

  • 15.12.90

    „Oder wird das All wieder in sich zusammenstürzen, so daß unsere Nachkommen, gleich einem Astronauten, der in ein schwarzes Loch stürzt, das Firmament buchstäblich auf den Kopf fällt, und ein Feuerball wiederentsteht, wie der, aus dem das Universum hervorgegangen ist.“ (Martin J. Rees: Expandiert das Universum immer weiter? in Lettre International, Heft 11, IV.Vj./90, S. 78) Kann es sein, daß die Theorie des „Schwarzen Lochs“ nur die Tatsache, daß der Himmel in der Nacht dunkel und die Zahl der sichbaren leuchtenden Sterne begrenzt ist (Olberssches Paradoxon), und das Faktum des Firmaments (des tagsüber „blauen Himmels“) erklärt?

    Gegen das periodische System der Elemente und die daraus gezogenen kosmologischen Schlüsse (Weizsäckers Konzept der Entstehung der Sonnenenergie; Vorstellung, daß die gesamte Materie aus der „einfachsten“ Atomstruktur, der des Wassestoffs entstanden sein muß): Stimmt eigentlich die konzeptionelle Voraussetzung der Trennung von Raum, Zeit und Materie (Inertialsystem)? Wird unter dem Begriff der Materie (durch ihre Beziehung zum Trägheitsgesetz) nicht Ungleichnamiges gleichnamig gemacht (wie unter der Herrschaft des Tauschprinzips die Waren im Warenkosmos)? Käme es nicht eher darauf an, das Ungleichnamige wiederzuentdecken? -Die spezielle Relativitätstheorie hat hinsichtlich der Tragweite Vorrang vor der allgemeinen: Sie rührt an den begrifflichen Ursprung, ans transzendentale Apriori der Physik.

    Zur Gleichnamigmachung des Ungleichnamigen: Hier lassen sich vielleicht Aufschlüsse aus der Interpretation der Planckschen Strahlungsformel (der Grenze der molekularen Wärmetheorie) erwarten.

    Das Bekenntnis zu einer Sache war notwendig (und wurde erfunden), als niemand mehr an die Sache glaubte und deshalb die Glaubenden sich der Bestätigung durch andere versichern mußten (das gilt fürs Trinitätsdogma wie für den Sozialismus). Bekenntnisinhalte sind an bestimmte historische Situationen gebunden, dogmatisiert werden sie, wenn sinnwidrig ihre Geltung über den vergangenen historischen Punkt hinaus: wenn ihre überzeitliche Geltung behauptet wird.

  • 12.12.90

    Der Stand der naturwissenschaftlichen Aufklärung und der der polit-ökonomischen Entwicklung sind ein Index für den Stand der „Welt“-geschichte (im Sinne der Geschichte der Welt: der Säkularisation, der Herrschaft). Die Vorstellung, daß die Welt eine statische, in der Zeit sich nicht verändernde Struktur besitze und nur unsere Erkenntnis der Welt sich im Sinne einer immer größeren Annäherung an die Wahrheit sich ändere („fortschreite“), verdrängt den massiven, brutalen Eingriff durch den parvus error in principio, den imgrunde seit je politischen Weltbegriff und die Geschichte der Konzeption des Materie-, schließlich des Trägheitsbegriffs; sie verdrängt das Herrschaftsmoment in der Struktur dieser Welterkenntnis. Und diese Verdrängung ist der Grund für die Blindheit hinsichtlich der Funktion und Bedeutung des Tauschprinzips in diesem Prozeß.

    Eric Voegelin verfällt selbst dem, was er die gnostische Revolution nennt: wenn er den Gnosis-Begriff instrumentalisiert, ihn als Waffe gegen revolutionäre Bewegungen verfügbar macht. Dies ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, daß der Kampf gegen einen Feind (die „gnostische Revolution“ als das „absolut Böse“) zwangsläufig in den Netzen der Identifikation mit dem Aggressor sich verfängt (oder auch: projektive Züge annimmt; das Fatale der christlichen Höllen- und Teufels-Vorstellung liegt in den Konsequenzen der Verletzung des Gebots der Feindesliebe).

    Hobbes‘ These, daß der Friede mit dem Mitmenschen zu den wichtigsten politischen Grundsätzen gehört (Voegelin, S. 212), rührt an einen in der Tat wichtigen Punkt (an den Grund der Notwendigkeit von Gewaltfreiheit): die Welt und die Menschen in ihr stehen in einer Wechselbeziehung, die grundsätzlich den Gebrauch von Gewalt beim Versuch der Weltveränderung ausschließt. Gewalt gehört zu den Konstituentien der Welt und bestätigt und verhärtet sie. Wer Gewalt gebraucht, macht sich mit der Welt gemein, die er zu bekämpfen glaubt. Der einzige Ausweg ist der der Arbeit an der Auflösung des Schuld- und Verblendungszusammenhangs: der Aufklärung. Die Welt gründet in den Köpfen der Menschen (und zwar aller Menschen: der Menschheit), während die subjektiven Konstituentien der Welt zugleich objektive Realität besitzen, unabhängig sind vom Anschauen und Denken der einzelnen Menschen.

  • 11.12.90

    Natur ist ein Weltbegriff (ein Begriff, der vollständig abhängt von den transzendentalen Konstitutionsbedingungen der Welt) und in theologischem Zusammenhang nicht zu gebrauchen. Natur usurpiert den Schöpfungsbegriff, ist mit der Vorstellung eines zweckmäßig (als Vorsehung) handelnden innerweltlichen Subjekts verbunden. Anders wäre Leben (als Teil der Natur – nicht nur unter Bedingungen der Natur) nicht zu begreifen. Dagegen die Vorstellung Horkheimers (in der DdA), daß die Tiere an ein Unglück in der Vorzeit erinnern. – Es ist in der Tat ein Unterschied, ob das Leben als „von der Natur“ hervorgebracht oder unter Naturbedingungen sich entwickelnd vorgestellt und begriffen wird. Die Anwendung des Naturbegriffs auf theologische Gegenstände und Zusammenhänge ist (nach der epochalen Entdeckung Franz Rosenzweigs) nur im Kontext der Umkehr (im besonderen Verhältnis des Mythos zur Offenbarung) möglich.

    Mit dem Radikalenerlaß und mit der späteren Sympathisanten-Hatz begann die mehr oder weniger sanfte faschistische Umkehrung der öffentlichen Meinung in der BRD; seitdem hat dieses moralische Klima (die Kohlsche ingeniöse Konsequenz daraus: das Aussitzen moralischer und politischer Probleme) wirtschaftlich und politisch nur noch Erfolge gebracht und ist dadurch fast unangreifbar geworden. Unangreifbar vor allem auch deshalb, weil es unmittelbar an kirchliche Traditionen (insbesondere der Ketzer-und Hexenverfolgung) anknüpfen konnte.

    Tentari non patitur Deus suos supra id quod possunt. 1 Kor. 1013, 2 Petr. 29, Offb. 210.

    Was bedeutet im NT das Bekennen (homologein) des Namens Jesu? Hat das Bekennen etwas mit der Nennung des Namens im Sinne des Ansprechens, des Aufrufens zu tun?

  • 09.12.90

    Die Reflexion des Bekenntnisses ist das Zentrum der kritischen Selbstverständigung (und Selbstbegründung) des Christentums; sie ist sowohl Inbegriff des Neuen, Befreienden, als auch Ansatzpunkt für die Selbstinstrumentalisierung: Verwandlung in ein Herrschaftsinstrument; Ursprung der Instrumentalisierung der Natur; Zusammenhang mit dem Weltbegriff. – Gegenstand des Bekenntnisses ist das Bekannte? Säkularisation des Bekenntnisses durch die Formen der Anschauung, durch die Mathematik, die in der historischen Auseinandersetzung mit der Natur diese Natur ähnlich repräsentieren wie das Bekenntnis die Kirche. Oder: Das Zwangsbekenntnis leistet am Subjekt die gleiche Entrealisierung und Entsinnlichung wie die Formen der Anschauung (das Inertialsystem) und die daraus abgeleiteten Strukturen der Mathematik an der Natur. Die Person als Träger des Namens ist das Produkt der Zurichtung zum Objekt des Urteils (vom Tratsch übers Recht bis hin zur Theologie), der Instrumentalisierung, der Verwaltung.

    Ebenso wie die Person den individuellen Menschen neutralisiert das Bekenntnis (der vom Wissen getrennte anstatt sein Verhältnis zum Wissen reflektierende Glaube) seinen Gegenstand, seinen Inhalt. Die Person (als Gegenstand hoffnungslosen Wissens) muß sich ihre Taten als feste Eigenschaften zurechnen lassen: wer gestohlen hat, ist ein Dieb, wer gemordet hat, ein Mörder. Nur durch ihr vergangenes Handeln und ihr Leiden kommt die Person zu Eigenschaften, Qualitäten; diese sind Urteile über ihre Vergangenheit. In der Theologie ist es denn auch das Handeln und Leiden, das die Unterscheidung der Personen in der Trinität begründet: der Zeugende und der Schöpfer der Welt ist der Vater, der Gezeugte und in die Welt Ausgesandte (und zur Hölle, zum Ziel des Sündenfalls, Abgestiegene) der Sohn, der von beiden Ausgehende und der das Antlitz der Welt Erneuernde der Hl. Geist (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft; Glaube, Liebe, Hoffnung?). Und am Ende, wenn der Sohn sein Rettungswerk vollendet hat, wird Gott alles in allem sein: werden mit der „Welt“ auch die Personen in Gott untergegangen sein. (Die Trinitätslehre besteht ebenso wie ihr Tradent, das „Welt-„Priestertum und die Hierarchie: die organisierte Kirche, solange, wie die Welt besteht.)

    (Die Welt der Kinder ist die private Welt der Familie. Und für die Kinder ist es auch der Vater, der durch seine außerweltliche Tätigkeit diese Privatwelt gleichsam ex nihilo erschafft, jedenfalls ihr absoluter Herr ist. Nur die Mutter ist in der Privatsphäre physisch anwesend, der Vater ist ihr transzendent. – Das orthodoxe Urteil über die Häresie als Abweichung orientiert sich an diesem Modell.)

  • 08.12.90

    Zusammenhang von Essen („Gericht“), Inertialsystem (orthogonales, gerichtetes System: Bedeutung der „Orthodoxie“), Herrschaft des Tauschprinzips: diese Welt (als Produkt) ist das Gericht. Das Gericht ist, bezogen auf die Dingwelt, der Inbegriff der Vergängnis, der Vernichtung. Arbeit als Befreiung (durch Tod und Auferstehung der rohen Natur) und Exkulpation (Befreiung von Schuld, Selbstverteidigung: Folge des Sündenfalls).

  • 07.12.90

    1 Kor. 1126,29,32: „Sooft ihr dieses Brot esset und aus diesem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er wiederkommt.“ – Zusammenhang von Essen und Gericht. – „Wenn wir jedoch vom Herrn gerichtet werden, dann werden wir gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verdammt werden“.

    ebd. 124-5: Kyrios-Christologie setzt den Geist als Parakleten frei (ein Geist, ein Herr, ein Gott).

    ebd. 141ff: Prophetie: für die Gemeinde; Sprachen reden: für Gott und für sich selbst; Sprachen auslegen: für die Gemeinde.

    ebd. 1522: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle auch das Leben haben.“

    ebd. 1524-28: „…, nachdem er alle Herrschaft, Gewalt und Macht vernichtet hat. … Als letzter Feind wird dann der Tod vernichtet … Dann wird auch der Sohn sich selbst dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, auf das Gott alles in allem sei.“

    ebd. 1556: „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das Gesetz.“ Nach Elaine Pagels (Versuchung durch Erkenntnis, S. 180f) entstammt das griechische Wort für Sünde (hamartia) dem Umkreis des Bogenschießens und bedeutet wörtlich das „Verfehlen des Kennzeichens“. Die Sünde ist somit nicht ein bewußtes und gewolltes falsches Tun, sondern ein Unvermögen, ein Mißlingen. Nur vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Gottesfurcht, was Gnade und was Erlösung bedeutet.

    Zum Hebräerbrief nachlesen, welche Aufgaben, Bedeutung und Funktion der „Hohepriester“ hatte?

  • 05.12.90

    Materialismus als Errettung des Vergangenen.

    Die Virulenz der Gemeinheit gründet in der ebenso realen wie paranoiden Vorstellung, daß, wer überleben will, mit den Wölfen heulen muß: die projektive Vorstellung, daß die Schlechtigkeit in der Welt überwiegt, wird als Rechtfertigung der eigenen Schlechtigkeit verwandt. Gemeinheit ist ein Selbstläufer: Modell des perpetuum mobile (allerdings mit eigenem Entropiegesetz). Das Bessere zieht die Wut auf sich, weil es die Selbstrechtfertigung (das pathologische gute Gewissen) untergräbt. Nicht zufällig sind die Einrichtungen des staatlichen Gewaltmonopols: der Justiz, der Verbrechens- und Kriminalitätsbekämpfung (einschließlich des Staatsschutzes), der Strafermittlung, des Strafrechts und des Strafvollzugs besonders anfällig für dieses paranoide Syndrom (die paranoide Staatsmetaphysik, die beispielsweise in dem Amtstitel des Staatsanwalts sich ausdrückt); hier ist eine besonders virulente Quelle der Gemeinheit (der verfolgenden Unschuld).

    Der Rechtsbegriff in Begriffen wie Menschen- oder Christenrechte verhält sich zu dem des staatlichen und auch des kirchlichen Rechtsinstituts wie der der Offenbarung zu dem des Mythos, wie Befreiung zu entfremdeter Herrschaft. Die Bekehrung des Rechts steht – wie auch die der Christen – noch aus.

    Vgl. Elaine Pagels Ausführungen über die Ausbildung autoritärer Strukturen in der Kirche in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Gnosis (Versuchung durch Erkenntnis). Das proton pseudos war, daß dem gnostischen Versuch einer experimentellen Theologie dogmatische und bekenntnishafte Strukturen und Bedeutung (Anspruch auf gegenständliche, gleichsam physikalische Wahrheit) unterstellt wurden. Die Kirche hat seit Beginn an einem Wahrheitsbegriff festgehalten, der automatisch in den Dogmatismus (und in seiner Folge in die naturwissenschaftliche Aufklärung, in den Prozeß der Naturbeherrschung durch Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Natur): m.a.W. ins Herrendenken, in paranoide Zwänge (Kriterien: Antijudaismus, Ausgrenzung und Verfolgung der Häresien, Sexismus) hineinführte.

    Gilt das Abendmahl nur für die autoritär und hierarchisch organisierte Männerkirche (für eine Kirche, die mit Antijudaismus, Ketzerverfolgung und Sexismus leben muß)? – Zusammenhang mit dem Nahrungsgebot nach dem Sündenfall?

    – Brot und Wein

    . Brot, Gen. 319, Joh. 622-66, Lev. 2626, Ps. 10516, Ez. 416, Ex. 121-1316, Joh. 1914, Ps. 7825

    . Brotbitte Mt. 61,

    . Brotbrechen Lk. 2435, Apg. 242,

    . Brotvermehrung, Mt. 1413-21

    . Kana

    – Dornen und Disteln: Gen. 318, Ex. 31ff

    – Abendmahl: Mt. 2617, Mk. 1412, Lk. 227, Joh. 622-66, 657, 131, 151, 1934, Apg. 242, 1 Kor. 1021

    – Melchisedech: Gen. 1418, 2 Sam. 59, Hebr. 71-3

    – Abraham/Isaak: Gen. 221ff

    – Passah/Exodus: Ex. 12

    – Propheten

    – Tempelopfer.

  • 03.12.90

    Ist es gnostisches Erbe, wenn nach dem Ende der Märtyrerzeit das Bekenntnis und die Jungfräulichkeit zu Symbolen der Erlösung (der männlichen und weiblichen Heiligkeit, der Tilgung der Sünde Adams und Evas) werden? – Gehören das Bekenntnis und der Ursprung der christlichen Sexualmoral zusammen? Lassen sie sich (zusammen mit der Dogmenentwicklung) aus der Enttäuschung der Parusieerwartung ableiten? Sind beide notwendige Momente der Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der (seitdem, ohne es zu wissen, imperialistisch instrumentierten) Theologie? Ist der Grund der (in Philosophie und Politik) undurchschaute Zusammenhang von Subjektivität und Konstitution der Welt (Ursprung der instrumentellen Vernunft; Bekenntnis und Sexualmoral als Bedingungen der gesellschaftlichen Naturbeherrschung: Zusammenhang mit Magie-Verbot)? Vorstufe der Verflechtung von Mythos und Aufklärung (Beginn der „Neuzeit“) ist die von Magie und Aufklärung („Mittelalter“; Bedeutung der Hexenverfolgung). Das Sakrament (die Geschichte des Sakraments) als Erbe und Rationalisierung der Magie und mimetische Vorstufe der technischen Naturbeherrschung.

    Zur Konstruktion der Gemeinheit: Daß die Erlösung auch die Vergangenheit (und die Natur) befreit, kann heute nicht mehr vernünftig unterstellt werden; aber handeln, ohne gemein zu werden, kann man nur, wenn man so handelt, als ob von unserm Handeln auch das Schicksal des Vergangenen und der Natur abhinge. „Auch die Toten haben Anspruch …“ (Walter Benjamin)

    Theologie im Angesicht Gottes („Wahrheit als Gebet“ – „Allein den Betern kann es noch gelingen …“): kann Geschichte der Theologie „hinter SEINEM Rücken“ nicht ungeschehen machen, muß sie mit aufarbeiten (eine der Bedingungen einer Theologie nach Auschwitz).

    Adornos Satz „Erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer Unrecht“ anwenden als Grundsatz einer Erkenntnistheorie; Konsequenz aus Rosenzweigs spekulativem Gebrauch des Begriffs der Umkehr. Besonderer Charakter moralischer Grundsätze: sie sind Grundsätze nur fürs Handeln, nie fürs Urteilen („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“). Zusammenhang mit den Begriffen Versöhnung und Schuld und deren erkenntniskritischen Konsequenzen. Das rhetorische „Ich würde sagen …“ drückt diesen besonderen Takt aus (die Anerkennung und Berücksichtigung des Zusammenhangs von Urteil, Schuldprojektion und Vergegenständlichung), daß man dem anderen nicht vorschreiben kann, was er sagen (als wahr anerkennen) muß, daß man nur – unter Beachtung des eigenen derzeitigen Erkenntnisstandes – sagen (als wahr anerkennen) würde, wenn man an seiner Stelle wäre.

    Wer einem Betroffenen Tratsch zuträgt, löst Streit aus. Anwendung auf eine Theorie des Ursprungs der Gemeinheit (Öffentlichkeit hinter dem Rücken des Betroffenen ist auch Öffentlichkeit für den Betroffenen). Das Hinter-dem-Rücken-Reden ist nie harmlos, wenn es nicht so geschieht, als wäre der Betroffene anwesend.

  • 02.12.90

    Zu Rosenzweig: Nicht Christus ist der Mittler zum Vater, sondern durch ihn – kraft des Nachfolgegebots – sind wir Mittler zwischen der Schöpfung, der gefallenen Natur, und dem Vater. Die Nachfolge bezieht sich nicht nur auf das Leiden, sondern auf deren Grund: die Übernahme der Schuld der Welt (Zusammenhang von Welttheologie, Leidensmystik und Opfertheologie).

    Vgl. das „Höre Israel“ (Deut. 6, 4-9) mit dem „Credo“, dem christlichen Symbolum („Glaubensbekenntnis“). Das Credo könnte die Antwort auf das „Höre“ sein.

  • 01.12.90

    Es gibt keine creatio ex nihilo, wohl aber eine fortschreitende saecularisatio ex nihilo: es werden nicht vorausgehende theologische Inhalte säkularisiert, sondern im Prozeß der Säkularisation werden die immanenten säkularen Elemente der Theologie, ihr weltlicher Inhalt, aufgedeckt und zerstört.

    Die Kritik der Anthropozentrik, soweit sie davon ausgeht, daß die Natur auch ohne den Menschen besteht und nach Zerstörung der Menschheit weiterbesteht, macht ein erkenntnissystematisches und historisches Moment von Erkenntnis, die Entfremdung von Mensch und Natur, zu einem gegenständlichen, zu einer Bestimmung der Natur an sich. So befreit sich das Denken von der Last des Sündenfalls. Die Lehren, wonach der Mensch von Natur und von Grund auf böse ist, haben als Hintergrund das Konzept, daß der Sündenfall ausweglos und irreversibel ist. So entledigt man sich der Verantwortung für die gleiche Schuld, die, dem Nachfolge-Gebot zufolge, der Christ auf sich nehmen soll: so gibt man auch das Christentum preis, hat man das Recht verspielt, sich Christ zu nennen.

    Titel: Rekonstruktion der Theologie, oder: Religion als Blasphemie.

    Als das Symbolum noch ein Sakrament war: Die entsetzliche Verwirrung aller Konfessionen, insbesondere jedoch des Katholizismus, hat ihren Grund im Konfessionalismus selber, in der Umwandlung des Symbolums in ein Glaubensbekenntnis, das im Grunde nur noch dezisionistisch verstanden wird; d.h.: das seine Gründe nicht in sich selber, in seinem eigenen Inhalt, sucht, sondern von außen her nimmt, im Grunde das Bekenntnis äußeren Zwecken, die man dann vor sich selber verbirgt, unterordnet, das Bekenntnis instrumentalisiert (was seinen Inhalt nicht unberührt läßt). Insbesondere das zentrale Moment der Gottesfurcht, der Anfang der Weisheit, wurde aus der Theologie unserer Theologen herausoperiert; und das gesamte kirchliche Establishment fürchtet alles andere, nur nicht Gott. Sie haben die Erbschuld manipulierbar gemacht, aus der Lehre von Sündenfall, Gnade und Erlösung, wurde ein Schuldverschubsystem, das beliebig anwendbar, allerdings mit der immanenten Tendenz, dem immanenten Telos aller Sündenbock-Mechanismen behaftet ist, in der Regel das Beste: die Erinnerung daran, daß es eigentlich anders sein müßte, zum Objekt der Vernichtungswut zu machen. Die Gemeinheit ist nicht strafrechtlich, sondern nur theologisch bestimmbar.

    Drei Motti:

    a „Parvus error in principio magnus est in fine“ (Th.v.Aq., De ente et essentia),

    b der Schauspieldirektor aus Kafkas Tagebüchern,

    c Walter Benjamins Bemerkung über Franz Rosenzweig („die Tradition auf dem eigenen Rücken weiterbefördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten“),

    und als viertes:

    d „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (Wittgenstein)

    Das Universum hat den Kosmos abgelöst. Der Produzent des Universums (wann wurde der Begriff eingeführt? – zuerst kritisiert wurde er von Rosenzweig) ist die Universität als Agentur der frühbürgerlichen Gesellschaft in Europa.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie