März 1991

  • 29.03.91

    Woher kommt es, daß Lachen (Kabarett) die Zustände, die es kritisiert, stabilisiert (ähnlich wie die Kenntnis des skandalösen Teils der Papstgeschichte die Motivation der Theologen)? Liegt es daran, daß Lachen personalisiert (nie die Zustände, immer nur Personen trifft)? – Lachen braucht Opfer, es entlastet nur, ändert nicht. (Gibt es ein argloses Lachen? Oder schließt das „arglos wie die Tauben“ das Lachen aus, vertreibt aber die Dämonen.)

  • 28.03.91

    Bei den naturwissenschaftlichen Spekulationen über „Ursprung und Schicksal des Universums“ ist diese spekulative Wissenslust -das Erbe der dogmatischen Theologie, die vorgibt, alles zu wissen – unverkennbar. Kein Zufall, daß insbesondere die Jesuiten darauf hereinfallen (und sich anhängen).
    Bezeichnend die Verwechslungen: des Nichterkennbaren mit dem Nichtseienden; des Faktum mit seiner Erklärung; der Theorie mit dem Faktum (Stephen W. Hawking: Geschichte der Zeit, S. 52, 148)
    Ein durchs Inertialsystem vermitteltes Konstrukt wird zur Grundlage, aus der dann das Inertialsystem sich herleiten soll: Diese petitio principii ist nur möglich, weil der Stand der Erkenntnis die Reflexion seiner wirklichen Grundlage auszuschließen scheint. Die Naturwissenschaften sind der Kloß nicht nur im Hals der Theologie, sondern auch der Strick um den eigenen Hals: Raum und Zeit als subjektive Formen der Anschauung sind durch die Wege der Forschung und durch ihre Erfolge so „natürlich“ geworden, daß jede Reflexion als Sakrileg erscheint; sie haben die Form von Bekenntnissen angenommen; denn mit den Formen der Anschauung werden nicht nur diese, sondern auch die Grundlagen der Wirtschaft, die Herrschaft des Tauschprinzips, und die der politischen Theologie: der Bekenntnisbegriff, mit abgesichert. Umgekehrt: die gemeinsame Reflexion des Bekenntnisbegriffs (Bekenntnis für andere; Feinddenken, Ausgrenzung der Häretiker; Opfer der Vernunft) und des Tauschprinzips (Zinsverbot und Geld als Herrschaft über die Arbeit anderer, Prinzip der Instrumentalisierung) führt auf die Grundlagen der Kritik des Raumes.
    Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. (Vgl. Mt 913, 127; Hos 66 et alii). Urteilslust will Opfer (Sündenbock).

  • 27.03.91

    In der Geschichte der Ketzer- und Hexenverfolgungen hat die Kirche nicht das Erbe des Paulus, sondern das des Saulus angetreten.

  • 25.03.91

    Das Bild vom Hirten und den Schafen wäre zu beziehen auf die Schafe, die (nach dem Agnus Dei – Joh. 129, Jes. 534ff) die Schuld der Welt auf sich nehmen. Handelt es sich hier um Lämmer, Schafe oder junge Widder (Opfer Abrahams – Gen. 22, islamisches Opferfest)? Ist hierin das Bild des Schafes, das zur Schlachtbank geführt wird, und das vom Sündenbock (Lev. 16) mit enthalten (nur in veränderter Konstellation)? Und sind die Hirten (die Episkopoi) die, die die Schafe zur Schlachtbank führen, oder die, die durch Lehre Hilfe leisten bei der „Nachfolge“? Kritik des christlichen Bildes vom dummen, subjekt- und bewußtlosen Schaf (Agnus ist in der christlichen Tradition ein Frauenname geworden!).
    Katholizismus, Bekenntnis und Sexualmoral: Die Angst und die Wut, die sich einmal (in der Ketzerverfolgung) gegen das abweichende Bekenntnis richteten, wendet die Kirche heute gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung; die Aggression wird aus dem Erkenntnisbereich in den moralischen Bereich verschoben. Von der frühkirchlichen (männlichen) Heiligengestalt des Bekenners (deren Pendant die Jungfau als weibliche Heiligengestalt war) ist die Lust am moralischen Urteil Übriggeblieben; zugrunde liegt die Vorstellung, Unschuld sei in dieser Gesellschaft möglich, eine Vorstellung, die nur unter der Voraussetzung funktioniert, daß der gesellschaftliche Schuldzusammenhang (die „Schuld der Welt“, Grundlage und Reflexionsobjekt des Nachfolgegebots) verdrängt, geleugnet wird. Die Lust am moralischen Urteil aber (und nicht ihr Gegenstand) ist im strengen Sinne obszön; sie legitimiert die Gewalt, die sie von sich (vom Urteilenden, der sich durch das Urteil selbst freispricht) auf das Objekt des Urteils ablenkt (er ist schuldig und hat die Strafe verdient); die Lehre der Kirchenväter, daß in der Lust die Erbschuld sich fortpflanzt, trifft auf diese Urteilslust und nicht auf die sexuelle Lust zu. Anmerkungen hierzu:
    – Erstes Objekt des moralischen Urteils ist nicht zufällig die Sexualität; dagegen gilt: „Erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer unrecht.“ (Adorno: Minima Moralia)
    – Ursprung und Geschichte der „Urteilslust“ hängt zusammen mit der materiellen Geschichte der Gesellschaft, mit der Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur (Exkulpation der Selbsterhaltung, in letzter Konsequenz der Macht: des Gewaltmonopols des Staates, das pauschal der Kritik entzogen wird; Konstituierung der Gemeinheitsautomatik; Ursprung des modernen Naturbegriffs: nur im Bereich der Sexualmoral gibt es den Schein natürlicher Unschuld: die Keuschheit).
    – Anwendung auf die Kirchengeschichte: Der skandalöse Teil der Papstgeschichte (und die mittelalterliche kirchenpolitsche Konsequenz des Zölibats, mit Auswirkungen auf die Eschatologie, die Systematisierung des „Jenseits“, mit deutlichem Vorrang von Hölle und Fegfeuer; Konsequenz der Opfertheologie und der Gnadenlehre) ist eine zwangsläufige Folge aus der Verschiebung der Erbsünde von der Urteilslust auf die sexuelle Lust (erklärbar durch die Mechanismen des Wiederholungszwang). Unter diesem Aspekt die Kirchengeschichte neu schreiben:
    . Urteilslust Folge des Verzichts auf Herrschaftskritik; Kirche Teil der Herrschaftsgeschichte (Funktion der Schöpfungslehre und unkritische Rezeption des Weltbegriffs; Geschichte der Häresien wird durchsichtig und ableitbar).
    . Zusammenhang von Antjudaismus, Ketzerverfolgung und Frauenfeindschaft;
    . Ursprung des Faschismus.
    – „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 71):
    . Urteilslust und moralisches Urteil als Selbstverfluchung (Umkehrung des Nachfolgegebots nur durch Umkehr heilbar; die dritte Verleugnung des Petrus: und er ging hinaus und weinte bitterlich – Mt 2634);
    . Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Objektivations- und Erkenntnisprozeß.
    – „Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe, seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ (Mt 1016): .Parakletisches (theologisches) Denken unterscheidet sich vom anklagenden und richtenden Denken (vom Herrendenken) nur durch die „Arglosigkeit“ (durch Verzicht auf Personalisierung von Schuld, Verzicht auf Verdrängung und Projektion, Verzicht auf Feinddenken: Ziel ist nicht das Dingfestmachen der Bosheit, das Schuldigsprechen, sondern die Auflösung der Dummheit in der Bosheit);
    . der Verteidiger muß die Fakten und die Gesetze besser kennen als der Ankläger;
    . Konsequenz ist nicht die Enthaltung des Urteils, sondern die Umkehr der Intention (Parteinahme für die Opfer, Votum für die Armen und die Fremden und deren Nachfolger und Erben);
    . Zusammenhang von Herrschafts- und Selbstkritik im Zeitalter der Vergesellschaftung des Herrendenkens (pathologische Auswirkungen nachweisbar in der Vergesellschaftung dessen, was einmal Majestätsbeleidigung hieß: Abwehr von Kritik durch Aggression; psychotische Reaktionen liegen heute der Normalität, dem herrschenden Realitätsprinzip, näher als neurotische: paranoische Verletzbarkeit Grund des autoritären Denkens).
    – „Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. … Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und der Verlorenheit befreit werden zur Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt.“ (Röm 819ff)
    . Der naturwissenschaftliche Objektbegriff ist Repräsentant der Gewalt, mit der die Natur (ohne Wissen und hinter dem Rücken der Erkennenden) instrumentalisiert und der gesellschaftlichen Herrschaft unterworfen, in den Prozeß der Naturbeherrschung hereingezogen wird. Sprachlicher Ursprung des Objektbegriffs ist der Akkusativ: naturwissenschaftliche Erkenntnis Inbegriff des Systems eines anklagenden, richtenden Denkens (Erbe der Inquisition); dagegen müßte verteidigendes (parakletisches) Denken sich zum Organ der Klage (der Sehnsucht, des Seufzens) der Kreatur machen. Dem …

  • 23.03.91

    Kirchenkritik als Papstkritik (zu Peter de Rosa: Gottes erste Diener): PdR bleibt im Bannkreis des autoritären kirchlichen Denkens, wenn er Papstkritik auf der Grundlage der Kriterien des moralischen Urteils (für deren Begründung und Erhaltung die Institution des Papsttums – Inbegriff des kirchlichen Personalismus – unerläßlich ist) betreibt, anstatt den geschichtsphilosophischen (und theologischen) Stellenwert dieses Moralbegriffs zu untersuchen. Zu den historischen Gründen dieses kirchlichen Selbstverständnisses gehört jene Phase der Papstgeschichte so notwendig dazu wie das Fegefeuer zur Hölle. Die Funktion dieser Kritik ist stabilisierend (sie gehört zum kirchlichen double-bind-Syndrom; nur wenige Theologie-Studenten, bei denen die erste Kenntnisnahme dieser Dinge nicht systemerhaltend gewirkt hätte). Ein Nebeneffekt: Die Darstellung dieser Geschichte nach den Kriterien ihrer moralischen Beurteilung (die mit hämischen Nebenbemerkungen nicht spart) unterstellt, daß die heutigen Verhältnisse, unter denen die System-Voraussetzungen dieser Moral als säkularisierte fast unangreifbar geworden sind, als Naturverhältnisse auch in die Vergangenheit projiziert werden können: So wird der blinde Fleck verewigt, der dann die historische Erkenntnis verhindert (der Nachgeborene als Richter der Vergangenheit: das ist die Wahrheit der Gnade der späten Geburt; die Toten haben die Drecksarbeit für uns erledigt, zum Dank werden sie von uns verurteilt).
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Geschichte der „Ver-leugnungen“ (der Herrschaftsgeschichte des Christentums – die u.a. in der Fortsetzung des Caesarismus in der Papstgeschichte sich manifestiert) und dem Ursprung und der Geschichte des Islam?

  • 22.03.91

    Verteidigendes Denken ist kein apologetisches Denken; es ist keine Rechtfertigung (die das Selbstmitleid stabilisiert und fördert), sondern die Verteidigung des Anderen, des Anderen in dem Sinne, in dem beispielweise Levinas diesen Begriff gebraucht.
    Wenn in Bendorf darauf hingewiesen wurde, daß die säkulare Welt so säkular garnicht ist, sondern (aus der Sicht des Islam) zutiefst christlich vorgeprägt und determiniert, so hängt das in der Tat mit den christlichen Ursprüngen des modernen, aufgeklärten, bürgerlichen Subjekts zusammen (Konstitutierung des Subjekts auf der Grundlage der technischen Säkularisierung der Opfertheologie im Kapitalismus: das Geld verdinglicht und verbirgt die realen Schuldbeziehungen – die Beziehungen von Gnade und Macht -, Grundlage der Definition des Realitätsprinzips).
    Der Islam kennt nur das eine Opfer zur Erinnerung an das Opfer Abrahams, die Abgeltung des Menschenopfers. Dieses Opfer ist ein reines Erinnerungsopfer, kein Entsühnungs- oder Versöhnungsopfer. Es scheint, daß der Islam das Prophetenwort „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ auf seine Weise (die abweicht von der jüdischen Tradition) ernst nimmt, während das Christentum durch seine Opfertheologie, durch das verdinglichte Konstrukt des Sühneleidens (Modell des kapitalistischen Wertgesetzes), hinter das Prophetenwort zurückfällt.
    Es scheint, daß die letzte Bastion, die fallen muß, angezeigt wird durch das „er ging hinaus und weinte bitterlich“: Aufhebung des Zwangs, daß Männer nicht weinen, des patriarchalischen Elements in der christlichen Tradition, Grund der sexistischen Praxis und Theorie. Diese Tradition ist allerdings wohl allen drei Buchreligionen gemeinsam (jedoch in keiner mit so fürchterlichen Auswirkungen wie im Christentum).
    In ihrer unreflektiert positiven Bedeutung verletzen die Dogmen das Bilderverbot.
    Kann man die Bitten des Herrengebets in Beziehung setzen zum Dekalog? Das „adveniat regnum tuum“ würde dann dem Sabbat-Gebot, und das „fiat voluntas tua …“ dem Gebot, die Eltern zu ehren („auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden“), entsprechen.
    Ex 201-21/Mt 69-13:
    Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.
    Pater noster:
    Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.
    Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten und im Wasser unter der Erde.
    Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen.
    Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.
    Qui es in caelis:
    Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen; denn der Herr läßt den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht.
    Sanctificetur nomen tuum:
    Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!
    Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht.
    An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und dein Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat.
    Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde und Meer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tage ruhte er.
    Darum hat den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.
    Fiat voluntas tua:
    Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.
    Sicut in caelo et in terra:
    Du sollst nicht morden.
    Panem nostrum cottidianum da nobis hodie:
    Du sollst nicht die Ehe brechen.
    Et dimitte nobis debita nostra:
    Du sollst nicht stehlen.
    Sicut et nos dimittimus debitoribus nostris:
    Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.
    Et ne nos inducas in tentationem:
    Du sollst nicht nach dem Haus Deines Nächsten verlangen.
    Sed libera nos a malo:
    Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört.

  • 17.03.91

    Liegt der Unterschied zwischen Judentum und Islam an der gleichen Stelle, an der auch der Unterschied zwischen Namen- und Begriffslehre begründet und zu suchen ist, und ist die „Islamisierung“ des Christentums nicht schon vor der Entstehung des Islam eingetreten, vom Islam dann nur auf „reinere“ Weise rezipiert und danach ans Christentum wieder zurückgegeben worden? Drückt sich diese Beziehung auch im Gottesbegriff aus: Allah wird immer nur in der dritten Person bestimmt, bleibt immer gegenständlich; er spricht nicht selbst, sondern spricht durch den Heiligen Geist, der ein Engel ist. Bezeichnend auch die adjektivische Struktur der Namen Gottes, die hier zu Eigenschaften werden und aus diesem Grunde im Islam immer mit dem Zusatz All- gebildet sind: der Allbarmherzige, der Allverzeihende, der Allmächtige, der Allwissende etc (insgesamt 99 Gottesnamen).
    Islam ist die Ergebenheit in den Willen Gottes, und der Wille Gottes ist das, was geschieht. Ein letztes Echo davon ist Hegels „die Vernunft ist wirklich, das Wirkliche ist das Vernünftige“ (Rechtsphilosophie).
    Die Opfertheologie als Ursprung des Idealismus: Vgl. hierzu die Bemerkung in der DdA.
    Das islamische Opfer ist eigentlich nur die Erinnerung an das Opfer Abrahams, die Abgeltung des Menschenopfers. Damit hängt es möglicherweise zusammen, daß nach dem Koran Jesus nicht selbst am Kreuz gestorben ist.
    Das Bilderverbot ist das Verbot, Gott und die Welt hinter ihrem Rücken zu begreifen.
    Für mich war die massive, konzentrierte und brutale Wut auf die Taten der raf schlimmer als die raf und ihre Taten. Und hierin ist etwas, was ich nicht vergessen kann.
    Der Zwang, die Probleme nur noch auszusitzen, der in den noch unabsehbaren Folgen der deutschen Einigung möglicherweise noch einmal verhängnisvoll sich auswirken wird, rührt her von dem unaufgearbeiteten „deutschen Herbst“.
    Peter de Rosas „Gottes erste Diener“ bleibt selbst in den Folgekategorien dessen, was er kritisiert, befangen. Die Darstellung der Dinge im 7. bis 9. Jahrhundert urteilt nach den gleichen moralischen Kriterien, an denen die Kirche selber leidet, aus denen auch der Zustand der Dinge in jener Zeit sich ableiten läßt. Auch hier gilt: der Ankläger hat immer Unrecht.
    Der real existierende Sozialismus ist daran gescheitert, daß er den „dialektischen und historischen Materialismus“ gleichsam glaubte als naturwissenschaftlich-technische Lehre nutzen zu können, daraus politisch anwendbare Gesetze ableiten zu können. Aufgrund dieser Voraussetzung war er gezwungen, seine eigene Basis nochmals zu verraten. Sein Fehler war zu glauben, es gebe einen Standpunkt außerhalb, und dieser Standpunkt außerhalb (hinter dem Rücken der Gesellschaft) sei durch die „Ideologie“, die er dann auch noch so nannte, definiert. So hat er sich dann durch sein Macht- und Politikverständnis unter Rechtfertigungszwänge gesetzt, die zwangsläufig dazu führten, daß er die eigene Basis verraten hat und verraten mußte.
    Die Naturwissenschaften produzieren heute so viele dem Weltzustand angemessene, ihn aufschlüsselnde Bilder, daß es eher der Erklärung bedarf, wieso niemand darauf anspricht, als wenn heute jemand sie wahrnimmt. Zu diesen Bildern gehört
    – das „schwarze Loch“, dessen Gravitationskräfte so groß sind, daß es alles in sich aufsaugt, aber nichts mehr, auch keine Strahlung, nach außen herausläßt, und
    – die sogenannten Teilchenbeschleuniger: dieses Bild des unablässig gegen eine Wand Anrennens und darin soviel Energie, Intelligenz und materielle Ressourcen hineinzustecken, ohne daß dabei die Lösung der Fragen, mit denen Aufwand begründet wird, im Ernst weitergebracht wird (Heideggers Begriff der Frage gewinnt hier gegenständliche Realität).
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (und seine Bedeutung für die Mikrophysik und für die Erkenntnisbasis der Naturwissenschaften insgesamt, das Inertialsystem) läßt sich erst lösen, wenn es gelingt, die Struktur des Raumes in seiner Beziehung zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufzuschlüsseln.
    Diese unendliche Last der Faschismus-Erfahrung, dieses unendliche Gravitationsfeld, das alles in sich aufsaugt und nicht mehr nach außen strahlt.
    Parakletisches Denken und das Antlitz der Erde: Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae.
    Vgl. Gen 11: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ und Gen. 24b: „Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, …“ Was bedeutet die unterschiedliche Reihenfolge (Himmel und Erde bzw. Erde und Himmel) im Kontext von „schuf“ und „machte“ sowie von Jahwe und Elohim?

  • 16.03.91

    Das Selbstverständnis des BKA, es sei die „objektivste Behörde der Welt“, trifft insoweit zu, wie auch das „Fertigmachen“ eine der objektivsten Handlungen ist. Diese Institutionen (die Ermittlungsbehörden) scheinen eine Objektivität anzustreben, die – wie auch der wissenschaftliche Objektivitäts- und Erkenntnisbegriff – menschliche Regungen grundsätzlich ausschließt. (Vgl. die Mitteilung des BKA über die Abhörung unseres Telefons.) Wäre hier noch ein Funken Leben drin, müßte man sagen, sie seien der lebendige Beweis dafür, daß Gemeinheit nicht justifiziabel, kein Tatbestand des Strafrechts, ist. Hier kann man die Wirksamkeit der objektivierten Gemeinheitsautomatik (die Selbstimmunisierung gegen die Wahrnehmung der Nebenwirkungen der eigenen Handlungen) studieren.
    Der schlimmste Effekt dieses Anklagedrucks ist die Selbstrechtfertigung, die die Denunziation mit einschließt (Kronzeugenregelung: die Physik ist die Denunziation als System, und hier – so scheint es – sind mittlerweile alle Dämme gebrochen).
    Nachdem das zweite Moment der Schuldverarbeitung, die jenseitige Gerechtigkeit, die u.U. die diesseitige auch korrigierte, verschwunden, und nur das Recht übriggeblieben ist, ist das Strafrecht endgültig grundlos und böse geworden.
    Die Differenz zwischen dem Rosenzweigschen und dem Heideggerschen Volksbegriff enthält die Geschichte dieses Jahrhunderts.
    Die Selbstbezeichnung „Wir Deutschen“ bezieht das Subjekts in den Objektivationsprozeß mit ein – in die Erkenntnis hinter dem Rücken (das fatale Erbe des deutschen Idealismus). Die insbesondere in der jüngeren katholischen Philosophie anzutreffende Verwechslung von transzendent und transzendental hängt damit zusammen. Der unkritische theologische Gebrauch des Begriffs des Transzendentalen ist von jener hybriden Bescheidenheit, die den heutigen Katholizismus so unerträglich macht (und die zu den Grundlagen des Faschismus gehört: Ausdruck der Identifikation mit dem Aggressor; Grundlage der falschen Exkulpierung und der faschistischen Selbstnobilitierung).
    Er ging hin und weinte bitterlich: Ausdruck der Erschütterung, die das verdinglichte Dogma aufsprengt und seinen Inhalt wieder zum Leben erweckt.
    Der Mißbrauch der Offenbarung und des Glaubens im Bekenntnis, der Eckstein, den die Bauleute verworfen haben: die Nachfolge.
    Mein Leben, mein Handeln ist ein Teil des Systems, das den Schuldzusammenhang transportiert, weiterbefördert.
    In der dogmatischen Trinitätslehre wird der Inhalt durch die Form geleugnet.
    Die Bestreitung der Existenz ist tatsächlich deren Bestreitung.

  • 15.03.91

    „Im Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde“:
    – Himmel und Erde: die zukünftige und diese Welt;
    – den Himmel: dieser Himmel am Anfang ist nicht identisch mit dem Himmel des zweiten Schöpfungstages (Gewölbe, das die Wasser unterhalb und oberhalb des Gewölbes scheidet).
    „Die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser“:
    – nur die Erde war wüst und wirr;
    – woher kommen Urflut und Wasser, was ist der Unterschied zwischen Urflut und Wasser (Trennung der Wasser am zweiten Tage, Schaffung des Meeres am dritten Tage)?
    – Das (vegetarische) Nahrungsgebot des sechsten Tages bezieht sich auf die Schöpfung des dritten Tages,
    – das (zweifache) Herrschaftsgebot auf die Tiere des fünften und sechsten Tages,
    – das Herrschaftsgebot an die Lichter des Himmelsgewölbes auf Tag und Nacht, die Scheidung von Licht und Finsternis und als Zeichen auf die Zeiten.
    Als Zweckbestimmungen treten auf:
    – die Scheidung (am ersten und vierten Tag von Licht und Finsternis, am zweiten Tag Wasser und Wasser),
    – das Zeichen (der Lichter am vierten Tag für Festzeiten, Tage und Jahre),
    – das Wachsen (der Pflanzen des dritten Tages),
    – Vermehrung und Fortpflanzung (an die Fische und Vögel des sechsten Tages sowie an die Menschen),
    – die Nahrung (am sechsten Tag für den Menschen die Pflanzen des dritten Tages, für die Tiere des Feldes, für die Vögel des Himmels und für alles was, sich auf Erden regt und Lebensatem in sich hat, grünen Pflanzen),
    – die Herrschaft (je zweifach: am vierten Tag der Lichter über Tag und Nacht, am sechsten Tag der Menschen über die Tiere des fünften und sechsten Tages).
    Dogma, Bekenntnis, Inquisition, Folter, Scheiterhaufen, Physik, Faschismus, Judenmord und Denunziation.
    „Es ist sehr schwierig, unter Anklage zu gestehen“ (Carola Stern, zit. S. 231).
    Zu der Bemerkung von Carola Stern, es sei schwierig, unter dem Druck der Anklage zu gestehen: Noch schwerer ist es, unter dem Druck der Anklage dem Rechtfertigungszwang sich zu entziehen; und es gibt einen Anklagebereich, in dem die eigene Verteidigung unmöglich ist (und genau diese Unmöglichkeit wird von der Gemeinheitsautomatik ausgebeutet).
    Zum Begriff des Bekenntnisses: „Sie haben es genossen, in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten Geborgenheit zu finden.“ (S. 232) – Ich möchte nie mehr in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, nur noch in einer von Wohlgesonnenen mich befinden.
    „Lassen wir etwa einen Teil der unausgetobten Wut auf die Eltern an unseren Kindern aus?“ (S. 249)
    „… wie heikel auch solche Versuche der Aufarbeitung sind, die doch im hehren Gewand der Bemühungen daherkommen. Hier wir Täter – da ihr Opfer, nun wollen wir mal den Dialog beginnen.“ (S. 255)
    Einheit von Lachen und Anklage: das Inertialsystem.

  • 14.03.91

    Die Exkulpierungssucht der Israel-Freunde hängt zusammen mit der Identitätssucht, die in der neudeutschen Nachkriegsära grassiert: Dahinter steckt die richtige Wahrnehmung, daß wir Auschwitz nicht entrinnen können; das gilt insbesondere für unser Verhältnis zu den Juden: Unser Wunsch, von den lebenden Juden Zeichen der Versöhnung zu erhalten, wieder angenommen zu werden und so den Rechtfertigungszwängen entrinnen zu können, ist illusionär (die Opfer sind die Toten, die Tat ist irreversibel) und führt genau in diese Rechtfertigungszwänge hinein: in den Zwang, uns dann nur noch von außen, im Urteil der anderen zu sehen und von ihnen freigesprochen zu werden. Anstatt durch Umkehr (die allerdings nur möglich ist, wenn wir dem Bann der Kollektivschuld uns entziehen, indem wir die Schuld auf uns nehmen) liebesfähig zu werden, verharren wir imgrunde in der larmoyanten Selbstmitleidshaltung und erwarten von den Opfern, daß sie uns daraus befreien. Das Gefühl der „Nichtidentität“ und das Verlangen, Identität durch die Anerkennung, die wir von anderen fordern, zu gewinnen, ist darin begründet (auch der so schwer identifizierbare deutsche Begriff des „Volks“, wie auch der Begriff der „Deutschen“: der gleichsam die Fremdbezeichnung als Selbstbezeichnung übernimmt: wir begreifen uns in der eigenen Sprache selbst als Barbaren; und in dieser Sicht lassen wir uns von niemandem übertreffen: es gibt keine Gemeinheit draußen, die wir – selbst wenn wir uns über sie empören – nicht als Ermächtigung für die eigene Gemeinheit nutzen; dies ist u.a. eine der apokalyptischen Folgen des unreflektierten Bekenntnisbegriffs, des mit ihm begründeten Mechanismus der Komplizenschaft und der Gemeinheitsautomatik).
    Wenn wir uns selbst als Objekt, sozusagen im permanenten Akkusativ sehen („Wir Deutschen“), dann genügt es, wenn wir uns auf die Untaten der anderen beziehen können, um ihnen das Recht abzusprechen, uns wegen unserer Untaten anzuklagen. Wo kein Kläger, da kein Richter: wir sind frei. (Die Selbstverfluchung als dritte Verleugnung?)
    Es genügt nicht, angesichts der Katastrophe zur Salzsäule zu erstarren; hinzukommen muß, daß man begreift, daß die Wurzeln der Katastrophe in der eigenen Verhärtung liegen; die Lösung liegt nach der dritten Verleugnung: er ging hinaus und weinte bitterlich.
    Theologie hinter dem Rücken Gottes gehorcht dem Prinzip der Intersubjektivität; und dieses Prinzip ist Grund des Atheismus.
    Das Theorie-Konstrukt „hinter dem Rücken (Gottes, der Dinge etc.)“ hat mit der Quantenphysik und mit der staatsinterventionistischen Wirtschaftspolitik eine neue Qualität gewonnen. In der gleichen Phase ist die Privatsphäre in den Öffentlichkeits- und Entfremdungsprozeß zunehmend hereingezogen worden, hat der Intimbereich und die ihn abgrenzende Scham sich verlagert, verändert.
    (Qualitätsstufen des Säkularisationsprozesses, des Prozesses der Verweltlichung; Änderungen des Weltbegriffs.)
    In einem Punkt ist Oswald Spengler, wie mir scheint, von der Reflexion noch nicht eingeholt worden: in seinem Konzept der arabischen Kultur (Schriftreligionen, Islam). Hier ist der blinde Fleck direkt bezeichnet worden.
    Unser Bild des Islam ist eigentlich der Repräsentant unserer eigenen verdrängten Vorvergangenheit. Mit der Diskriminierung des Islam, mit dem Negativbild, das wir in ihn hineinprojizieren, sichern wir eine Verdrängung ab, der sich insbesondere das Konzept der mittelalterlichen Theologie verdankt. Die scholastische Philosophie hat eigentlich die Kirchenväter nicht mehr verstanden.
    Die christliche Theologie steht seit den Kirchenvätern, insbesondere dann aber im Mittelalter unter einem Apriori, das mehr durch die Form des Dogmas als durch seinen Inhalt vorgegeben ist.
    Die Form des Dogmas ist die Bekenntnisform (Gleichzeitigkeit des thomistischen christlich eingefärbten Aristotelimus und der Entwicklung der Inquisition im gleichen Orden, Vorspiel der Ketzerverfolgungen und der Hexenverbrennungen). Das Erkenntnis- und das Wahrheitsverständnis der Inquisition ist dann in den Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaften mit eingegangen und über die Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa in die Fundamente der westlichen, der sogenannten zivilisierten Welt mit eingebaut worden.
    „Abgestiegen zur Hölle“: Eine Konstruktion des Wissensbegriffs, die dem gegenwärtigen Stand des Wissens und der Erkenntnis genügt, wäre das Abbild der Hölle.
    These, Antithese, Synthese: In der Synthese triumphiert die Abstraktion.
    Die Kirche steht in der Tradition der Sadduzäer. Jesus hat dagegen – bei aller Kritik – doch seine Nähe zu den Pharisäern immer wieder zu erkennen gegeben. Vgl. hierzu noch einmal das Verhör Jesu vor den Hohepriestern (und die Erzählung von den drei Verleugnungen durch Petrus – Identifikation mit dem Aggressor).
    Die Auseinandersetzung mit der Theologie und die Auseinandersetzung mit der Physik sind identisch: sie haben es mit dem gleichen Gegenstand zu tun (mit den Erkenntnis-Konstrukt „hinter dem Rücken“).
    Liebesbekenntnis – Verlöbnis – Hochzeit: Stufen des Durchgangs durch die Formen der Öffentlichkeit (Bekenntnis unmittelbar, Entfremdung, hinter dem Rücken), Stufen der Reifung und Entfaltung: daß das Bekenntnis Bestand gewinnt (Bloch: gemeinsam dem Tod standhalten; vgl. auch Benjamins „Wahlverwandtschaften“ und darin das Kant-Zitat).
    Steht der Islam, die Ergebenheit in den Willen Allahs in einer plotinischen Emanationsfolge (Grund des islamischen Frauenverständnisses)?
    Jedes Bekenntnis steht unter einem Rechtfertigungszwang; und der ist bei Frauen aufgrund ihrer spontanern Beziehung zur Empathie geringer als bei den Männern.
    Zur Frage der Göttlichkeit Jesu: Ist der aufgespießte Schmetterling noch ein Schmetterling?
    Mit Blick auf den Begriff der erkalteten Liebe nochmal den Beginn der Apokalypse lesen. Was ist mit einer Situation, in der es Liebe überhaupt nicht mehr gibt?
    Der Atheismus heute partizipiert an der Unschuld der Herren. Und er akzeptiert, daß mit der Gottesfurcht auch die Sensibilität, der Kern des Lebens, verdrängt, unterdrückt und ausgeschieden wird.
    Die Spezialität des deutschen Atheismus nach Auschwitz liegt darin, daß diese Schuld irreversibel ist. Auschwitz ist das Gericht über uns, von dem uns auch die überlebenden Juden nicht freisprechen können.
    Gibt es etwas in der Natur, was den Toten entspricht, korrespondiert (der unwiederholbaren Vergangenheit)? Gibt es eine „Naturphilosophie“, die der Lehre von der Auferstehung der Toten korrespondiert? Gibt es eine Namenlehre der Natur? Ist das, was in der Natur dem Vergangenen entspricht, aufbewahrt in der islamischen Tradition? – Die Toten und unsere Kinder werden unsere Richter sein.
    Der Hinweis, in der Diskussion über den Golfkrieg sei nur die männliche Sicht zu Wort gekommen, scheint sich nach meinem Verständnis darauf zu beziehen, daß hier eigentlich nur die Schuldfrage gestellt wurde (wer ist der Urheber, wer trägt die Schuld an diesem Krieg); die Frage nach den Opfern, wie kann ihnen geholfen werden, eröffnet einen ganz anderen Aspekt, der nicht zur Sprache gekommen ist. Das aber ist eine Folge des christlichen Verständnisses von Versöhnung, von Exkulpation, von Unschuld.
    Zu den technisch-organisatorischen Fragen fällt mir eigentlich nichts ein; ich find es großartig, daß hier die Möglichkeit gegeben ist, sich auf einer Ebene zusammen- (und auseinander-) zusetzen mit dem Ergebnis, daß die drei Religionen weniger weit auseinander sind als die Fundamentalisten und die Progressiven in den Religionen.
    Die Empörung darüber, daß es der deutschen Justiz nicht gelungen ist, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten, übersieht, daß Gemeinheit kein Tatbestand des Strafrechts ist, sondern einzig ein theologischer Tatbestand.
    „Equal rights for animals and trees“: Die ganze Kreatur sehnt sich nach der Offenbarung der Freiheit der Kinder Gottes.
    „… und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen“: Die Gottesfurcht zum Kern, zum Zentrum, zum Inbegriff von Erfahrung machen. So ist sie in der Tat der Beginn der Weisheit.
    Eine Personalisierung der Gottlosen ist heute ebenso wenig möglich wie eine reinliche Scheidung der Psychose von der Normalität. Es gibt heute ein Verhalten, das den Begriff, die Idee der Gottesfurcht vollständig erfüllt, aber zwangsläufig mit dem atheistischen Bekenntnis verbunden ist. (Arbeitstitel: Religion als Blasphemie.)
    Modell der Auferstehung der Toten wäre die des Dogmas: diesen Schmetterling, den das Dogma aufgespießt hat, wieder zum Leben erwecken.
    Mein Begriff der Gottesfurcht mißt sich an Auschwitz: Im Angesicht Gottes leben, im Angesicht Gottes Theologie treiben, heißt für mich zunächst einmal: im Anblick von Auschwitz leben und Theologie treiben.
    Daß Allah die Welt jeden Augenblick neu erschafft, ist ein Gedanke, der nicht apriori zu verwerfen ist, der vielmehr zu Recht und mit aller Deutlichkeit darauf hinweist, daß wir im Schöpfungs“prozeß“ mitten drin stecken, daß die Schöpfung nicht nur vergangen ist, sondern jeden Tag erneuert wird.
    „Die von den Siegern verordneten Bußübungen …“ (S. 163): Das war nicht die Situation nach 45, außer für die Unbelehrbaren. Ekelhaft der Versuch, auch für die eigene Unbelehrbarkeit noch die Sieger als Sündenböcke zu benutzen. Die waren’s in Schuld, wenn wir keine Chance hatten, die Vergangenheit aufzuarbeiten (so wie der Vater, der schuld daran ist, wenn ich zu spät zur Schule komme: warum weckt er mich jetzt nicht). „Erst wurde Deutschland judenrein, dann persilscheinrein“ (S. 165) – sie hat nichts begriffen. „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung, und Erinnerung heißt wohl auch …, den vermauerten Zugang zu eigenen mörderischen Gefühlen freilegen.“ (S. 166) Nicht den Zugang zu eigenen mörderischen Gefühlen, sondern zu den Mechanismen, die diese Gefühle produzieren. Vgl. auch die Bemerkungen zum 13.07.: Das ist nicht die Erinnerung, um die es geht; es geht um Empathie, nicht um Einfühlung. „… der kreatürliche Trieb, der immer unmoralisch ist.“ (S. 167)

  • 13.03.91

    Gabriele von Arnim (Das große Schweigen): zu deutsch, zu exkulpierungssüchtig? Falsche (verräterische?) Begründung: „Haarsträubend findet der Historiker Christian Meier den Versuch der Deutschen, sich mit den Opfern zu identifizieren. Tatsächlich ist es eine scheinheilige List. Denn dann sind die Täter die Feinde und nicht mehr die eigenen Vorfahren.“ (S. 61) – Wir stehen (auch als Nachfahren) auf der Täterseite, weil wir in unserer Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Urteilsweise, in unserem Verhalten die Last der Vergangenheit transportieren; an unsere Kinder weitergeben, was wir von unseren Eltern bekommen haben. Der Schuldzusammenhang mit dem, was in unserem Namen in Auschwitz begangen wurde, ist nicht auf der Bekenntnisebene aufzulösen (oder: Umkehr nur auf der Bekenntnisebene ist nicht möglich). Wir können die Opfer nicht mit unserem Selbstmitleid belästigen. Das Verlangen, von Juden geliebt, gemocht zu werden, wiederholt die Tat, von der man loskommen möchte.
    „Es gehört Mut dazu, die Wahrheit zu ertragen. … Ich mißtraue mir von ganzem Herzen.“ (S. 70) Mut gehört nur solange dazu, wie man sich weigert, die Voraussetzungen, aus denen das alles erwachsen ist, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zu begreifen. G.v.A. nennt es eine „masochistische Umkehrung“, wenn ich „mir die Schuld der Väter auf die Schultern bürde“ (S. 71): Ich habe sie „auf den Schultern“; was ist daran „masochistische Umkehrung“?

  • 04.03.91

    Zum Begriff der Natur: Heute sind die Sünden des Unterlassens, des Zuschauens und Nichtstuns schlimmer als die des Tuns: sie ermächtigen das subjektlose und bewußtlose Handeln des blinden Naturlaufs, der allemal in die Katastrophe führt. Dieses Nichthandeln bedarf der Rechtfertigung; das Anwachsen der Rechtfertigungslehren ist darin begründet; diese müssen dann abgesichert werden durchs Bekenntnis, das nichts ändert, nur folgenlos (und scheinhaft) exkulpiert.
    Die Fundamentalontologie ist der letzte Versuch, die theoretische Vernunft, das kontemplative (zuschauende) Verhältnis zu den Dingen (die Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs) vor den Konsequenzen der kantischen Vernunftkritik zu retten: eben damit verfällt sie dem Gesetz der sich selbst entfremdeten Erscheinung, der irreversiblen Trennung vom An sich, des Andersseins (vgl. Rosenzweigs Bemerkung über die verandernde Kraft des Seins). Herausoperiert wird die moralische Geiselhaft: die Gottesfurcht (zur Unkenntlichkeit verkürzt in Begriffen wie „Geworfenheit“, „In-der-Welt-Sein“, „Geschichtlichkeit“). Notwendig ist heute, wenn Philosophie überhaupt noch zu retten ist, die Kritik des Theoriebegriffs, letztlich der kantischen subjektiven Formen der Anschauung und ihrer realen Vorläufer und Äquivalente: des Tauschprinzips und des Bekenntnisses (dreifache Leugnung), am Ende der Leugnung des Opfers (durch seine Instrumentalisierung und Vergegenständlichung in den Begriffen des Sakraments, des Objekts und der Ware). Es gibt keinen Ausweg außer in der Nachfolge.
    Intimfeind Heidegger: Heidegger-Kritik als Erforschung des projektiven Anteils an dieser Feindschaft (Konsequenz aus dem Gebot der Feindesliebe).
    Der Ursprung der Gemeinheit im Verwaltungsdenken: Wenn Asyl-Bearbeitungsstellen Antragsteller in eines der ehemaligen DDR-Länder schicken, obwohl sie genau wissen müßten, welche Folgen das für die Situation in den neuen Bundesländern und für die Asyl-Bewerber selbst haben wird, so leitet sich das her aus dem Ressortdenken, dem Verwaltungsprinzip der Zuständigkeit: aus einer strukturbedingten (nicht persönlichen) Dummheit der Sachbearbeiter. Nur: diese Dummheit ist gewollt; sie wird in der Ausbildung der Sachbearbeiter eingeübt und durch Verwaltungsvorschriften, durch die Struktur der Verwaltungsorganisation und die Regeln des Verwaltungshandelns stabilisiert; Abweichungen werden durch externe und interne Prüfungsorgane verfolgt und durch Sanktionen unterbunden. Honoriert wird hier (wie in jeder, auch der kirchlichen Verwaltung) die grundsätzliche Verletzung des Nachfolge-Gebots.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie