Juni 1991

  • 12.06.91

    „Der Kläger (gegen die Existenz von Gaskammern in Auschwitz, H.H.) dürfte nicht behaupten, daß sie nicht existiert, sondern daß die Gegenpartei den Beweis ihrer Existenz nicht erbringen kann.“ (Lyotard: Der Widerstreit, S. 20) Die kantischen Antinomien der reinen Vernunft (KdrV, S. 325ff) benennen den beweislogischen Grund dafür, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand sein kann (der Gewinner in diesem Spiel lacht: wer zuletzt lacht, lacht am besten).

  • 10.06.91

    Wertsetzung und Sinngebung setzen voraus, daß die Sache an sich wert- und sinnlos ist. Insoweit sind auch die positiven Werte Ausdruck von Verzweiflung.
    Die Häresie wurde als Verrat empfunden, weil sie das Geheimnis der Orthodoxie ausplauderte. Durch die Mobilisierung der apologetischen Kräfte ist die Orthodoxie dann immer tiefer in die Verstrickung hineingeraten (Zusammenhang von Orthodoxie, Vergegenständlichung, Apologetik/Theodizee und Opfertheologie; Grund und Kontext der Häresienbildung).
    Im Faschismus erfüllt sich die Geschichte der Häresien, aber so, daß gegen ihn Apologie nicht mehr greift, nicht mehr möglich ist, sondern nur noch das Bekenntnis, die Erfüllung des Nachfolgegebots: die Übernahme der Schuld der Welt, an deren Grund der Faschismus (durch den bedenkenlosen Gebrauch der Gemeinheitsautomatik) rührt.
    Geschichte und Opfer: Die Nachgeborenen glauben, Herr der Vergangenheit zu sein, über die sie als Wissende und Urteilende (wenn sie das Erbe der Vergangenheit antreten, ohne die darin kapitalisierte Schuld zu reflektieren) sich erheben; sie können aber über die Vergangenheit nur deshalb sich erheben (und die Früchte der geopferten Vergangenheit ohne das Bewußtsein von Schuld genießen), weil sie mit der Vergegenständlichung des Vergangenen zugleich sich von der vergangenen Schuld glauben exkulpieren zu können, ihr damit aber gerade rettungslos verfallen. – Der Antisemitismus wollte mit den Juden die Vergangenheit, für die sie einstehen, loswerden. Und nicht zufällig ist jeder Historismus chauvinistisch: der Staat repräsentiert diese Herrschaft über die Vergangenheit; deshalb muß er seine Bürger, von denen er die Verdrängungsleistung fordert, generell unter Anklage setzen und braucht einen Staatsanwalt. Wehe denen, die sich erinnern.
    Kontrafaktische Urteile in der Geschichte haben genau diese Exkulpationsfunktion. Als Urteilender distanziert man sich von der vergangenen Schuld, anstatt sie aufzuarbeiten. Kontrafaktische Urteile sind insoweit falsch, wie sie der gleichen Faktizitätslogik gehorchen wie die Tatsachenurteile. Auch der kontrafaktisch Urteilende steht als der moralisch Überlegene auf diesem Riesenleichenberg. Oder auf der Vergangenheitskolonie, der Vergangenheits-Dritte-Welt, dem Vergangenheits-Proletariat (das durch den Tod enteignet ist und dessen Arbeitsfrüchte wir genießen: dem ganzen Heer der toten Erniedrigten, Ausgebeuteten und Vergessenen).
    Die Vergegenständlichung vollzieht am Objekt die Taufe der Vergangenheit. Genau das leistet die kantische Vorstellung der Zeit als subjektive Form der Anschauung.
    Confessor und virgo: Der Mann nimmt die Schuld auf sich und kann sich davon nur befreien durchs Bekenntnis, er kann heilig werden nur als Bekenner; die Frau ist davon dispensiert, sie wird nur schuldig, wenn sie ihre Unschuld verliert: ist die Unschuld bei der Frau eine biologische, keine moralische Qualität?
    Im Anfang war das Wort, aber was ist der Anfang anderes als der erste Ursprung der Vergangenheit? Genau in diesem Punkt entspringt die Sprache. So hat die Sprache eine ursprüngliche Beziehung zu den Toten – als Ausdruck der Trauer über das Vergehen. Darauf bezieht sich die Lehre von der Auferstehung von den Toten.
    Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Aber woher kam die Urflut, die dann übrigens noch geschieden wird in die Wasser diesseits und jenseits des Firmaments?
    Theologisch begründete Herrschaftskritik kann sich nicht einschränken auf den gesellschaftlichen Aspekt von Herrschaft, sie muß auch den naturalen Aspekt mit einbeziehen. Die gesellschaftliche Herrschaft enthält über ihr Verhältnis zur Naturbeherrschung auch ein naturales Moment, das im Rahmen einer theologischen Herrschaftskritik offengelegt werden muß (das ist der letzte Sinn einer Naturphilosophie). Es gibt einen Naturgrund von Herrschaft, den wir besetzt halten, der aber mit den Strukturen der gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur nicht identisch ist, sondern zugleich davon getrennt untersucht und dargestellt werden muß.

  • 08.06.91

    Welt und Natur sind Totalitätsbegriffe, die den Bruch verdecken, den sie selbst produzieren.
    Der Begriff der Natur verdankt sich der gleichen Logik, der die Christologie, die Vergöttlichung Jesu, sich verdankt (beide stützen sich gegenseitig). Dieser Naturbegriff, der in die Nähe des Schöpfungsbegriffs gerückt wurde, ist Produkt der Vergöttlichung des Opfers: der vergebliche Versuch wiedergutzumachen, was Naturbeherrschung der Natur antut. Benjamins Kritik des Begriffs des Schöpferischen bezieht sich auf diese Logik.
    Die Welt ist alles, was der Fall ist. Zum Verständnis dieses Begriffs des Falles muß man neben der naturwissenschaftlichen auch die moralische und die juristische Bedeutung des Begriffs mit heranziehen, um zu begreifen, was der Begriff der Welt hier ausdrückt (Zusammenhang mit dem Ursprung der Sexualmoral, mit der Opfertheologie, dem Unschulds- und Reinheitsbegriff sowie damit, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist).
    Der theologische Gebrauch des Personbegriff, seine Anwendung auf Gott in Trinitätslehre und Christologie, ist der Systemgrund für die Notwendigkeit der Theodizee, begründet den (paranoiden) Zwang zur Rechtfertigung Gottes.
    Immer zentralere Bedeutung gewinnt der Opferbegriff: Er ist der Grund für die entsetzliche Verwirrung im Katholizismus und für die Drogenwirkung der kirchlichen Bindung.
    Kann es sein, daß das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit einerseits an den Schöpfungspunkt (den Anfang) rührt, andererseits aber auch etwas mit dem Vergleich Israels mit dem Augenstern Gottes (Sach 212) zu tun hat?
    Wer den Antisemitismus zu einer Gesinnung macht, verharmlost ihn genauso wie die Frauenfeindschaft verharmlost, wer sie zu einem männlichen Apriori macht; beide sind tief in der geschichtlichen Struktur der Welt, der mit dem Weltbegriff systemlogisch verknüpften Gemeinheitsautomatik, verankert. Das gleiche gilt für die (tendentiell paranoide) Kategorie des Verrats.
    Bekenntnislogik und negative Trinitätslehre: Das „Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae“ ist wörtlich zu nehmen, insbesondere auch im Hinblick auf das Antlitz (facies ist übrigens im Lateinischen ein femininum).
    Wenn Augustus mit augur (augurale = Feldherrnzelt im Lager) zusammenhängt: dann hat das Wort des Augustus das (prognostische, imperative) Gewicht der auguratio, die Gewalt, das Handeln der ihm Unterworfenen in die bloße Ausführung eines schicksalhaft determinierten Geschehens umzuwandeln.
    Prophetie sagt nicht die Zukunft voraus; ihr Erkenntnisgrund ist nicht die Divination des Schicksals (vgl. das Buch Jona).

  • 07.06.91

    Bezeichnet die „Urflut“ im Schöpfungsbericht das flüssige, frei verschiebbare Element der Schuld, in dem dann die Meeresungeheuer sich bilden?
    Die Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit, weil sie der Riegel vor der projektiven Schuldverarbeitung ist, weil sie die Leugnung der Schuld durch Exkulpation, durch Verdrängung und Abwehr verbietet.
    Ich habe Kant nie als Rechtfertigung, sondern immer als Kritik des naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs verstanden. Ich stand sozusagen auf der Seite Schopenhauers, nicht auf der Seite Fichte, Schelling, Hegel.
    Der Grund für den Konkretismus bei Heinsohn und seinen Mitarbeitern liegt in der Unfähigkeit, die Dialektik von Geltung und Genesis zu durchschauen. Gunnar Heinsohn hebt zu Recht das subjektive Moment in der Geschichte des Ursprungs der Geldwirtschaft (der „Schuldknechtschaft“, der Beziehung zur Schuld überhaupt) hervor. Das schließt aber nicht mit ein, daß darin heranwachsende Moment der Herrschaft des Tauschprinzips bloß falsch ist. Nur, weil er das Tauschprinzip tendentiell verdrängt, kommt er in den zwangshaften Empirismus herein, der dann in der konkretistischen Naturkatastrophen-Theorie zutage tritt. Er muß dazu seine Zuflucht nehmen, weil er anders den gesellschaftlichen Bruch, der damals eingetreten ist, nicht erklären kann: eine der Folgen ist dann die Vulgärpsychologie, mit der er das „Ereignis“ dann ausmalt, um den Ursprung des Opfers zu erklären; Totem und Tabu ist vollständig vergessen.
    Übersieht er nicht in seinem Konzept des Ursprungs des Privateigentums durch die Landaufteilung unter den aus dem Matriarchat exilierten Männern die nomadische Vorform des Privateigentums (die Tierherde, das erste Geld: pecunia); vgl. hierzu die Patriarchengeschichten der Bibel (Ismael und Isaak, Jakob und Esau, Jakob und Laban, Lea und Rahel). Werden diese deutlichen Hinweise nicht schlicht unterschlagen? Oder ist Abraham schon der zweite, nicht erbberechtigte, rechtlose Sohn, der deshalb mit seinem Neffen Lot aus dem chaldäischen Ur emigriert, zum kleinviehzüchtenden Nomaden wird, aber auch in den Königen und Priestern seinesgleichen (aus gleichem Ursprung herkommend) erkennt? Welche Bedeutung haben dann die Geschichten mit Sara, Rebekka und Rahel?
    In der Abraham-Geschichte ist das erste Privateigentum, der als Begräbnisstätte gekaufte Acker.
    Unaufgeklärt bleibt bei Heinsohn immer noch der Ursprung und die Funktion des Tempels und des Opfers in der Geschichte der Geldentstehung und auf der anderen Seite der Grund für die Verstaatlichung der Münze (wann und durch wen?). Die Tempelbank hat wohl nur binnenwirtschaftliche Bedeutung, während die Verstaatlichung der Münze außenwirtschaftliche Bedeutung hat, mit dem Ursprung des Weltbegriffs, mit der Kolonisation, mit dem Eroberungstrieb zusammenhängt.
    Welche Bedeutung haben überhaupt die Eroberungen durch Assur, durch Babylon, durch die Makedonier, durch Rom (die vier Reiche des Daniel), in welcher Beziehung stehen sie zu dieser ökonomischen Entwicklung? Ist Sumer das ökonomische Babylon? Läßt sich das prophetische und das apokalyptische Babylon in diesem Zusammenhang genauer bestimmen (wenn Sumer das ökonomische B. ist)?
    Welche Bedeutung hat es für die neuere Geschichte, daß die Missionierung von der Peripherie, von Irland und Schottland, ausgeht, und die ökonomische Moderne von den Wikingern, den Normannen?
    Wie sieht es mit der ökonomischen Struktur, den ökonomischen Grundlagen des Islam aus, mit der Nähe zum Nomadentum und zum Handel, bei gleichzeitigem Zinsverbot (Verhinderung der „Schuld-knechtschaft“)? Ist das Privateigentum, der beginnende Kapitalismus mit der Ausplünderung der Majorität durch die restlichen, verbleibenden Privateigentümer, hier ohne Grundlage geblieben? Gibt es im Islam Sklaverei, Lohnarbeit? Welchen ökonomischen Hintergrund hat die Scharia, das islamische Recht?
    Wenn Gunnar Heinsohn seine ökonomischen Analysen nur auf die Beziehungen von agrarischen und städtischen Verhältnissen anwendet, den nomadischen Bereich (und mit ihm die Geschichte des Opfers) aber ausklammert, vernachlässigt, wird damit nicht der ganze Problembereich der Domestikation und Zucht der Tiere, des Fleischessens, ausgeklammert? Welche Bedeutung hat dann die Beschneidung und das Verbot, Schweinefleisch zu essen?
    Zu Heinsohns „Schuldknechtschaft“: Schuld (das fehlende Privateigentum, die Armut) ist die gesellschaftliche Energiequelle der Geldwirtschaft, des Kapitalismus.
    Während in der gesamten Vorgeschichte das Opfer irrationale Notwehr war (Entlastungsfunktion), hat erst das Christentum das Opfer verinnerlicht, instrumentalisiert und zum Herrschaftsmittel gemacht.

  • 04.06.91

    „Es wäre ein, alle mühselige Untersuchungen, die es voraussetzt und erfordert, belohnendes Unternehmen, …“ (Zitat aus Niebuhrs Kopenhagener Manuskripten 1804/5, vgl. Wilfried Nippel: Griechen, Barbaren und „Wilde“, S. 84) Heute (so hat Nippel die Wendung dann auch „korrigiert“) würde es heißen „alle mühseligen Unternehmungen“. Die heute als veraltet empfundene Wendung drückt ein Sprachverständnis aus, das noch Widerstand gegen die Vergegenständlichung setzt. Die „mühselige Untersuchungen“ sind gleichsam noch die eigenen, nicht die, die ich anderen auferlege. In dem ergänzenden „n“ drückt sich die vergegenständlichende Kraft des Spätkapitalismus aus. Hier sind es Untersuchungen, die für andere mühselig sind, deren Mühsal mich nicht mehr affiziert, ebenso wenig wie die Arbeit, die in den Waren steckt, die ich billig einkaufe. Ohne „n“ sind die Untersuchungen ein den, der sie anstellt, „belohnendes Unternehmen“, mit „n“ streicht den Lohn der Professor ein, der die Arbeit seinen Assistenten überläßt (der sie dann als Bevorzugung, als „Gnade“ erfährt; s.u.).
    Lassen sich Unsicherheiten beim Gebrauch des Dativ/Genitiv aus ähnlichen Ursachen herleiten: bei trotz und wegen, oder bei dem „einer Sache Herr werden“ (die Verwendung des Dativ verwandelt Herrschaft in ein Geschenk, macht die Vergewaltigung zur Gnade); hängt es auch damit zusammen, wenn im Femininum (im Deutschen wie im Lateinischen) Dativ und Genitiv (Hingabe und Herrschaft, aber auch Nominativ und Akkusativ: die Subsumtion des Nominativ unter die Anklage wie beim Neutrum) sich nicht unterscheiden lassen? Zusammenhang mit der Teilidentität der dritten Person Singular femininum mit der dritten Person Plural (sie): das Femininum nicht voll individualisiert?
    Im Lateinischen ist der Akkusativ masculinum gleich dem Nominativ neutrum.

  • 02.06.91

    Die kirchliche Sexualmoral verletzt genau das, was sie schützen will: die Scham. Grund ist der Säkularisations- und Objektivationsprozeß, der die Grenzen der Scham verrückt, die Intimsphäre gleichsam von innen aufgezehrt hat. Das „Wer von euch ohne Schuld ist“ ist erst von Adornos „Der Ankläger hat immer unrecht“ wieder eingeholt worden. Wie verhält sich die Scham, die das „Im Angesicht“ schützt, zu der Scham, mit der sich das „Hinter dem Rücken“ absichert?

  • 01.06.91

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen
    – Gen 218ff: Benennung der Tiere durch Adam (es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, aber nachdem er sie benannt hatte, fand er keine Hilfe für sich; danach Erschaffung von Eva),
    – Dan 430: Nebukadnezzar wird zum Tier, „aus der Gemeinschaft der Menschen verstoßen“,
    – Koh 316ff: Der Mensch ist eigentlich nur ein Tier,
    – Sach 114f: Hüte die Schafe, die geschlachtet werden sollen. Ihre Käufer töten sie, ohne es zu büßen. ihre Verkäufer sagen: Gepriesen sei der Herr; denn ich bin reich geworden. Ihre Hirten haben kein Mitleid mit ihnen. (Kanaanäer=Händler, Philister=Liebhaber der Ischtar (Astarte), Menschenopfer: Zusammenhang von Opfer, Matriarchat und Tauschprinzip?),
    – Zef 111: Jammert ihr Bewohner der Senke! Denn das ganze Krämervolk verstummt, alle Geldwechsler sind ausgerottet (vgl. Mt 2112ff: Vertreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel),
    – Off 1317f: Kaufen oder verkaufen kann nur, wer das Zeichen des Tieres trägt, den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens: Hier braucht es Weisheit und Verstand?
    Babel: vom Turmbau über die Propheten, Petrusbrief bis zur Apokalypse.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie