Januar 1992

  • 16.01.92

    Unter der Voraussetzung, daß es gelingt, den Weltbegriff, seinen Zusammenhang mit der Idolatrie und deren erkenntnistheoretische (erkenntnisleitende) Funktion durchsichtig zu machen, findet der Cohensche Titel „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ eine überraschende Auflösung: diese Religin ist das Christentum.
    Gemessen an der Sprache des Buches der Richter ist die christliche Theologie eine Theologie aus dem Hinterhalt.
    Zwei haben Anteil an der künftigen Welt: die Opfer (die Märtyrer, die Zeugen) und die Helfenden (die Verteidiger). Die christologische Vergöttlichung des Opfers verrät beide.
    Die Idee des Ewigen bezeichnet etwas, das sich nicht als vergangen denken läßt, etwas, das die Vergangenheit von sich ausschließt. Nicht zu verwechseln mit der Idee des Überzeitlichen, zu der sämtliche Begriffe gehören (die Idee des Ewigen gehört nicht in den Bereich des Begriffs): Im Überzeitlichen drückt sich allein die Macht der Vergangenheit über die Zukunft aus, das Schicksal oder die Quelle der Gewalt, theologisch gesprochen die Erbschuld. Die Philosophie hat seit je das Ewige mit dem Überzeitlichen verwechselt; nur so ließ sich die Erkenntniskraft der Begriffe sichern. Damit hängt es zusammen, wenn die Philsophie (und das philosophische Subjekt) sich begreifen läßt als Produkt der Verinnerlichung des Schicksals (des Opfers); nicht zufällig erweist sie sich in der Hegelschen Philosophie als Reflex der Geschichte der Herrschaft, sie steht in einer noch aufzuklärenden Beziehung zum Sternendienst, zur Vorgeschichte der Astronomie. Im Gegensatz zum Überzeitlichen, das den Quellpunkt der Begriffe bezeichnet, bezeichnet die Idee des Ewigen den Quellpunkt der Sprache: nicht der Begriff, sondern der Name hat Anteil an der Idee des Ewigen.
    Mir scheint, es ist kein Zufall, daß der Ursprung des begrifflichen Denkens bei den Griechen zusammenfällt mit der Erkenntnis der Bedeutung und der Funktion des Winkels in der Geometrie, der Orthogonalität als des Grundes der Unabhängigkeit der Dimensionen im Raum. Die Form der Beziehungen der Richtungen im Raum ist Grund und Modell des Abstraktionsprozesses, in dem
    – die Begriffe sich bilden und
    – am Ende der Raum gegen die Zeit und die Materie sich verselbständigt, alle drei hypostasiert werden.
    Es gibt keine Wissenschaft, kein System apodiktischer Urteile, ohne ontologische Absicherung. Kritik der Wissenschaft ist nur möglich im Rahmen der Reflexion der Ontologie: im Rahmen der Reflexion des Satzes „das Eine ist das Andere des Anderen“ und des Rosenzweigschen Hinweises auf die „verandernde Kraft des Seins“, die sich genau auf den Kontext und die Folgen des Hegelschen Satzes bezieht. (Heideggers berühmter Titel wäre zu variieren: Raum und Sein.)
    Der Weltbegriff und sein unreflektierter Gebrauch ist die Grundlage und die Rechtfertigung zugleich für Machtpolitik und Gewinnökonomie, fürs Herrendenken. Die gleiche politisch-ökonomische Funktion und den gleichen Zweck erfüllte vor Konstituierung der „Welt“ die Idolatrie, der Götzendienst.
    Ethik als prima philosophia: die Ethik ist kein additum zu einer fix und fertigen Welt, sondern sie besetzt die Stelle, an der die Welt noch offen ist, und von der aus der die Welt begründende Schuldzusammenhang und die von der Welt ausgehende Verblendung durchschaut werden kann. Die Physik, oder allgemein die naturwissenschaftliche Aufklärung entgründet die Welt in gleichem Maße, in dem sie den Himmel entspannt.
    „Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel schauen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters.“ (Mt 1810) „Ihre Engel“: Sind das die Engel der Kinder, und wie unterscheiden diese sich von den Engeln Gottes (Engel Elohims, Engel JHWHs)? Woher kommt die Vorstellung vom Schutzengel (im Christentum seit dem 9. Jhdt. nachweisbar; an deren Stelle ist im 20. Jhdt. – in Auschwitz – die „Schutzstaffel“ getreten)?

  • 15.01.92

    Christentum: Trinitätslehre als Verinnerlichung der Genealogie für Nicht-Juden, für die Heiden? Zusammenhang mit dem mißverstandenen vierten Gebot? Bedeutung der Opfertheologie (antisemitische Struktur: wird nicht der Vater als Vater, d.h. durch Aufspaltung: durch Verinnerlichung als „lieber Vater“ und Vergegenständlichung als Sadist, geleugnet)?
    Großartig der Nachweis Lillian Kleins, daß das Buch „Richter“ doch strenger an diesen Titel gebunden ist, als bisher wahrgenommen wurde: als Darstellung des Zwangs und der Folgen, die sich aus der Trennung des Richtens vom Bund JHWHs mit Israel, des Richtens von der Barmherzigkeit und der Verknüpfung von Richten und Gewalt (aus der weltkonstitutierenden Logik des Richtens) ergeben? (Bei Lillian Klein Abensohn keine Bemerkung zur Jotam-Fabel oder dazu, daß Samson auf dem Schoße der Dalilah stirbt?) Beschreibt das Buch nicht die Entstehung der Raumvorstellung, der „subjektiven Form der Anschauung“ (kein König in Israel, jeder tat was er wollte; hier werden die Bejaminiten zu „Linkshändern“, bis hin zum Mord an der Konkubine des Leviten, am Ende zu Opfern; und hier werden die entscheidenden Siege „aus dem Hinterhalt“ erfochten – es verschwinden das „Angesicht“ und Gottes Rechte)?
    Saul kam aus Gibea in Benjamin, während David den Goliat mit Hilfe einer Steinschleuder erschlug.
    Gegen Rousseau: Es gibt keine ursprüngliche heile Natur, die erst durch Vergesellschaftung (durch den Gesellschaftsvertrag: durchs Eigentum, durch das Inzestverbot und die Monogamie, durch die Schrift und den Logozentrismus) verdorben worden wäre. (Auch die Schellingsche Naturphilosophie steht noch im Banne Rousseaus: Was bedeutet der Begriff der Welt in Schellings Titel „Weltalter“?)
    Der moderne Naturbegriff gründet nicht in der Gewalt, sondern er begründet auch Gewalt: die Gewalt, die das Äquivalent der Stummheit ist (wenn Sprache nichts mehr bewegt). Heute ist die ganze Sprache durchsetzt von der Stummheit: sie spricht nicht mehr, seitdem sie im Objektivationsprozeß ihr Subjekt verloren hat.
    Wenn die Sumerer die Erfinder des Privateigentums waren, war Babylon dann die erste Stadt?
    Der Kampf gegen die Idolatrie ist die erste Phase der Auseinandersetzung mit der städtischen, verdinglichenden, weltproduzierenden Gewalt.
    Ist die Marxsche „resurrectio naturae“ eine Konsequenz aus dem Rousseauschen Naturbe#griff?
    Freuds „Totem und Tabu“ krankt daran, daß es als ein pyschologischen (innerlichen) Vorgang faßt, was in Wirklichkeit eine gesellschaftlicher ist; er projiziert das Problem in ein dem Stand der Sache nicht ganz entsprechendes gesellschaftliches Umfeld, in das der sogenannten „Primitiven“. Die „Wilden“ sind erst in der Aufklärung entdeckt worden; sie haben hier eine entscheidende systemabsichernde Funktion (das Erbe Rousseaus: Kriterium der Unterscheidung ist für ihn die Schrift; piktographische, ideographische und alphabetische Schrift – haben Arnold Hauser und Max Raphael etwas über den Ursprung der Schrift geschrieben?).
    Satan: der Ankläger; Teufel (diabolos): der Verwirrer; Dämon: Verteiler, Zuteiler (des Schicksals).
    Benjamins Wort über Rosenzweig, daß er es vermocht habe, die Tradition auf dem eigenen Rücken weiter zu befördern anstatt sie seßhaft zu verwalten, steht in der christlichen Tradition: das „Auf dem eigenen Rücken“ entspricht präzise der Übernahme der Schuld der Welt.
    Emmanuel Levinas Einwand der Asymmetrie gegen Bubers dialogisches Prinzip hat die Unterscheidung von „Hinter dem Rücken“ und „Im Angesicht“ zu Grundlage. In der Symmetrisierung von Ich und Du triumphiert das „Hinter dem Rücken“, triumphiert die Gemeinheit, die unter der Buberschen Prämisse ins Unbestimmbare verschwindet.
    Der biblische Begriff des „Schreckens um und um“ bezeichnet den Ursprung des Selbstmitleids (beachte den Unterschied, mit dem Mann und Frau der Verführung des Selbstmitleids unterliegen: der Verführung, sich als Gegenstand oder als Subjekt als Natur oder als Welt, von außen zu sehen).
    Das „Im Angesicht“ ist ein sprachlicher Sachverhalt, das „Hinter dem Rücken“ ein optischer (es steht unter dem Primat der Anschauung). Und „der Fall“ ist ein Fall aus der Sprache in die Anschauung. Das „Im Angesicht“ liegt vor dem Moment, in dem „ihnen die Augen aufgingen“: und sie „erkannten, daß sie nackt waren“, und sie “ schämten sich“. Die Scham ist ein Zeichen dessen, daß das „Im Angesicht“ nicht ganz vergessen ist. – Hängt damit die strukturelle Differenz zwischen Radio und Fernsehen (Faschismus und Post-Faschismus) zusammen? Erst das Fernsehen liefert zur Stimme (zur Stimme Hitlers) auch das Bild, verschiebt das Antlitz aus dem sprachlichen in den optischen Bereich, macht es damit endgültig unkenntlich.
    Der Heideggersche Begriff der Frage (der zum Rundfunk-Zeitalter gehört) hat seinen Focus in der „Seinsfrage“, und zu dessen Metastasen gehören die „Judenfrage“ oder die „deutsche Frage“; er bezieht sich nicht mehr auf die Möglichkeit einer Antwort sondern – wie das Rätsel und die mathematische Aufgabe – auf die einer „Lösung“ (der Vergleich der „Lösungen“ der letztgenannten „Fragen“ wirft Licht auf den zentralen Punkt), das aber heißt, er ist ohne Gewalt nicht zu denken; seine früheste Anwendung findet er in der Geschichte von Alexander und dem gordischen Knoten.
    Sprachlich unterscheidet sich die Frage von der Antwort durch das Heben oder Senken der Stimme am Ende. Das Senken der Stimme ist zugleich der autoritäre, der beruhigende Gestus, während die hohe Stimme Unselbständigkeit, Unsicherheit, Panik signalisiert (das Erheben der Stimme zeigt Empörung an: sie erhebt sich gegen die Ruhe der Autorität). – Wodurch unterscheidet sich das Sich Senken vom Fall? Der Empörung folgt der Fall, während das Sich Senken eine autonome, selbstbewußte Handlung ist.
    Die eigentlich Botschaft in Hitlers Reden lag in der Stimme, in ihrem Tonfall; Hitlers Stimme vereinigte den autoritären mit dem panikerzeugenden Gestus (das Gleiche gilt heute von jeder politischen Rede; ihre Vorläufer hat sie in der Predigt).
    Merkwürdig, daß Rousseau (und Derrida übernimmt das unreflektiert) die Artikulation der Rede, als Voraussetzung der Ausbildung der alphabetischen Schrift, negativ besetzt. Er erfährt darin (wie im Logozentrismus) nur den autoritären Gestus, den Gestus dessen, der dem anderen etwas einreden will, während er den daran geknüpften Wahrheitsbegriff und allgemein das Menschenfreundliche der sich artikulierenden Vernunft (gleichsam im Vorgriff auf das Derridasche Konzept der Dekonstruktion) denunziert. Grund ist die Rousseausche Versenkung des Göttlichen in die stumme Natur.
    Ist es ein Zufall, daß der Sozialismus als erster seine fundamentalistische Phase hatte? Und wäre nicht eine Kritik des vergangenen „real existierenden Sozialismus“, die auf dieses Moment abstellt, die einzige, die dem derzeitigen Stand noch angemessen wäre?
    Ist nicht der Darwinismus ein Vulgär-Hegelianismus, in dem das Herrschaftsmoment des Begriffs sich endgültig durchsetzt?
    Ist die Wendung „den Himmel aufspannen“ nicht ein sprachlicher Ausdruck der Spannung, mit der das Im Angesicht und die Barmherzigkeit (die Bewahrung der rechten Seite) gegen die neutralisierende Gewalt des Raumes ankämpft: ein anderes Wort für das „emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae“: Der Gerechte trägt seinen Teil bei zur Erhaltung der Welt, indem er deren Schuld (den Grund der Asymmetrie zwischen Ich und Du) auf sich nimmt und so seinen Teil beiträgt zur Aufspannung des Himmels und zur Begründung der Erde, zur Erneuerung des Antlitzes der Erde (die Asymmetrie zwischen Ich und Du begründet das „Im Angesicht“, während die Symmetrisierung der Beziehung unter der neutralisierenden Gewalt des Raumes steht und „hinterm Rücken“ verbleibt).

  • 12.01.92

    Das Moment der Verführung im Sündenfall steckt in der Anklage, die die Schlange gegen Gott erhebt: er versuche. die Menschen zu betrügen. Dieser Vorwurf setzt das Prinzip der Selbsterhaltung frei: die Erkenntnis des Guten und Bösen, mit der Folge, daß ihnen die Augen aufgingen, und sie erkannten, daß sie nackt waren, und sie schämten sich.
    Die Verdinglichung ist ein Nebeneffekt der Vergesellschaftung, und über die Verdinglichung setzt sich die Vergesellschaftung durch (die zugleich als Entlastung von Schuld und Verantwortung, als Exkulpation erfahren wird, die dann bewußtlos in die Zwänge hereinführt, die in der jüdischen Tradition mit dem Begriff Idolatrie bezeichnet wurden).
    Abel ist nach Meyers Lexikon der Atem, der Hauch (das vokalische Element). Hängt es damit zusammen, daß Abel ein Hirt war, und daß sein Opfer Gott wohlgefällig war, und daß er zum ersten Opfer wurde? (Gibt es eine Abel-Tradition, ist Jakob, ebenfalls ein zweiter Sohn, ein Abel redivivus?)
    Adorno: war er nicht ein Daniel in der Löwengrube?
    „Bruchstücke einer letzten Konfession“? – Motto: „Seht ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.“ – Hegel und Franziskus (unum daimon plus scit quam tu).
    Das christologische Element in Rousseaus Naturbegriff (Vergöttlichung des Opfers) hängt mit der exkulpatorischen Funktion dieses Naturbegriffs zusammen (dem Wunsch nach einem sprachtranszendenten Objektbegriff, nach stummer, bekenntnisfreier Versöhnung: man muß endlich auch einmal vergessen können). In der Ahnung, daß das heute nicht mehr reicht, sucht die Verzweiflung Zuflucht in einem Religionsbegriff, der vor dem der Offenbarungsreligion liegt.
    Keine Wahrheit ist gegen ihre Instrumentalisierung gefeit. Deshalb hören alle nur noch, wofür oder wogegen einer ist, nicht mehr, ob das, was er sagt, wahr ist; und hinter jedem Argument wittert man das Eigeninteresse des anderen, die Gefahr selber „untergebuttert“, „vor einen Karren gespannt“ zu werden. Dagegen hilft auch nicht ein Wahrheitsbegriff, der sich an die Faktizität (die Kriterien der Beweisbarkeit) klammert. Hier kommt es dann nur noch aufs Rechtbehalten an, aufs Überzeugen, gleichgültig, welche Interessen dahinter stehen, während, wie die Vorurteilsforschung erwiesen hat, der Antisemit unbelehrbar ist. Es gibt keine Wahrheit, in deren Begriff nicht die Idee der richtigen Gesellschaft enthalten ist (dem versucht der „christologische“ Naturbegriff sich zu entziehen).

  • 10.01.92

    Durch seinen selbstreferentiellen Bezug aufs Inertialsystem verändert das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit die Beziehung der Dinge zum Raum (zum Inertialsystem und damit zu den naturwissenschaftlichen Begriffen insgesamt) derart, daß einer unreflektierten Hypostasierung des Raumes (und damit jeglicher unreflektierten Hypostasierung überhaupt: dem Prinzip der Verdinglichung) der Boden entzogen wird. Hiernach sind die Dinge nicht mehr im Raum, sondern der Raum gründet in den Dingen. (Kehrt das Ätherproblem in der Frage „Wie sieht es im Innern der Erde aus?“ wieder? Ist v. Weizsäckers Theorie des Ursprungs der Sonnenenergie eine logisch nicht zu Ende gedachte Konsequenz aus einem Systemzwang?)
    Die christologische Struktur des modernen Naturbegriffs ist begründet in der Verwischung der Differenz von Ursprung und Objekt im Inertialsystem: in jener Identität von Subjekt und Objekt, die in Hegels Satz „das Eine ist das Andere des Anderen“ sich widerspiegelt und in der Logik des Begriffs auf die Verdrängung des „Einen“ hinausläuft, die „verandernde Kraft des Seins“ begründet.

  • 08.01.92

    Das Selbstmitleid erstickt den Anderen: es entzieht dem Anderen die Möglichkeit des Mitleids, der Identifikation. Man kann den, der sich ins Selbstmitleid fallen läßt, verstehen, aber man kann ihm nicht mehr helfen: und diese Situation ist nicht zu ertragen. Insbesondere ist die Gefahr, selbst dem Selbstmitleid zu erliegen (und die eigene Schuld in den Anderen zu projizieren), kaum abzuwenden. Dieser Mechanismus gehorcht einer geradezu naturwissenschaftlichen Logik.
    Die Philosophie verdrängt den Schrecken, indem sie sich in die Stelle seines Ursprungs setzt, sie verlagert ihn im Innern in den blinden Fleck (und zugleich nach draußen: in den Begriff der Materie); sie antizipiert die Erfindung der Narkose, aber sie hebt den Schrecken nicht auf. Die Prophetie hingegen versucht, den Schrecken zur Quelle ihrer Inspiration zu machen. Das Mittel, mit dem die Philosophie sich selbst unter Narkose setzt, ist die subjektive Form der äußeren Anschauung, Grundlage des Thoriebegriffs und Motor der Entsinnlichung der Welt: der Raum. Die Hypostasierung des Raumes ist das proton pseudos des modernen Bewußtsein, der parvus error in principio: der Grund nicht nur der Abtrennnung und Vergegenständlichung der Materie und der Zeit, sondern auch der Urteilsform und der Konstituierung der Totalitätsbegriffe Welt und Natur, der Tod der Sprache und der Prophetie.
    Vor dem Schuldvorwurf rettet nur die Rechtfertigung; aber es gibt keine Rechtfertigung ohne Anklage und Schuldverschiebung (Grund der Ideologie). Über die exkulpierende Kraft des Wissens (Resultat des akkusativischen Denkens), oder über die dämonische Struktur der transzendentalen Logik (anklagendes Denken und Verwirrung der Begriffe). Begründung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Umkehr und der „Übernahme der Schuld der Welt“. Parakletisches Denken ist als Erbe des prophetischen: verteidigendes Denken.

  • 07.01.92

    Orientalistik eine Veranstaltung zur Bannung einer Gefahr: Hintergrund ist der Zusammenhang mit der jüdisch-biblischen Tradition. Auch die Bibelwissenschaft (vgl. O. Loretz: Ugarit und die Bibel) kann aus methodischen Gründen den Anspruch, den die Schrift (als Prophetie – im Unterschied zur Philosophie, deren Anspruch auf Rationalität „leichter“ zu erfüllen zu sein scheint) stellt, nicht akzeptieren (Konsequenz der Phänomenologie: Übertragung der Husserlschen Epoche auf die historische Kritik; Nominalismus, „Wesensschau“ = Absehen von der Existenz und Neutralisierung der Prophetie gehören zusammen). Grund ist u.a. ein Realitätsverständnis, das sich der – auch die Menschen ergreifenden – verdinglichenden Gewalt der Naturwissenschaften verdankt, und das a priori jeglichem religiösen Gedanken die Objektivität bestreitet, ihn der Subjektivität, der bekenntnisreligiösen Willkür überantwortet (ohne deren Geheimnis auszusprechen: Kriterium des Bekenntnisses ist seine herrschaftstechnische Zweckmäßigkeit, die aber nur wirksam ist, wenn sie verschwiegen wird: als Trug – objektiver Grund der hegelschen „List der Vernunft“).
    Griechische und hebräische Schrift: ist der Unterschied der Schreibrichtungen ein Hinweis auf die Beziehung beider Schriften, die sich wie die zwei Seiten eines Blattes (wie die griechische Philosophie zur jüdischen Prophetie) zu einander verhalten?
    Derrida zufolge gründet das Rousseausche Konzept des Ursprungs der Sprache in der Erkenntnis, daß „die Gesellschaft, die Sprache, die Geschichte … gleichzeitig mit dem Inzestverbot“ entstehen (S. 453). Hat der Ursprung der Schrift etwas mit den Menschen-(Kinder-)Opfern der Phönizier (und diese mit ihrer Funktion in der Ökonomie der altorientalischen Reiche) zu tun? Ist der Moloch die Katastrophe, die sich in der Artikulation der Sprache und im Ursprung der (deshalb zunächst konsonantischen) Schrift manifestiert. Welche Bedeutung hat dann die „Bindung Isaaks“? – Gibt es andere (nicht gleich erkennbare) Hinweise auf den Ursprung der Schrift (Ursprung der Stadt; Schrift und Abgeltung des Opfers durch das Königtum und dann durch Philosophie oder Prophetie)?

  • 05.01.92

    Wenn in einem Gespräch das Vorurteil ins Spiel kommt, so ist das in der Regel daran zu erkennen, daß Faktenfragen zu Grundsatzfragen erhoben werden: die Fakten müssen mit dem Gewicht der eigenen Person abgesichert werden, um ihre Entlastungsfunktion (ihre Exkulpierungsfunktion) sicherzustellen (und ihre Bestreitung nimmt dann notwendigerweise den Charakter der persönlichen Beleidigung an: sie wird Schuldvorwurf erfahren).
    Zu Loretz „Alkohol und Sex …“ (Ugarit und die Bibel, S. 122):
    – Gegen die sexistisch-verdinglichte Interpretation ist auf die andere Bedeutung des Taumelkelchs und der Hurerei bei den Propheten (und auf Hegels „kein Glied nicht trunken“) hinzuweisen;
    – sind der „Sex“ und der Alkohol Zivilisationsdrogen, während die „harten Drogen“ (wie die unkontrollierte Liebe) deshalb Ängste auslösen, weil sie die Gefahr, aus der „Welt“ (aus der Zivilisation) herauszufallen, signalisieren?
    Die Welt ist die Welt des Anderen (sie gründet in seinem Namen; Repräsentant dieses Namens, in dem die Welt gründet, war der König, der Gesalbte, Erbe des Opfers); und wer einen Menschen tötet, zerstört nicht eine Welt, er zerstört seine eigene Welt (er zerstört im Anderen, in seinem Namen, die sprachlichen Wurzeln seiner eigenen Welt: Konsequenz des Zerfalls der Monarchie?). Kain wurde nach dem Brudermord „unstet und flüchtig“ (wie der Dornstrauch in der Jotam-Fabel und das transzendentale Subjekt in der transzendentalen Logik: Genesis des namenlosen Objekts). Deshalb gehört der Gerechte zu den Wurzeln des Bestehens der Welt.

  • 04.01.92

    Wenn die Deutschen gemein sind, sind sie es mit gutem Gewissen.
    In Deutschland steht im Strafprozeß der Anwalt des Rechts dem Anwalt des Staates gegenüber; die Folgen für das Recht sind daraus ableitbar.
    Zweideutigkeit des Begriffs „raten“: im intransitiven Gebrauch bezeichnet er das Lösen eines „Rätsels“, im transitiven Gebrauch die Beratung von jemandem (der Regierung, des Königs). Im deutschen Verwaltungswesen gibt es den Regierungsrat, gibt es die Beratungsgremien, zu denen auch die Kontrollgremien: die Rechnungshöfe, gehören. Welche Funktion hatte ei#gentlich der „Geheime Rat“ zu Kaisers Zeiten? War es die Funktion, die heute zum „Ehrenamt“ demokratisiert wurde? Was drückt sich in dieser Amts- und Titelverschiebung aus?
    Ist Paul Klee konsonantisch und Chagall vokalisch?
    Das Inertialsystem ist Kristallisationszentrum dessen exzentrischen Charakter Einstein nachgewiesen hat (an die Stelle der kopernikanischen ist die Einsteinsche Wende getreten: das Gravitationsgesetz hat einmal die kosmische Geltung des Inertialsystems begründet, das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat sie entgründet).
    Im systematischen Kontext der Hegelschen Philosophie (d.h. der Philosophie überhaupt) ist das Problem der richtigen Organisation der Gesellschaft nur dezisionistisch zu lösen. Hier haben die Hegelsche Ableitung der Monarchie und die Heideggersche Entschlossenheit ihren systematischen Ort.
    Ist die Wechselbeziehung zwischen Barbaren und Hebräern und zwischen dem Taumelkelch und der Philosophie (die inverse Beziehung zwischen beiden) nicht doch tiefer begründet als nur logisch-etymologisch?
    Das Unreine ist ein Sinnesimplikat jeglicher Vereinigungsmystik, die theologisch nicht besser sich beschreiben läßt als durch den prophetischen Begriff der Hurerei.

  • 02.01.92

    Zu Derridas Kritik des Logozentrismus: nochmal die Christina von Braun lesen.
    Die Hypostasierung der Natur ist der Versuch, einen anti-christologischen Schöpfungsbegriff zu etablieren; die Idee eines stummen Schöpfers, eines Schöpfers, der ohne die Sprache erschafft (ebenso wie die Welt die Idee eines stummen Gerichts vor Augen stellt: eines ohne die Möglichkeit einer Einrede gefällten und sogleich vollstreckten Urteils. Der Säkularisationsprozeß ist ein Prozeß ohne Verteidigung, ein Prozeß, in dem der Verteidiger nur stört, Sand im Getriebe ist.
    Keine Philosophie wurde schneller vergessen als die Adornos: nämlich von seinen eigenen Schülern.
    Ist ein Raum vorstellbar (konstruierbar), in dem nur zwei Dimensionen umkehrbar sind. die dritte hingegen unumkehrbar.
    Büchners Lenz hatte bei der Wanderung durch die Vogesen den Wunsch, auf dem Kopf zu gehen; umgekehrt wollte Marx den Hegel vom Kopf auf die Füße stellen. Und war das nicht die entscheidende Wendung in der Geschichte der Rationalisierung der Musik, daß sie gleichsam umgekehrt und auf den Kopf gestellt wurde: daß die Melodiestimme von unten nach oben und die Begleitstimme von oben nach unten gerückt wurde? Ergab sich hieraus die Konsequenz der Zwölftonmusik? Beziehung zum Fall: das Tiefe (das Untere) wird heute als das Schwere, das Hohe (das Obere) als das Leichte erfahren. Aber ist es nicht die Welt, die uns auf den Kopf stellt (und haben damit nicht der Ödipus-Komplex und die Gewalt, die seitdem das Erwachsenwerden begründet, etwas zu tun)?
    Das metaphorische Element der Sprache hält die Spuren der Genesis ihrer Entfremdung fest. Ein gänzlich metaphorisch durchwirkter Text kommt der Wahrheit näher als ein Text, der durch Definitionen, durch verdinglichte und instrumentalisierte Begriffe festgezurrt wurde und daran erstickt ist. Die Metaphorik ist das Lebenselement der Sprache.
    Hat die Anatomie nicht eigentlich immer schon die Wahrheit als Leiche gemeint, und ist diese nicht ihr Modell? Hängt sie (bis hin zu den Menschenexperimenten in den Konzentrationslagern) nicht zusammen mit einem rekonstruierbaren blasphemischen Stand der Theologie und des Dogmas?
    Die Metaphorik beschreibt den Organismus des Sprachleibs, die Dogmatik seine Anatomie. Wenn wir begreifen, was in der alten Geschichte die Leberschau und die Beobachtung des Vogelflugs bedeuteten, welche Bedeutung die Ostraka im Zusammenhang mit dem Ursprung der Schrift haben, sind wir dem Verständnis der alten Welt und des Ursprungs des Christentums ein ganzes Stück näher gekommen.
    Die Finsternis und das Wasser sind nicht erschaffen, sondern als Nebenprodukte im Schöpfungsprozeß mit entstanden. Lernen, mit der Angst umzugehen, sie nicht zu verdrängen, wenn wir uns der Vorwelt nähern.
    Hatte nicht Habermas, und auf andere Weise generell die 68er Linke, noch ein gänzlich unangemessenes Zutrauen in Institutionen, in die Wirksamkeit der Mechanismen der Instrumentalisierung? Und war es nicht dieses Zutrauen, daß Habermas dazu verführte, die Naturkritik der Frankfurter zu vorschnell zu verwerfen? Das ist es, was dann in der nächsten Generation (bei Hauke Brunkhorst oder bei Micha Brumlik) gelegentlich völlig unkontrolliert ausbricht.
    Erst in einer Welt, in der die Sprache gegenstandslos wird, wird das Beten funktionslos.
    Was das Christentum in der Folge der Rezeption des Hellenismus nicht verstanden und am Ende dann verdrängt hat, ist, daß die Übernahme der Schuld der Welt sich auf einen sprachlichen Sachverhalt bezieht. Nur innerhalb dieses sprachlichen Zusammenhangs wird verständlich, was im NT Logos heißt.
    Die Asymmetrie im dialogischen Verhältnis korrespondiert mit der Asymmetrie von Zukunft und Vergangenheit, Sprache und Mathematik.

  • 01.01.92

    Die alphabetische Schrift ist (in ihrem phönizischen Ursprung) ein Hilfsmittel der Übersetzung, Feind des Autochthonen, Mittel der Hereinnahme des Fremden: Bewußtsein der Fremdsprache. Unterschiedliche Rezeption der alphatischen Schrift bei den Griechen und bei den Israeliten (vgl. die Barbaren und die Hebräer; das logozentrische Feindbild und seine Auflösung: Ursprung des Bekenntnisses?).
    Ist nicht die Altorientalistik eine Veranstaltung zur Bannung einer Gefahr?

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