Oktober 1992

  • 31.10.92

    Ähnlich wie die mathematische Naturwissenschaft zum Sternendienst und der Weltbegriff zur Idolatrie verhält sich das Opfer zur kapitalismusbegründenden Institution der Lohnarbeit, der Subsumtion der Arbeitskraft unters Tauschprinzip. Hier liegt der Grund für Benjamins Wort vom Kapitalismus als Opfer ohne Dogma. Der Begriff der Verweltlichung der Welt bezieht sich auf die fortschreitende Durchsetzung der Systemprinzipien: des Trägheits- und des Tauschprinzips, die aufs genaueste das fundamentum in re des Hegelschen Postulats bezeichnen, daß „das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ sei (Phänomenologie des Geistes, stw, S. 23).
    Im Begriff der Welt konstituiert sich das Anderssein als Substanz, überlebt der Tod das Leben.
    Es wäre wichtig, Affirmation und Kritik der Idolatrie, des Sternendienstes und des Opfers in der Konstruktion des Hegelschen Systems aufzuzeigen.
    Die gegenwärtige Weltphase ist eine Phase der Beschleunigung des Vergessens.
    Physik und Ökonomie (Inertialsystem und Geld, Trägheitsprinzip und Tauschprinzip): Was ist (beim Gordischen Knoten) Joch und was ist Deichsel? Was am Gordischen Knoten durchschlagen wird, ist erkennbar an seinem Produkt: die endgültige Definition der Grenze der Zivilisierten zu den Barbaren; hier entspringen der Weltbegriff und der Säkularisationsprozeß, und hier stabilisiert sich ein Bewußtsein, das dann ohne den Materiebegriff nicht mehr auskommt. Die Grenze zu den Barbaren, zum Begriff der Materie oder des Objekts, bezeichnet präzise die Schnittstelle, an der der Knoten durchschlagen wurde.
    Von den drei Totalitätsbegriffen der transzendentalen Logik: Wissen, Natur und Welt, die dann in der Abfolge der Systeme des deutschen Idealismus abgearbeitet wurden, erscheinen zwei im Stern der Erlösung unter anderem Namen, nämlich das Wissen als Mensch und die Natur als Gott. Nach der Umkehr, in der sie wechselseitig aufeinander sich beziehen, werden aus den drei Totalitätsbegriffen die theologischen Begriffe Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Aber gleichzeitig erscheinen Wissen, Natur und Welt auch in systematischer Funktion: als Nichtwissen, aus dem die Naturen von Mensch Welt Gott hervorgehen, die dann unterm Bann des Weltbegriffs zunächst jedes in isolierter Verschlossenheit, ohne Reflexion im anderen, in Erscheinung treten.
    Zu Gog und Magog: Die Gargarenser (Gogarener), die nach Ranke-Graves mit dem Volk Gog bei Ezechiel identisch sind, sind der den Amazonen zugeordnete Männerstamm: Sind das nicht die freien Männerhorden, die nach Heinsohn die Privateigentumsgesellschaft: den Staat, begründen?
    Wenn Haman ein Agagiter (Amalekiter) ist und gleichzeitig der erste Antisemit und der Erfinder der Endlösung, welche Bedeutung haben dann Ahasveros, Esther und Mordechai?
    Mit der Implantierung des Unschuldstriebs (hervorgegangen aus der falschen Übersetzung des Joh 129) ist das Christentum vollends böse geworden. Der Unschuldstrieb ist nämlich nur zu halten über die Dynamik von Exkulpation, Rechtfertigung und Projektion: den Fremdenhaß (Sodom vor der Zerstörung). Das Schuldverschubsystem kommt ohne Sündenböcke nicht aus.
    Zur Geschichte und Kritik des Nominalismus: Es gibt keinen Begriff der Wahrheit ohne die Fähigkeit zur Schuldreflexion. Wer das leugnet, verfällt zwangsläufig der Eigendynamik des Schuldverschubsystems, die in Xenophobie und Antisemitismus endet.
    Der Weltbegriff definiert und stabilisiert die dem jeweiligen Stand der Entwicklung angemessene Gestalt des Schuldverschubsystems und macht sie zugleich unsichtbar.
    Zur Korrektur der Metzschen politischen Theologie: Das Votum für die Armen bezeichnet nur eine Seite der Prophetie; dazu gehört die andere: das Votum für die Fremden, das anhand der für das gegenwärtige Weltverständnis zentralen Geschichten Jerichos und Sodoms zu bestimmen wäre.
    Daß die unreinen Geister in Jesus den Sohn Gottes erkennen, findet sein spätes Echo in den Grab- und Friedhofsschändungen der Rechten: Sie sind die letzten, die an die Auferstehung der Toten glauben und daran (gegen diesen Glauben) ihren Mut beweisen wollen.
    Im Angesicht Gottes und nicht hinter seinem Rücken, das heißt auch: Sich unter das Wort stellen, und nicht sich darüber erheben: d.h. die Prophetie bloß zu apologetischen Zwecken, als Steinbruch fürs Dogma, benutzen.
    Die Moral als Maßstab des Urteils fällt unter das Gesetz des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen, es gehört zur Geschichte des Sündenfalls, der Verweltlichung der Moral. Zu explizieren an der Sexualmoral, deren politische (prophetische) Bedeutung neutralisiert wird durch die Urteilsbeziehung im Kontext einer kasuistischen Moral. Adornos „erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer unrecht“ verweist auf den Bereich, in dem Moral allein sich begründen läßt: nämlich als Richtschnur des (eigenen) Handelns, während das Urteilen (das Richten) Gott vorbehalten ist. Politisch aber wird die Sexualmoral in seiner Beziehung zu der anderen Seite des Sündenfalls, zum „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren, und sie schämten sich“, in seiner Beziehung zu dieser Scham, die den gleichen geschichtlichen Index hat wie die Politik. Verletzt wird diese Scham durchs Obszöne, dessen Begriff eher auf Kriege, auf Knäste, auf die Existenz der Armut, auf Fremdenfeindschaft und Antisemitismus (bezeichnend, daß das sodomitische Modell der Fremdenfeindschaft in der Geschichte Sexualmoral auf den Verkehr mit Tieren bezogen worden ist: war das „Sexualobjekt“ der Leviathan?), aber auch auf staatliche Institutionen wie den Staatsanwalt und die Polizei sich beziehen läßt, als auf den unmittelbaren sexuellen Bereich.
    Bezieht sich das Jesuswort: „ich bin gekommen, Feuer vom Himmel zu bringen, und ich wollte, es brennte schon“, auf das „kreisende Flammenschwert“, dessen Erkenntnis in der Geschichte der Astronomie, zuletzt im kopernikanischen System, sich vorbereitet? Und hängt das, was im zweiten Schöpfungsbericht als „kreisendes Flammenschwert“ benannt wird, mit dem, was dem Produkt des zweiten Tages im ersten Schöpfungsbericht: der Feste zwischen den Wassern, die Gott dann Himmel, schamajim, nennt, zusammen?
    Von der Nachkommenschaft Abrahams heißt es, sie werde zahlreich sein wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Meer. Hängen diese Sterne und dieser Sand zusammen wie der Himmel und das Meer? Sind nicht die Sterne und der Sand (der „Staub“ des Fluches über die Schlange und über Adam nach dem Sündenfall, aber auch die „Wüste“) die ersten Objekte des historischen Objektivationsprozesses (kopernikanisches System und Relativitätsprinzip, Inertialsystem und die newtonsche dynamische Begründung des kopernikanischen Systems, Ursprung des Materiebegriffs)? Und sind diese Sterne und dieser Sand nicht auch ein anderer Name für die „Enden der Welt“: die Grenzen des „Missions-“ und Taufauftrags? Aber am Ende wird das Meer nicht mehr sein, und der Himmel wird sich aufrollen wie eine Buchrolle.
    In Hegels Philosophie kommt wohl der Begriff des Anderen, nicht aber der des Fremden vor.
    Hängt auch das mit dem Verhältnis von Sünde und Schuld (Ps 10914) zusammen, daß die Propheten vom Mutterleibe an berufen sind, Jesus aber vom Vater gezeugt ist, er zugleich die „Sünden der Welt auf sich nimmt“ und den Willen des Vaters tut?

  • 30.10.92

    Das „und was du auf Erden lösen wirst, …“ ist das Objekt des paulinische „Harrens der ganzen Schöpfung“ (auf die Freiheit der Kinder Gottes).
    Ist das Binden und Lösen nicht vorbezeichnet in der Geschichte der „Bindung Isaaks“?
    Wenn bei Hegel die Idee die Natur „frei aus sich entläßt“, dann erinnert das nicht zufällig an den sonstigen Gebrauch des Wortes Entlassen: an die Entlassung aus einem Arbeitsvertrag oder aus der Haft, wie überhaupt Verwaltung und vergesellschaftete Arbeit, Begriff und Strafvollzug nicht unabhängig von einander zu denken sind: alle stehen in einer vergleichbaren Objektbeziehung. Und was Hegel der Natur ankreidet: daß sie den Begriff nicht halten kann, ist eher ein Vorzug der Natur als ein Defekt des Begriffs. Nur: Als aus der Idee Entlassene ist die Natur für Hegel mit dem gleichen Makel behaftet, mit dem jeder Entlassene in der bürgerlichen Gesellschaft behaftet ist.
    Ontologie und Ethik stehen im Verhältnis der Umkehr zueinander.
    Ist die christologische Zwei-Naturen-Lehre nicht im Stern der Erlösung enthalten, und zwar in der Weise, daß sie mit dem Beginn der gleichen Bewegung (den Naturen Gottes und des Menschen im ersten Teil) zusammenfällt, aus der (durch Entfaltung und Umkehr) der Begriff der Offenbarung hervorgeht?
    Das Lamm, das berufen ist, die sieben Siegel zu lösen, hat diese Fähigkeit schon bewiesen in der Befreiung der Maria Magdalena von den sieben unreinen Geistern. Nur unter dem sexistischen Vorzeichen, von dem sich die theologische Tradition seit den Kirchenvätern nicht hat lösen können, wurde aus der einzigen, die die Umkehr vollzogen hat, die Büßerin, die es wohl schlimm getrieben haben muß.
    Müßte nicht in der Karfreitags-Liturgie die felix culpa durch das felix peccatum ersetzt werden; denn die felix culpa bezieht sich nicht auf die Schuld der Väter, sondern auf die Sünde der Mutter (Ps 10914).
    Ist bei den Sünden der Mutter nicht auch an Lots Weib (und an Jürgen Ebachs Hinweis dazu in „Ursprung und Ziel“, S. 147ff) zu denken?
    „Wenn ein Deutscher die Wahrheit sagt, ist er ein Grobian“: Ist der Begriff der Wahrheit in diesem Satz zu halten? Wird er nicht definiert durch einen Begriff der Lüge, der den Verzicht auf Herrschaftskritik zur Grundlage hat? Und ist es nicht ein Wahrheitsbegriff, zu dessen Voraussetzungen die Logik der Personalisierung und zu dessen Konsequenzen Xenophobie und Antisemitismus gehören? Zu seinen Konstitutionsbedingungen gehört der Zusammenhang des Weltbegriffs (Korrelat der Personalisierung) mit der Bekenntnislogik (dessen exkulpatorische Funktion die Sündenbockmechanik mit einschließt).

  • 29.10.92

    Sind die Orden nicht in der Tat ein Hinweis auf die Geschichte der (inneren und äußeren) Verweltlichung der Kirche, von den Eremiten, über die Gemeinschafts- und Armutsorden zum verweltlichten Gehorsamsorden der Jesuiten.
    Das Paradigma Natur und Welt hat die Welt höchst folgenreich gegen Gott und Mensch gekürzt. Der Naturbegriff leugnet die Auferstehung, der Weltbegriff die Schöpfung. Und die Kritik der Welt schließt das Votum für die Armen, die der Natur das für die Fremden mit ein. Es ist der Bann beider Begriffe über unser Bewußtsein, der die Sprache heute entmächtigt, depotenziert, sie ihrer benennenden Kraft beraubt. Seitdem verliert das Argument seine Kraft, es dankt ab gegen die einzige noch unmittelbar einleuchtende Instanz: die Gewalt, die in der Einrichtung der Welt sich manifestiert. Das Hegelsche Absolute war der Widerschein dieser Gewalt.
    Wie hängen das Votum für die Fremden und das für die Armen mit dem Vater und dem Sohn zusammen: Bezieht sich darauf das Hervorgehen des Geistes (des Parakleten: des Beistands)? Der Fremde rührt an den Grund des Angesichts, der Arme an den der Barmherzigkeit.
    Die Welt ist der Deckel auf der unerlösten Natur. Dessen genaueste Beschreibung findet sich in Elias Canettis „Masse und Macht“.
    Im Bilde der Primitiven und Wilden wird Ursprung und Ende der Menschheit zugleich vorgestellt. Nicht nur die Tieren, sondern in diesem Kontext auch die Anfänge der „gesellschaftlichen Entwicklung“, die sogenannten Primitiven und Wilden, erinnern an ein abgründiges Unheil in der Urzeit. (Kann es sein, daß die Velikovskysche Katastrophen- (Venus-) Theorie zu ergänzen oder zu korrigieren wäre durch Einbeziehung geologischer Katastrophen, zu denen auch die Trennung der Kontinente gehören müßte.)
    Das Lachen Abrahams und Saras und der Schrecken Isaaks sind Momente der Selbsterfahrung des Fremdseins.
    Die Klage über die „Unfähigkeit sich trösten zu lassen“ (Zeit der Orden, S. 30) ist nicht ganz unproblematisch. Angesichts der Unerlösbarkeit der Welt noch den kirchlichen Trost der Erlösungszuversicht haben zu wollen, ist irrational und blasphemisch. Da ist es fast schon komisch, wenn die Kirche feststellt, daß da niemand mehr ist, der sich von ihr trösten lassen will.
    Der Abschnitt über die „Ehelosigkeit“ (in dem Band über die Orden) ist merkwürdig blaß und abstrakt, auch seine Begründung. Das Ganze wäre wahrscheinlich unter dem Titel Keuschheit genauer zu bestimmen gewesen, wenn dieser aus den traditionellen sexualmoralischen Konnotationen herausgelöst und in den politischen Zusammenhang des prophetischen Gebrauchs der Begriffe Hurerei und Unzucht gestellt worden wäre (zusammen mit Erinnerung an den Ursprung der Scham im Sündenfall: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“, und der Aufnahme des Adornoschen „ersten Gebots“ der Sexualmoral: „der Ankläger hat immer Unrecht“: der Lösung der Sexualität aus dem Bann des Baums der Erkenntnis). Der zentrale Stellenwert der Sexualmoral in der christlichen Tradition ist viel weniger christlich als vielmehr ein gesellschaftliches Erbe aus der Zeit des Ursprungs der Anpassung des Christentums an die Welt (ein Erinnerungsmal an den Ursprung des Weltbegriffs selber), und damit sicherlich ein zentraler Punkt der Erinnerungsarbeit, die heute zu leisten wäre.
    Zum Gehorsam: Gehorsam kommt vom Hören und ist der eigentlich prophetische unter den evangelischen Räten; insbesondere hier, im Begriff des Gehorsams, ist das herrschaftskritische Moment, das der Prophetie und dem Hörenkönnen gemeinsam ist, endlich zu entdecken; der Gehorsam ist endlich aus dem autoritären Bann zu lösen.
    Die Umkehr, ohne die es keine Nachfolge gibt, hat nicht mehr nur eine einfache Richtung, sondern sie ist in sich selber differenziert (Verhältnis des einen zu den sieben unreinen Geistern).
    Der Hinweis (Jenseits bürgerlicher Religion, S. 13), daß die bürgerliche Religion „in der schwächlichen und unparteilichen Art, in der sie sich über alle leidvollen Gegensätze spannt, gar keine wirklichen Gegner mehr hat“, wäre zu ergänzen: außer sich selbst.
    Das Futur II gehört zu den Gründen der Welt.
    Die Differenz, die sich daraus ergibt, ob das Ja und Amen Jesu auf die Welt oder auf die göttlichen Verheißungen sich bezieht, drückt sich auch im Selbstverständnis der Theologie und in ihrem Verhältnis zur Kirche aus.
    Mir ist der Jonas, der in den Bauch des Fisches gerät, dann Ninive den Untergang ansagt und schließlich darüber enttäuscht ist, daß Ninive gerettet wird, lieber als Tobias und Tobit, die den Fisch erlegen, selber gerettet werden, aber dann mit ansehen müssen, daß Ninive zerstört wird.
    Wenn Drewermann mit einem deutlich empörten (und antisemitischen) Unterton die Psalmen „altorientalische Rachegesänge“ nennt, so vergißt er, daß wir, durch die Konstruktion der Welt, in der wir leben, selber die Rache nur noch kalt genießen. Die Rache ist längst in als Bindekraft in die Fundamente der Welt mit eingegangen: Sie ist die Sünde der Welt, die Jesus nach dem Wort des Täufers auf sich (nicht hinweg) genommen hat; und hierauf bezieht sich das Nachfolgegebot. Wie tief die Rache in der Konstruktion des Gewaltmonopols des Staates und des Rechts, das hierauf gründet, drinsteckt, wird deutlich, wenn man das Wirken der Generalbundesanwaltschaft oder des Bundeskriminalamts und auch der Staatsschutzgerichte näher betrachtet; hiermit hängt es rechtssystematisch zusammen, wenn Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist. Wenn in Deutschland der öffentliche Ankläger Staatsanwalt heißt, wenn der Staat selber sich zum Prinzip der Anklage gemacht hat, und den Staatsanwalt zu seinem Anwalt, so schirmt er sich damit nur gegen die Reflexion dieses Zusammenhangs ab und macht ihn damit umso gefährlicher: So ist er jeder Kontrolle entzogen. Als (verständliche, wenn nicht notwendige) Rache rechtfertigt sich immer noch jede Untat. In jeder Empörung steckt etwas von dieser Rechtfertigungs-, d.h. Exkulpierungsautomatik.
    Vorschlag für eine Reform des Rechts in Deutschland:
    – den Staatsanwalt wie in anderen zivilisierten Ländern öffentlichen Ankläger nennen (der Tradition der deutschen Staatsmetaphysik die Grundlage entziehen);
    – die Anerkennung der Trunkenheit als Strafmilderungsgrund gesetzlich ausschließen (und damit eine Quelle der Gewalt verstopfen).
    Der Begriff des Andern ist nicht nur systemimmanent, sondern zugleich der Systemgrund, der am Ende in der Selbstzerstörung des Systems durchschlägt (in diesen Kontext scheint der Derridasche Dekonstruktivismus zu gehören).
    Die selbstgestellte Aufgabe der Fernsehsendung „Weltspiegel“ scheint es zu sein, den Schrecken, den der Zustand der Welt heute auslöst, durch Empörung zu neutralisieren, und noch das Elend als Mittel zur Einübung des Herrendenkens zu nutzen.
    In der Xenophobie reflektiert sich die unverarbeitete Erfahrung des Gewaltmonopols des Staates in der vom Marktparadigma beherrschten Gesellschaft.
    Was J.B. Metz gelegentlich über Einstein (der ein schlechter Schüler und ein langsam Lernender war) berichtet, gehört mit zur Einsteinschen Wende.
    Die christliche Sexualmoral verwechselt die Reflexion der Blöße mit dem Aufdecken der Blöße. Die Befreiung entspringt der Reflexionsfähigkeit, die die Sexualmoral als Mittel des Urteils über andere unbrauchbar macht.
    Es gibt schon zuviel Vergangenheit, von der wir glaubten, erinnerungslos Abschied nehmen zu können, und die seitdem erinnerungslos verschollen zu sein scheint, in Wahrheit jedoch nur verdrängt ist.
    Die Geschichte des Christentums basiert auf der Verinnerlichung des Schicksals (und somit auf der Geschichte der Philosophie), und sie ist selber Teil der Geschichte der Verinnerlichung von Herrschaft (und damit eine wesentliche Ursache der Verweltlichung der Welt, die am Ende die Herrschaftsmetaphorik, die die christliche Religion historisch, im Dogma wie in seinen Institutionen geprägt hat, aufzehrt: die Geschichte der Entzauberung ist die Geschichte der Aufzehrung dieser Herrschaftsmetaphorik, der Aufzehrung des Bewußtseins der Herrschaft von sich selbst: der Erinnerungslosigkeit).

  • 28.10.92

    Ist hier der Gottesbeweis versteckt? Es gibt nicht „die Natur“; die wird von der Rosenzweigschen Kritik des „All“, dessen Einheit die des Falls ist, durch den Hinweis auf das Nichts, das Rosenzweig an der Todesfurcht (dem subjektiven Korrelat der Todesgrenze, die der Weltbegriff markiert) demonstriert, getroffen und widerlegt. Der Fall geht aber nicht nur in eine Richtung (es gibt nicht nur die eine Gestalt des Bösen, sondern drei: den Ankläger, den Verwirrer und den Zuteiler; entsprechen dem die drei Rosenzweigschen „Naturen“?): er ist auf eine subtile Weise an die Form des Raumes gebunden, in der ebenfalls Subjektives und Objektives in einer Weise gebunden sind, deren Lösung das Problem der Begründung der Theologie ist. Entspricht den drei Richtungs- (d.h. Umkehr-) Beziehungen im Raum, die sich unmittelbar nur anthropomorph demonstrieren lassen, ein Objektives: entspricht dem Abbild etwas, das durch es abgebildet wird? Steht die Welt unter dem Primat
    – der im Kontext des Weltbegriffs nicht mehr unterscheidbaren Potenzen des Hinter dem Rücken (des Opfers), der Linken (der Astronomie) und des Unteren (der Idolatrie) und
    – ihrer Neutralisierung durch die mathematische Gestalt des Raumes, die Vorstellung einer homogenen Zeit und den erkenntniszerstörenden Objektbegriff?
    Wenn Kant die Begriffe Welt und Natur als mathematische bzw. dynamische Totalitätsbegriffe (als das „mathematische“ bzw. „dynamische Ganze der Erscheinungen“) definiert, so enthält das die Auflösung des Problems der subjektiven Formen der Anschauung und damit der transzendentalen Logik insgesamt, die ihren Kern (ihren blinden Fleck) in dem der transzendentalen Ästhetik, der subjektiven Formen der Anschauung hat (Konstruktion der Äußerlichkeit, Trennung von Außen und Innen).

  • 27.10.92

    Alle Zeit ist potentielle Vergangenheit (und nur durch Umkehr: durch die Idee der Auferstehung der Toten, auf die Idee der Ewigkeit zu beziehen). Die einseitige Erkenntnisbeziehung, die seit dem Ursprung des Weltbegriffs die vorherrschende ist, ist genau das, was Unzucht genannt wird: die Vergewaltigung des Objekts. Wenn das hebräische Wort für Arche („teba“) auch Wort heißt, ist dann die Geschichte der Arche und der Sintflut eine Ergänzung der Geschichte von der Benennung der Tiere durch Adam? Parvus error in principio: Das Dogma, wonach Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat, ist in allen drei Stücken falsch, und es widerspricht in allen drei Stücken dem ersten Satz der Genesis; es ist entweder – Gott durch den Staat, oder – die Welt durch Himmel und Erde zu ersetzen; – und das Nichts, aus dem Gott die Welt erschaffen hat, ist der durch den Weltbegriff erzeugte blinde Fleck in uns, Widerschein der leeren Subjektivität, Antwort auf die von der Logik, aus der der Materiebegriff stammt, bestimmte, theologisch aber falsche Frage nach dem Woraus. Insgesamt ist es der Versuch, den Schöpfungsbegriff auf eine Formel zu bringen, der die Rezeption der Philosophie in die Theologie ermöglichte und absicherte, und die zugleich den fragwürdigen Vorteil hatte, daß sie den Begriff der Umkehr unnötig, weil gegenstandslos machte. So aber wurde die Theologie gegen sich selbst gekürzt. Die Frage, auf die die Theologie in der Schöpfungslehre mit Nichts antworten zu müssen geglaubt hat, nämlich: woraus Gott die Welt erschaffen hat, ist falsch. Es gibt kein Woraus. Diese Frage entspringt einem logischen Zwang, der aufzulösen ist, wenn man überhaupt der Schöpfungsidee sich nähern will. Es ist der gleiche Zwang, dem der Ursprung des Begriffs der Materie in der Philosophie sich verdankt. Das Nichts ist Produkt der Unzucht, der inzestuösen Beziehung von Subjektivität und Welt. Es ist, wenn es der eigenen Logik folgt, Generator des Naturbegriffs, in dem es sich versteckt. Die Totalität dessen, worauf sich das Woraus bezieht, heißt Natur, die in theologischem Zusammenhang als Nichts sich enthüllt. An dieser Frage erstickt die Heideggersche Philosophie, verstummt sie wortreich. Und aus der Hypostasierung dieser leeren Frage, aus ihrem lustvollen Scheitern, versucht sie, ihr Prestige zu gewinnen: Sie zerbricht, indem sie als Frage nach dem Sinn von Sein sich zu entfalten versucht. Der blasphemische Tief- und Irrsinn der Heideggerschen Philosophie gründet im parvus error in principio der Theologie. Die Kategorie der Erhaltung der Welt ist ein Reflex des Selbsterhaltungsprinzips; und wenn der Islam an seine Stelle die – den Islam, die Ergebung, begründende – Lehre setzt, daß Gott in jedem Augenblick die Welt neu erschafft, so verweist das darauf, daß hier Welt und Subjektivität sich nicht so konsolidiert haben, wie dann im Christentum. Der Staat erschafft die Welt, und die Zentralbanken erhalten sie (gemeinsam mit dem staatlichen Gesetzgeber). Aber die traditionelle Theologie ging wirklich über Stock und Stein, ihr logisches Zentrum, ihr Einsichtspunkt, war nicht dort, wo sie vorgab, ihn zu suchen. Gnade und Schicksal: Auch zur Gnade gehört der Zuteiler, der daimon. Deshalb gehört die augustinische Gnadenlehre zu den Ursprüngen der Inquisition und des Terrors im Christentums: sie wird das mit der Philosophie rezipierte Schicksalserbe, das hier zwangshaft sich reproduziert, nicht los. Die christliche Gnadenlehre läßt sich als ein Versuch begreifen, das Schicksalsmoment im Begriff theologisch aufzuarbeiten, wobei die Differenzierungen des Gnadenbegriffs selber als Momente der Selbstreflektion des Schicksals und der Abarbeitung des philosophischen Erbes der Theologie sich erweisen. Das aber heißt: Es gibt keine wirkliche Gnadenlehre ohne Herrschaftskritik und ohne die Reflektion des Moments der Unwahrheit an der intentio recta, oder: ohne die Idee der Umkehr. Die aber hat heute etwas mit den sieben unreinen Geistern, und nicht mehr nur dem einen zu tun. Bei Rosenzweig ist die Natur, aus der alles abgeleitet wird, eine durchs Nichtwissen vermittelte, gleichzeitig das Substrat, das erst durch vollständige Umkehr zur Verkörperung der Wahrheit wird. Der Stellenwert des Naturbegriffs im Stern der Erlösung, seine Aufspaltung in drei Naturen (die des Menschen, der Welt und Gottes), die dann aber als Konstrukte sich erweisen, die erst durch Umkehr (das Bild vom Koffer), durch eine Bewegung, in der ihr Natursein sich auflöst, der Naturbegriff gleichsam gegenstandslos wird, in den theologischen Erkenntnisprozeß einbezogen werden, rückt Philosophie und Theologie allgemein in eine Beziehung, die der inversen Beziehung des Begriffs zum Namen entspricht. Erst in dieser Umkehr wird die Natur von ihrer Sprach-losigkeit (aus dem Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhang, in dem sie überhaupt erst als Natur sich konstituiert) erlöst, indem sie als Natur untergeht: Hier liegt die der Kirche verheißene lösende Kraft, an der die Theologie Anteil gewinnt, wenn sie endlich als Theologie im Angesicht Gottes sich begreift, anstatt weiterhin hinter Seinem Rücken sich zu ergehen, nur weil sie Angst hat, mit der Kritik des Begriffs ins Bodenlose zu fallen. Wer begreift, daß die Banken die legitimen Erben der alten Tempelreligionen sind, begreift mehr von der Religion als unsere gesamte Theologie. Ist es ein Zufall, daß die Hostien der katholischen Eucharistie aussehen wie Münzen? Wenn Petrus nicht der Stein vorm Grab ist, ist er dann der Fels, in den das Grab gehauen ist? Und zögert er deshalb, ins leere Grab hineinzugehen, sich vor dieser Selbstbegegnung fürchtet? Die paulinischen Archonten, sind sie nicht – die Nachfahren der Kerube mit dem kreisenden Flammenschwert und – die Siegel, die erst das Lamm zu lösen vermag?

  • 26.10.92

    Metz, S. 138f, vgl. auch S. 77ff: Hier ist leicht zu bestimmen, wo der Fehler liegt, wo M. nicht zu Ende gedacht hat.
    S. 140: Wie verhält sich Gemeinde zu Kirche? Beziehung des Begriffs Gemeinde zu Allgemeinheit, Meinung, Gemeinheit: zum Possessivpronomen 1. Pers. Sing.
    Heidegger benennt das Gefängnis, in das das Dasein geworfen ist, den Ort der Isolationshaft, aufs präziseste: das In-der-Welt-Sein.
    Die Verinnerlichung des Schicksals (und der Ursprung des Begriffs und des Weltbegriffs) ist der Keim der Geschichte der Entfaltung, und am Ende auch wieder der Verinnerlichung von Herrschaft. Beide sind im Weltbegriff auf einander bezogen und nur durch ihre gemeinsame Beziehung zum Weltbegriff hindurch zu begreifen. Das Herrendenken hat seinen Ursprung in den Anfängen der Philosophie.
    Zu Brot und Wein vgl. Spr 417: Sie (die Frevler) essen das Brot des Unrechts und trinken den Wein der Gewalttat.
    Was solche Lieder bewirken wie „Der Glaube ist nun fest verbürgt, … das Leben hat den Tod erwürgt“, ist kaum abzuschätzen; ähnlich „… hilf uns hier kämpfen, die Feinde dämpfen, Sankt Michael“.
    Woher kommt der Name der Griechen? Nachdem die „Hebräer“ sich als Israeliten erweisen, die „Griechen“ im NT überall Hellenen sind, wäre es vielleicht doch sinnvoll, mit den Namen etwas weniger leichtfertig umzugehen. Kann es sein, daß hier ein (mittelbar ebenfalls leicht antisemitisch getönter) Sprachgebrauch der deutschen Klassik, die sich auf die „Griechen“, nicht auf die Hellenen bezogen hat, nachwirkt?
    Kristallisert sich die wechselseitige Vertauschung von Rechts und Links mit Vorn und Hinten in den differierenden erkenntnisleitenden Blöcken der Naturwissenschaften und der politischen Ökonomie aus (aber beides unter dem Gesetz der trüben Vermischung von Religion und Herrschaft in der oberen Welt)?
    Der abgespaltene Bereich des Sakralen (des Numinosen) konstituiert in der trüben Vermischung von Religion und Herrschaft in der oberen Welt. Die Verweltlichung der Welt, Reflex der Verinnerlichung von Herrschaft, hat dieser Vermischung die Grundlage entzogen, sie erzwingt die (fast unmögliche) reine Darstellung der Religion, die damit aufhört, bloß Religion zu sein: Theologie im Angesicht Gottes, nicht hinter seinem Rücken. Insoweit ist die Entzauberung der Welt, ihre Verweltlichung oder die Vollendung des Falls, die Grundlage einer Erneuerung der Theologie. Die Mischung von Religion und Herrschaft ist nicht mehr zu halten (im Namen des Himmels das Wasser vom Feuer zu trennen). In der Geschichte der Verinnerlichung von Herrschaft hat die Herrschaft ihre religiösen Symbole verloren; das hat die Kirche, die fast keine anderen mehr kennt, als Zerfall der Religion angesehen, während sie in Wahrheit eine Voraussetzung ihrer Läuterung war; verlorengegangen ist nur die falsche Verständlichkeit der Religion in der Gestalt der Herrschaftsmetaphorik. (Schleiermacher und vor allem Rudolf Otto wären unter diesem Gesichtspunkt einmal genauer zu lesen.)
    In der Heideggerschen Interpretation der aletheia trifft der blinde Fleck des bürgerlichen Bewußtseins im Sein auf seinen eigenen Ursprung, auf sein gegenständliches Korrelat (die falsche Trennung und Verbindung).
    Die Philosophie lebt vom Schein der Äquivalenz des Einen und des Allgemeinen, Produkt und Widerschein der Subjektivität. Auszugehen wäre von den Unterscheidungen im Allgemeinen selber (wie bei Rosenzweig: von den Unterscheidungen im Naturbegriff, die daher rühren, daß nicht mit sich identisch bleibt, wenn er auf Gott, Welt, Mensch bezogen wird).
    Wenn Jesus das Ja und Amen zur Welt wäre, dann gäbe es keine Auferstehung der Toten.
    Weltkritik als Herrschaftskritik, oder gegen den Mißbrauch des Schreckens: der Schrecken ist ein Moment und ein Produkt der Verblendung durch Herrschaft, hervorgerufen durch durch die Schuldwahrnehmung im Stande der Unfähigkeit zur Schuldreflexion. Die verdrängte Gottesfurcht kehrt als Schrecken von außen zurück.
    Das Wehe bei Jesus ist keine Drohung in dem Sinne, in dem die verdrängte Gottesfurcht es erfährt.
    Ein erschütterndes Wort: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich wiederkomme, was geht’s dich an.“
    Der Antisemitismus spielt sich nicht auf der Seite des Bekenntnisinhalts, sondern auf der der Bekenntnisform, seiner Logik, ab. Anders formuliert: Im Kontext eines Weltbegriffs, der die Religion zum Bekenntnis entmächtigt, wird diese Religion, und werden nach ihm alle konfessionellen Inhaltsderivate, zwangsläufig antisemitisch.
    Die vom Weltbegriff nicht abzulösende Vorstellung einer homogenen Zeit und ihre Anwendung auf den theologischen Bereich (insbesondere in der Schöpfungslehre und in der Christologie) ist die Ursünde der Theologie. Was an sich jeden Gedanken an eine Vergangenheit von sich ausschließt, kann für uns sehr wohl als vergangen erscheinen, und zwar aufgrund jener das endliche Bewußtsein konstituierenden Brechungsschicht, die am zweiten Schöpfungstag, als Feste zwischen den Wassern, geschaffen ist und von Gott Himmel (schamajim) genannt wurde. Die Wirkung dieser Brechungsschicht ist nur aufzuheben durch Trennung der Wasser vom Feuer, durch Auflösung der Wasser, aus denen bei Thales die Philosophie entsprungen ist.
    Thermodynamik, Elektrodynamik und Mikrophysik sind Aspekte jener differenzierten Beziehung von Raum, Zeit und Materie, die ins Inertialsytem durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hereingekommen ist.
    Nietzsches Wort von dem Gedächtnis, das nachgibt, ist noch zu harmlos. Aufgrund der Ausstattung unseres psychischen Haushalts, die wir in der Geschichte unserer Sozialisation übernommen haben, gibt es Bereiche, an die das Gedächtnis, bevor es überhaupt nachgeben könnte, schon gar nicht mehr heranreicht. Das „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ läßt sich nicht auf den Bereich des (von uns selbst) Verdrängten einschränken; es gibt Bereiche des gesellschaftlich Verdrängten (und die Geschichte der Auseinandersetzung der Orthodoxie mit den Häresien ist eine Geschichte des forschreitenden gesellschaftlichen Verdrängungsprozesses), an denen wir bloß passiv partizipieren, die uns gleichsam „hinter unserem Rücken“ bestimmen. Diese Bereiche erschließen sich erst im Kontext der „Übernahme der Sünde der Welt“ (ich bin als Christ auch für meinen Charakter, ja, auch für mein Gesicht verantwortlich).
    Zum Fundamentalismus: Auch hier reicht nicht die Verurteilung, sondern es gilt (wie zuvor schon in der ganzen Geschichte der Häresien, deren letzter Erbe er ist), das Problem, für das er steht, zu lösen, um ihm nicht selber zu verfallen (Verhältnis von Religion und Herrschaft; Ursprung und Kritik des Sakralen).
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Urschisma und dem Ursprung der Gnosis (Antijudaismus und Rezeption des Weltbegriffs)?

  • 25.10.92

    Zu Metz (S. 113): Der Begriff der „Information“ sollte etwas kritischer gesehen werden (vgl. auch den Exkurs 3; auch den Begriff der „Tatsache“, sowie die Fichtesche und Goethesche „Tat“). In gleichem Zusammenhang ein Hinweis auf die Gefahr, daß die Kirche zum steinernen Herzen der Welt wird, und diese Gefahr (und ihre Begründung) ist ins Auge zu fassen.
    S. 120: Überredung und Überzeugung; dazu Benjamin: Überzeugen ist unfruchtbar.
    Die Aufklärung – und das reicht über Kant bis hinein in die Hegelsche Philosophie – hat den Sündenfall, das Essen vom Baum der Erkenntnis, als Symbol ihres eigenen Ursprungs angesehen. Daraus hat Wittgenstein das Resume gezogen: Die Welt ist alles, was der Fall ist (die Frucht vom Baum der Erkenntnis).
    Daß die Verweltlichung der Welt sich christlichen Ursprüngen verdankt, ist wahr. Aber daraus lassen sich keine apologetischen Folgerungen ableiten, sondern im Gegenteil: Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang verfällt die Möglichkeit der Apologetik insgesamt.
    Woher kommt der Name der Hellenen, und woher der der Griechen; kommen im NT nur die Griechen, oder auch die Hellenen vor?
    Ist Saulus, der Benjaminite, der Wolf, der als Paulus das Schafsfell übergezogen hat? Hat dieses Schafsfell etwas mit dem „goldenen Vlies“ (das goldene Fell des Widders, den Phrixos in Kolchis dem Zeus opferte, Objekt der Argonautenfahrt) zu tun, und sind beide nicht gleichsam nur Steigerungen des Feigenblattes?
    Die Elektrodynamik sagt mehr über das Inertialsystem als über das Licht, das Werk des ersten Schöpfungstages.
    Ist die Trinitätslehre ein später Reflex der Feste zwischen den Wassern, die Gott am zweiten Tage gemacht und dann schamajim genannt hat, ein Amalgam von Feuer und Wasser (von jüdischer und griechischer Tradition: zu dem Zecke, die griechische Tradition aufzuzehren, um das Feuer vom Himmel zu holen, von dem er „wollte, es brennte schon“)?
    Nach Ranke-Graves ist das Volk Gog (Ez 38 und 49) identisch mit den Gargarensern (Griechische Mythologie, S. 456), die als Nachbarn der Amazonen deren männlicher Partnerstamm waren (S. 452). Sind die Amazonen Magog?

  • 24.10.92

    Zu der Meldung, daß die Entscheidung des Bundespräsidenten über das Gnadengesuch für Bernd Rössner um 18 Monate verschoben/vertagt wurde, daß Bernd Rössner aber am 17.11. aus der JVA Kassel mit der Auflage, sich einer Therapie zu unterziehen, entlassen wird, einige Fragen:
    – Wie ist die Auflage hinsichtlich der Therapie zu verstehen: Wird R. in eine vorbestimmte Anstalt eingewiesen, hat er ggf. dieser Einweisung selber zugestimmt (wenn ja, unter welchen Bedingungen), oder kann er frei bestimmen, welche Therapie er selber für richtig und wirksam hält, hat er die Möglichkeit, sich selbst einen Therapeuten seines Vertrauens zu wählen?
    – Im Falle der Einweisung in eine Anstalt (ohne eigene Entscheidungs- oder freie Zustimmungsmöglichkeit): Setzt das nicht die Feststellung der Unmündigkeit, damit aber der Haftunfähigkeit voraus? Ist diese Haftunfähigkeit eine Folge der Haft, oder hat sie schon vorher bestanden, wenn ja: seit wann? Wer ist ggf. dafür verantwortlich, daß R. trotz Haftunfähigkeit in Haft gehalten worden ist?
    – Die Tatsache, daß ein Gnadengesuch für R. beim Bundespräsidenten vorlag und mit festen Terminvorstellungen dort in Bearbeitung war, war seit langem bekannt. Dieses Verfahren wurde durch eine „überraschende“ Entscheidung des OLG Düsseldorf in einer Weise unterlaufen und in Frage gestellt, die in der Öffentlichkeit als eine Brüskierung des Bundespräsidenten verstanden wurde und so verstanden werden muß, wenn, wie es die Meldungen nahelegen, die Entscheidung des OLG ohne vorherige Abstimmung mit dem Herrn Bundespräsidenten getroffen wurde. Es mag sein, daß keine rechtliche Pflicht zu einer solchen Abstimmung besteht; es bleibt aber die Frage, ob diese Form des öffentlichen Umgangs mit dem höchsten Amt im Staate, der Eingriff in ein beim Bundespräsidenten laufendes Verfahren, nicht die Loyalitätspflichten berührt, denen nach meinem Verständnis auch ein Senat eines OLG unterworfen ist. Mehr noch: dieses Verhalten des OLG wirft ein Licht auf sein Staatsverständnis, das man nicht ohne Erschrecken zur Kenntnis nehmen kann. Ist es nicht der Fall eines in dem Rechtsverständnis unserer Staatsschutzinstitute begründeten Verfassungskonflikts, der unter dem Stichwort Recht und Gesetz nicht zu lösen ist, vielmehr deren dunkle Gründe offenlegt: das auch in der Verfassung ungelöste Problem der Souveränitat, dessen Begriff nicht zufällig sowohl den Grund der Staatsautorität wie auch die Freiheit der Vernunft von den Zwängen, in die sie durch Unfähigkeit zur Schuldreflektion sich verstrickt, bezeichnet. Ist dieser Konflikt nicht in dem gleichen positivistischen Rechtsverständnis begründet, ohne welches die Aufgabenstellung von Staatsschutzsenaten sich nicht definieren läßt, das aber von einem autoritären (und d.h. nicht souveränen) Staatsverständnis nicht zu lösen ist: Ist nicht ein Rechtsverständnis, das den Staat nur als positivistische Instanz der Rechtssetzung begreift, gezwungen, diesen Staat als nicht souveränes Institut anzusehen? Als ein Institut, das per definitionem jeder Schuldreflektion sich entzieht, deshalb nicht souverän sein kann? Deshalb müssen Staatsschutzsenate jedes Ansinnen an den Staat, sich durch Schuldreflektion als souverän (oder schlicht als vernünftig) zu erweisen, als Angriff auf den Staat, der mit allen Mitteln zu ahnden ist, ansehen und verfolgen, gleichgültig, ob dieses Ansinnen von der raf oder vom Bundespräsidenten ausgeht. Ich meine, die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, ob und in welcher Weise die von diesen Vorgang mit betroffenen Verfassungsorgane hierauf reagieren. Ich befürchte nur, daß dieser Staat sich weiterhin als einer der „unbegrenzten Zumutbarkeiten“ erweisen wird, wobei gegen Sonnemann vielleicht doch zu fragen bleibt, ob diese Zumutbarkeiten wirklich unbegrenzt sind, und ob sie nicht doch an eine Grenze stoßen, an der die letzten Bastionen der politischen Moral, ohne daß es noch einer bemerkt, fallen werden, an der die Welt wirklich zu allem wird, was der Fall ist.
    Weitere Bemerkungen:
    – 129a als Exerzierfeld zur Erprobung des Grundsatzes: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand;
    – funktioniert nur gegen Links, nicht gegen Rechts (obwohl hier die Realerinnerung an die größte terroristische Vereinigung, die es je in Deutschland gegeben hat, unabweisbar ist);
    – wie schnell war der Gesetzgeber (auf wessen Anregung?) bereit, den 129a zu erweitern, um Anschläge gegen Strommasten mit aufzunehmen; Anschläge gegen Menschen (dazu noch „Ausländer“) sind offensichtlich weniger gravierend;
    – ist der Angriff auf die moralischen Grundlagen des Gemeinwesens kein Angriff auf den Staat?
    – das Zeitalter des Antichrist wird das Gesicht eines Hundes tragen, aber muß das unbedingt im Staatsschutzbereich vorgezeigt werden?
    – Recht, Verknüpfung von Sünde und Schuld (Schuld und Sühne); Genesis des Faschismus, der Gemeinheit, rechtlich nicht zu fassen, weil subjektlos (Sünde der Welt); Zusammenhang mit der Genesis des Begriffs (äußerliche Erinnerung an die vergangene Tat, die den Täter im zum Namen gewordenen Begriff – „Dieb“, „Mörder“ – als Schicksal ereilt: Schuld als schicksals- und wesensbegründendes Identitätsprinzip), der Welt;
    – zum „Verständnis“ für diese Jugendlichen (überhaupt für die „Psychologie“ des Faschismus) gehört es, daß hier womöglich die einzige Stelle ist, an der der Staat aus Vernunftgründen gezwungen ist, mit jenem Zorn, deren nur die souverän gewordene Autorität fähig ist, zu reagieren.
    Erinnerungsarbeit begründet die eingreifende, zukunftseröffnende Kraft der Erkenntnis, hängt zusammen mit der inneren Struktur der Zeit (gegen die Metzsche Diskriminierung der Anamnese). Teil des Verhältnisses von Theorie und Praxis: Über die Kritik der mit dem Weltbegriff mitgesetzten Verblendung wird die Theorie zu einem Teil der Praxis. Der Weltbegriff, der endgültig mit der Philosophie und dem Römischen Imperium sich durchgesetzt hat (und spätestens seit der Konstantinischen Wende Theologie und Kirche beherrscht), hat seine Vorgeschichte (die durch Erinnerungsarbeit in die Kritik des Weltbegriffs mit aufgenommen wird); dazu gehören auf der einen Seite das, was die Schrift Idolatrie, Sternen- und Opferdienst nennt, andererseits aber auch Ursprung und Geschichte der politischen und ökonomischen Institutionen (insbesondere der Ursprung und die Geschichte der Stadt, des Königtums, des Handels und des Geldes) und die damit verknüpfte Sprachgeschichte. Gewinnt vor diesem Hintergrund vielleicht doch der Ursprung der indogermanischen Sprachen neues und ganz anderes Interesse (grammatische Ausdifferenzierung, insbesondere Ursprung des Futur II: Ursprung des objektivierenden, verdinglichenden Denkens, sprachliche Voraussetzung des Weltbegriffs)?
    Die Vorstellung von der Kirche als einer gesellschaftskritischen Institution bleibt bei einem äußerlichen Verhältnis von Kirche und Gesellschaft stehen. Das hängt zusammen mit
    – der Funktion des Weltbegriffs,
    – der ungeklärten (ebenfalls bloß äußerlich vorgestellten) Beziehung von Theorie und Praxis und
    – dem Verzicht auf die Idee einer eingreifenden Erkenntnis.
    Die Kirche wird zur gesellschaftskritischen Institution, wenn sie sich selbst als das steinerne Herz der Welt begreift und darüber erschrickt. Dazu ist sie aus dem gleichen Grunde geworden, den Metz heranzieht, wenn er auf die christlichen Ursprünge der Verweltlichung der Welt verweist. Das aber verweist darauf, daß und in welcher Form das Christentum in der Tat in den Säkularisationsprozeß verstrickt ist, daß dessen fehlendes Selbstbewußtsein in der kirchlichen Selbstverblendung begründet ist, und daß der Schlüssel zur Lösung in der Hand der Kirche liegt.
    Die Welt als Geschichte (Metz) wäre nicht nur auf die politisch-ökonomische Geschichte zu beziehen, sondern ebenso auf die der naturwissenschaftlichen Aufklärung (auch im Verhältnis zur Natur auf die innere Struktur des Weltbegriffs selber).
    Ist nicht der paulinische Gesetzesbegriff selber erst zu begreifen, wenn er aus dem Grunde der juristischen Verknüpfung von Sünde und Schuld begriffen wird. Denn das ist der Grund des Gesetzes im Recht wie in den Naturwissenschaften (in denen die Verknüpfung von Sünde und Schuld im Kausalprinzip wiederkehrt).
    Zur Verdeutlichung dessen, was mit der Übernahme der Sünden der Welt gemeint ist, ist auf einen Witz zu verweisen, der von Mitscherlich stammt, und den Horkheimer und Adorno in den Soziologischen Exkursen zitieren:
    In einer Massenveranstaltung wettert der Redner über die Massen: „Die Masse ist an allem schuld.“ Tosender Beifall.
    Die Masse: das sind immer die anderen, aber nicht wir; wir sind es nur insoweit, als wir es auch für die anderen sind. Hierbei wirkt der fatale Mechanismus mit: Gerade dadurch, daß man sich über die Masse erhebt, wird man selbst Teil der Masse. Hierauf bezieht sich die Idee der Übernahme der Sünden der Welt, mit der dann wiederum allein die Kraft der Sündenvergebung sich begründen läßt.
    In der Geschichte des Massenbegriffs ist der Zusammenhang von Empörung und Fall zur Gemeinheitsautomatik zusammengeschlossen. Nach dem gleichen Schema reagiert jegliche Empörung (jede exkulpatorische Nutzung des moralischen Urteils, mit dem ich mich von der Tat distanziere: Zusammenhang mit dem Begriff der „Tatsache“; die Geschichte der Philosophie ist in diese Geschichte des Massenbegriffs verstrickt).
    Anima naturaliter christiana: Der Satz läßt sich variieren: Natura mortaliter christiana. Das, was wir Natur nennen, ist abgestorbenes Christentum, Folge und Ausdruck der Sünde wider den Geist. Die Sünden der Welt: Deren Inbegriff ist die Natur, und zwar als Todsünde. Hierauf bezieht sich das Wort vom Kelch in Gethsemane.
    Die Kausalverknüpfung von Sünde und Schuld, zusammen mit dem Konzept, daß Jesus die Sünde der Welt hinweggenommen hat, ist die Kehrseite der sprachlichen Verknüpfung des Indikativs mit dem Imperativ, aus dem die Ontologie den Schein ihrer Tiefe gewinnt (durch Begriffe wie Geschehen, Ereignis, Eigentlichkeit, Vollzug, vor allem durch den Existenzbegriff selber: Fundamentalontologie als Kommando der subjektlosen Welt).
    Wer die Vergangenheit nicht antasten will, wer nicht daran rühren will (wer 2000 Jahre Christentum für einen Wahrheitsbeweis, anstatt für das Gegenteil, hält), wer sich davon glaubt fernhalten zu können, verbaut sich die Zukunft (eben darauf bezieht sich das dem vierte Gebot beigefügte Versprechen).
    Wenn man sich daran erinnert, daß Adorno durch sein Wirken in einem kleinen Geschichtsaugenblick uns wieder Luft zum Atmen gegeben hat, dann braucht man diesen Satz nur ins Griechische zu übersetzen, um eine kleine Ahnung davon zu bekommen, was die Idee des Heiligen Geistes real bedeuten könnte.
    Der prophetische Satz, daß der Geist die Erde bedecken wird wie die Wasser den Meeresboden, hat sein spätes Echo in der Apokalypse, wo es heißt: Und das Meer wird nicht mehr sein. Hierher aber gehört auch die Geschichte vom Kleinglauben des Petrus, der bei dem Versuch, wie Jesus auf dem Wasser zu wandeln, versinkt mit dem Ruf: Herr hilf mir, ich ertrinke. Ist nicht das Dogma dieser Kleinglaube? Und sind diese Wasser nicht seit Thales die Philosophie?
    Wenn Aristoteles etwas mit dem einen unreinen Geist zu tun hat, dann die Hegelsche Philosophie mit den sieben unreinen Geistern.

  • 23.10.92

    Worauf bezieht sich Joh 73f: „Da sagten seine Brüder zu ihm: Geh von hier fort, und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Werke sehen, die du vollbringst. Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte. Wenn du dies tust, zeig dich der Welt! Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn. Jesus sagte zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht gekommen, für euch aber ist immer die rechte Zeit. Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber haßt sie, weil ich bezeuge, daß ihre Taten böse sind“? – Vgl. hierzu Joh 129.
    Die Kirche als Institution der kritischen Freiheit des Glaubens (Metz, S. 108): war das nicht (in den sechziger Jahren) eine zeit- und systembedingte Fehleinschätzung, die korrigiert werden sollte durch die andere „Einschätzung“, die immer unabweisbarer zu erden scheint: die Kirche als das steinerne Herz der Welt (unter Hinweis auf die Geschichte der Leugnungen Petri und in Erwartung des Hahnenschreis)?
    Ist das Nichts, woraus nach der traditionellen Theologie die Welt erschaffen ist, die Rückseite, die abzuarbeiten wäre, um endliche in eine Theologie im Angesicht Gottes hineinzukommen?
    Die Kritik der Verdinglichung ist die Abarbeitung des blinden Flecks in uns selbst. Die gegenständlichen Repräsentanten dieses blinden Flecks sind die Begriffe der Philosophie, neben dem des Seins insbesondere die des Wissens, der Natur und der Welt (die Zentralbegriffe der Systemfolge des nachkantischen Idealismus).
    Hat die Benennung der Tiere durch Adam etwas mit der Konstituierung des Tierkreises zu tun?
    Wer war der Engel, mit dem Jakob in der Nacht gekämpft hat?
    Zum Verhältnis von Name und Begriff:
    – Der Begriff der Barbaren erscheint bei den Griechen als Begriff, bei den Hebräern als Name; die Verwandlung in einen Begriff erfolgte durch die projektive höhnische Verdoppelung des Namens (des ‚br; und des bara?).
    – Als Name verwendet, wird der Begriff der Person zum Schimpfwort. Und das ist die crux der Trinitätslehre (die niemals Namenlehre werden kann, sondern an den Begriff und das Hinter dem Rücken gefesselt bleibt).
    Wird damit nicht der Kern des Problems der Beziehung von Name und Begriff aufs genaueste bezeichnet? Und liegt hier der Schlüssel zur Befreiung der Hegelschen Philosophie vom Bann des Begriffs?
    Die Hegelsche Idee des Absoluten ist der Inbegriff des toten Gottes, der sein Leben nur an den sterblichen Göttern der Staaten hat.

  • 22.10.92

    Die thomistische Unterscheidung von Natur und Übernatur ist durch den Weltbegriff vermittelt, ein Versuch, im Begriff der Übernatur den Bann des Weltbegriffs zu brechen (vgl. Metz, S. 84). Reicht der Begriff der Übernatur noch, nachdem der Naturbegriff das christliche Erbe als restlos säkularisiertes ganz in sich aufgenommen hat?
    Das „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ enthält die Aufforderung zur Erinnerungsarbeit. Erschreckend bei Metz die Verwerfung der Erinnerungsarbeit (gegen Heidegger und Hegel), die aber zusammenpaßt mit dem Akzeptieren (der „Annahme“) der Welt.
    Metz, S. 90: Die „Metaphysik“, das Jenseits der Physik, ist die Welt.
    Jean Amerys Frage „Wie natürlich ist der Tod“ sagt mehr über den Begriff der Natur als über den Tod. Natur ist das Diesseits der Todesgrenze, die durch die Welt definiert, „gezogen“ wird. Und das ist das Entsetzliche am Selbstmord: die Kapitulation vor der Welt.
    Die drei Momente der Zeit, aus denen Kant die Dreidimensionalität des Raumes abzuleiten versucht hat: Dauer, Folge und Zugleichsein, sind ein innerzeitlicher Reflex des Inertialsystems: der Systembeziehung von Materie (Dauer), Zeit (Folge) und Raum (Zugleichsein), die dann in den apriorischen Kategorien Substanz, Kausalität und Wechselwirkung sich niederschlagen.
    Der Weltkonformismus der christlichen Theologie (die Lehre von der bereits geschehenen Erlösung der Welt durch den Kreuzestod Jesu) ist Ausdruck objektiver Verzweiflung.
    Gottessohnschaft als double-bind: Imgrunde glaubt niemand mehr daran, denn wenn sie daran glaubten, wäre das Bekenntnis dazu nicht mehr notwendig, das zu dem Glauben nichts hinzufügt. Das Bekenntnis ist nur notwendig, um durch kollektive Absicherung den eigenen Unglauben zu verdrängen (Modell der Todesgrenze in der Religion).
    Überzeugen ist unfruchtbar, Überreden ist Mord. Beide stehen unter dem Zwangsgesetz des Exkulpationstriebs, in dem die Erbschuld sich fortpflanzt. Dieser Exkulpationstrieb ist begründet in der Weigerung, die Sünden der Welt zu übernehmen, in der Nachfolge-Verweigerung. So tief reicht der Satz aus den Soziologischen Exkursen: Ideologie ist Rechtfertigung.
    Hängen die Ideen von der Unbefleckten Empfängnis und von der Virginitas mit dem Satz aus dem Psalm (10914) von der Schuld der Väter und der Sünde der Mutter zusammen? Und ist das nicht der Hintergrund für die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen nach der Märtyrerzeit in Confessores und Virgines? Sind die Adam und Eva-Geschichten nicht Varianten dieses Psalmenworts, bis hin zum Fluch nach dem Sündenfall? Und wie verhält sich dieses Psalmenwort zum vierten Gebot? Und ist vor diesem Hintergrund das Täuferwort nicht doch genau zu übersetzen: mit „Sünden der Welt“ (in denen die Schuld der Väter gründet)?
    Kapitalismus als Opfer ohne Lehre: Die Sünde der Welt: ist das nicht die Erinnerung an die Sünde der Mutter (Ps 10914), an das Matriarchat?
    Zu Schuld und Sünde (zu Ps 10914):
    – Ps 517: Siehe, in Schuld bin ich geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
    – 5111: Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden und tilge alle meine Schuld.
    – Jes 1218: Wehe denen, die Schuld herbeiziehen mit Seilen des Nichts, und die Sünde wie mit Wagenseilen. (Verhältnis von Welt und Natur?)
    – 279: … die Hinwegnahme seiner Sünde.
    – 5311: Und ihre Sünden wird er sich selbst aufladen.
    – Die Schuld ist groß, die Sünden sind zahlreich (Jer 3015).
    – Hos 48: Die Sünde meines Volkes essen sie, nach ihrer Schuld verlangen sie.
    – 99: Er wird an ihre Schuld denken, wird ihre Sünde heimsuchen.
    Erst das Recht und der Begriff bringen Sünde und Schuld in jene systembegründende und verdinglichende Kausalbeziehung, aus der sie ebenso zu lösen sind wie aus der Bekenntnislogik, dem Inertialsystem und der Lohnarbeit, wenn man Theologie im Angesicht Gottes treiben will (vgl. das Verhältnis von Schuld und Sünde in Ps 10914). Hier ist der Grund bezeichnet, weshalb der Sündenfall mit der Erkenntnis des Guten und Bösen beginnt, und weshalb seitdem moralische Urteile (und mit ihnen das Geschwätz, hierarchische Herrschafts- und Erkenntnisstrukturen und Kriege) zur Geschichte des Sündenfalls gehören. Deshalb gründen Recht, Philosophie und Mythos wechselseitig ineinander. Und deshalb läßt sich mit Moral keine Politik machen (aber auch nicht ohne sie).
    Sünde und Schuld verhalten sich wie Tat und Urteil, Prädikat und Begriff. So ziehen sie den Objektbegriff und die transzendentalen Formen der Anschauung zwangsläufig nach sich.
    Die Hebräer sind die, die als Fremde im Lande leben; deshalb sind sie Sklaven, Söldner und Kleinviehnomaden.
    Der kirchliche Erlösungsbegriff glaubt sich von der Erinnerungsarbeit dispensieren zu können; damit perpetuiert er jedoch den Bann des Welt- und des Bekenntnisbegriffs, das Formgesetz des Dogmas.
    Gegen Metz: Nicht „schöpferisch-kritisch“, sondern kritisch, befreiend und erhellend. Das „Neue“ ist nicht Produkt einer „schöpferischen“ Tat; es konstituiert sich vielmehr in einer Konstellation von Ursprung und Ziel. Es schließt die Erinnerungsarbeit, und als Tat das Lösen (die „eingreifende Erkenntnis“) mit ein. (Im 5. Kapitel, S. 107, aber auch schon vorher, wird „schöpferisch kritisch“ durch „kritisch befreiend“ ersetzt.)
    Heidegger und Hegel: Den Geburtsfehler der Philosophie, den Hegel versucht hat abzuarbeiten, hat Heidegger zu ihrem einzigen Inhalt gemacht.
    Zu den sieben unreinen Geistern: Was jetzt in Erlangen passiert (die organische Erhaltung des Lebens einer „hirntoten“ schwangeren Frau, um das Leben des Embryos zu retten), ist das reale Beispiel für unreine Begründungen, für gleichsam prophylaktische, nach außen gewendete Rechtfertigungstheorien, um dahinter ganz andere Interessen durchsetzen zu können (sowohl kirchliche: die Erprobung von Argumenten, die auch in der Abtreibungsdiskussion nützlich sein könnten, als auch reale Karriereinteressen der Ärzte, die so in die Lage versetzt werden, Menschenexperimente nach außen abzuschirmen). Es gehört in die Geschichte der Feigenblätter, die die Blöße bedecken sollen. Aber wie verhält sich das Aufdecken der Blöße zur Übernahme der Sünde der Welt?
    Weitere Beispiele unreiner Begründungen:
    – die immer wieder beschworene „marode sozialistische Kommandowirtschaft“, hinter der sich alle Fehler, die man selbst im Einigungsprozeß begangen hat, so schön verbergen lassen;
    – die „Selbstmorde“ in Stammheim, ein Beispiel doppelseitiger unreiner Begründungen: ob es nun Morde oder Selbstmorde waren, von einer Seite war es in jedem Falle ein Fall unreiner Begründungen;
    – schließlich das Verhältnis von Kritik und Rechtfertigung des Kapitalismus: beide sind Beispiele unreiner Begründungen.

  • 21.10.92

    Wenn Christus die Sünden der Welt nicht auf sich, sondern hin-weggenommen hat, dann darf die Kirche in der Tat keine öffentliche Reue zeigen (und dann wäre ihre Konfliktunfähigkeit, insbesondere die Unfähigkeit, mit den Häresien anders als durch Verurteilung sich auseinandersetzen, theologisch begründet). Aber eben damit, mit ihrer eigenen Exkulpierung, bürdet die Kirche dem vergöttlichten Jesus eine Last auf, die er zu tragen nicht in der Lage ist: ihre eigene Verdrängungslast. Die Unfähigkeit der Kirche zur öffentlichen Reue ist der Beweis ihrer Unerlöstheit (und der Grund ihrer Sprachlosigkeit).
    Eine Welt, von der die Sünde hinweggenommen wäre, wäre damit schuldlos, erlöst. Und Weltkritik wäre nicht nur unbegründet, sondern Zweifel an der Erlösungstat Jesu: an seiner Göttlichkeit. Aber diese Vorstellung ist in einem entsetzlichen Maße irrational, mehr noch: irrationalisierend, verdummend, Grund der Verblendung, Keim und Kristallisationskern des blinden Flecks, zu dem mittlerweile, das Bewußtsein insgesamt verstellend, das Christentum zu werden droht.
    Am christlichen Bekenntnis klebt mit dem Blut von Juden, Ketzern und Heiden seit den Anfängen des Pakts mit der Politik auch das der Armen. Zu reinigen ist es nur durch Erinnerungsarbeit (durch Reue, Umkehr: durch Herrschaftskritik, deren Adressat die nach der Vergesellschaftung vom Herrschaft das Subjekt selber ist).
    Alle Häresien stehen im Banne des gleichen Weltbegriffs (des gegenständlichen Korrelats der Vergesellschaftung von Herrschaft), dessen Sanktionierung die Ursünde der Kirche war.
    Wenn Rosenzweig die Sprache die „Morgengabe des Schöpfers an die Schöpfung“ genannt hat, so schließt das die Fähigkeit zur Schuldreflexion mit ein. Die Fähigkeit zur Schuldreflexion ist der Grund der Sprache, und durch sie zeichnet sich der Mensch vor aller übrigen Kreatur aus. Kirche ist die Gemeinschaft derer, die die Sünden der Welt auf sich nehmen: die Gemeinschaft der Schafe oder der Knechte Gottes.
    Es ist das Schaf, das stumm ist (das stumm zur Schlachtbank geführt wird); erst durch die Übernahme der Sünden der Welt wird das stumme Schaf zum Logos, wird es der Sprache mächtig (und fähig, die Siegel zu lösen).
    Das Gegenbild zum Kalb ist der Löwe, zum Lamm der Wolf, zum Kind die Schlange (die Natter).
    Der Begriff der Welt bildet sich im Prozeß der Verinnerlichung der Schicksalsidee, und das Hegelsche Weltgericht ist der letzte Abkömmling und die letzte Erinnerung an den Mythos und die ihm zugrundeliegende Schicksalsidee.
    Woher stammt die Legende, daß Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt wurde, und was drückt sich darin aus?
    Das Opfer ohne Lehre (Benjamins Definition des Kapitalismus) ist der reine Vollzug, dessen Begriff nicht zufällig an den des Strafvollzugs erinnert, merkwürdigerweise aber trotzdem – oder gerade deswegen? – bei den „Eigentlichkeits“-Theologen so beliebt ist (Produkt der transzendentalen Logik, nachdem das kritische Moment darin gelöscht wurde: Ontologie als Isolationshaft im Gefängnis der apriorischen Objekt- und Urteilslogik).
    Zum Problem der intentio recta: Verschlossen ist der intentio recta insbesondere die Idee einer Zukunft, die anders wäre als die Vergangenheit; sie trifft aus systemlogischen Gründen nur auf eine Zukunft, die wie die Vergangenheit sein wird. Deshalb heißt Umkehr Erinnerungsarbeit, und diese Erinnerungsarbeit hat es mit den sieben unreinen Geistern, von denen bis heute allein Maria Magdalena befreit wurde, mit den sieben Siegeln der Apokalypse, zu tun. Nur das Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nimmt, kann die sieben Siegel lösen.
    Die Vorstellung der homogenen Zeit beruht darauf, daß die Zukunft längst von der Vergangenheit (wie der Hase vom Igel) eingeholt, wenn nicht überholt ist.
    Steckt nicht in dem prophetischen Wort, daß der Geist die Erde bedecken wird wie die Wasser den Meeresboden, die bereits aus der Schöpfungsgeschichte bekannte Beziehung von Geist und Wasser. Nach der Apokalypse wird am Ende das Meer nicht mehr sein. Ist nicht der Geist gleichsam die Aufzehrung des Wassers, Produkt der Übernahme der Sünden, und die Befreiung des Feuers („und ich wollte, es brennte schon“), das im Himmel (schamajim) durch die oberen Wasser gebunden ist?
    Wenn man berücksichtigt, daß die von J.B. Metz (S. 18 u.ö.) angezogene Stelle aus 2 Kor nicht auf die Welt, sondern auf die göttlichen Verheißungen (die Thora) sich bezieht, dann stützt das die der Metzschen genau entgegengesetzte These, daß das Christentum die jüdische Antwort auf eine neue Situation ist, daß die göttlichen Verheißungen auch mit dem Ursprung des Weltbegriffs und der ihm korrespondierenden gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit (in denen der Mythos als verinnerlichter und vergegenständlichter sich fortsetzt) nicht aufgehoben sind, und daß Er genau dieses Weiterbestehen der jüdischen Tradition, der Thora, garantiert (durch die Übernahme der Sünden der Welt).
    Der Behemoth ist keines der apokalyptischen Tiere. Er ist als grasfressende Wassertier eher das Symbol der unerlösten Menschheit und Welt.
    Wieviele werden Lehrer, weil sie hoffen, auf diesem Wege die Traumata ihres Schülerlebens aufarbeiten zu können: Aber, wie es scheint, geht das nur zu Lasten der Schüler, deren Lehrer sie dann werden, und auf die sie ihre eigenen Traumata überwälzen. Gilt dieser Satz nicht auch für die Priester, für die gesamte kirchliche Hierarchie?
    Was veranlaßt die Leute, ihren Besuchern Fotos aus ihrem letzten Urlaub zu zeigen? Steckt dahinter nicht eigentlich das Bewußtsein, daß der Urlaub doch keiner war, sie es aber nicht wahrhaben wollen, deshalb Fotos machen, um damit ihre Besucher zu erpressen, die dann als Spätzeugen den „geglückten Urlaub“ doch noch bestätigen sollen?
    Gilt nicht heute das vierte Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, nur noch durch seine Umkehrung hindurch, wobei es selbst jedoch gültig bleibt. Und wie steht’s dann mit dem achten Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten? Ist hier die doppelte Umkehrung durch den Weltbegriff bedingt, durch das Verhältnis des Aufdeckens der Blöße (der gegenwärtigen Gestalt des Weltgerichts, das die Medien vollstrecken) zur Übernahme der Sünden der Welt?

  • 20.10.92

    Der Weltbegriff, mit dem wir es heute zu tun haben, unterscheidet sich vom antiken durch den Systemcharakter, durch das Moment der Selbstbegründung: durch den transzendentallogischen Objektbegriff und durch die Selbstbegründung des Warencharakters der Dinge nach der Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip, oder durch die Beziehung beider zur Urteilsform. Der moderne Weltbegriff ist Ausdruck des Sieg der Subjektivität.
    Wichtiger noch als die Säkularisierung der Theologie, scheint mir, ist die Säkularisierung der Teufelsvorstellungen, die Aufdeckung des fundamentum in re der Namen Satan, Diabolus und Daimon.
    Was ist das: „Ereignis des Christentums“, „Christusereignis“? Ereignis ist das Korrelat des Erlebnisses, es tritt ohne unser Zutun ein, ist wie das Erlebnis isoliert, aber damit fähig, in ein Possessivverhältnis einzutreten: ein Ereignis kann ich mir als irrationales Erlebnis zu eigen machen, ähnlich wie heute die Deutschen ihren Urlaub (deshalb Er-„eignis“? – Vgl. auch die anderen Possessivableitungen: Eigentlichkeit, Meinung, Allgemeines, Gemeinheit, das „Sein“?), Zusammenhang mit dem Schicksalsbegriff. (Vgl Metz, S. 63)
    Metz, S. 64: Was ist eine „Glaubenserfahrung“; setzt sie nicht die Idee einer Glaubenswelt voraus, und welche Folgen hat das (es ist eine contradictio in adjecto, die allerdings genau zum Christusereignis paßt)?
    S. 68: Die Vorstellung, daß ein „alles verfügende(r), alles vorsehende(r) Gott“ auf „den Menschen“ „zukommt“, ist nach Auschwitz eigentlich nicht mehr erträglich. Das ist schlechter Jargon der Eigentlichkeit. Was auf uns zukommt, dürfte etwas ganz anderes sein.
    FR von heute: Der evangelische Landesbischof von Bayern, Herr Hanselmann, weist zu Drewermann darauf hin, daß die Erlösung an die Gottessohnschaft Jesu gebunden sei (d.h. wer diese in Frage stelle, leugne jene). Aber ist diese Erlösung nicht eine, die voraussetzt, daß Ihm (durch mythische Vergöttlichung) die ganze Schuld aufgebürdet wird: ist sie damit nicht doch zu teuer erkauft? Und wissen nicht imgrunde alle, auch Hanselmann, daß dieses Konzept die Erlösung ad calendas graecas hinausschiebt, d.h. die Garantie enthält, es werde schon nicht eintreten?
    Der christliche Schöpfungsbegriff, den Metz unreflektiert übernimmt, ist insoweit auch ein philosophischer (kein theologischer), als er durch seine Beziehung auf den Weltbegriff (die in der Institution des Privateigentums gründet) innerhalb dieser philosophischen Possessiv- und Allgemeinheitsordnung bleibt. Durch den Trick der Idee einer creatio ex nihilo glaubte die christliche Theologie über die griechische Philosophie (und deren Leugnung der Schöpfungsidee) hinauszukommen, hat damit jedoch das Problem in einer Weise verschärft, daß die Gemeinheit seitdem sehr tief in der Theologie angesiedelt und nicht mehr daraus zu entfernen ist. Hier liegt der Grund jener seitdem (über das Dogma bis in die Ursprünge und die Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung) sich durchsetzenden Objektivierungstendenz, die heute die theologische Tradition aufzuzehren droht. Durch die Lehre von creatio mundi ex nihilo ist die Leugnung der Schöpfungsidee in den Schöpfungsbegriff mit hereingenommen worden. Und der Preis ist jene Opfertheologie, auf die der bayerische Landesbischof Hanselmann sich bezieht, wenn er gegen Drewermann (der anders zu kritisieren wäre) bemerkt, daß es ohne die Gottessohnschaft Jesu keine Erlösung gebe.
    Das Dogma wird wahr, wenn es gelingt, es aus der objektivierenden Einstellung herauszunehmen und unters Gesetz der Nachfolge zu bringen. Aber das hätte die siebenundsiebzigfache Umkehr zur Folge, und danach sähe alles ganz anders aus.
    Drewermann wäre nur vorzuwerfen, daß sein Form der Adaptation der Theologie das Nachfolgegebot zu umgehen trachtet, damit aber in den Kontext der Gottesfurcht-Vermeidungs-Strategien hineingerät. Und genau das ist sein kirchliches Erbe. Seine Theologie ist eine um die Welt gekürzte Theologie, und deshalb Tiefenpsychologie.
    Ist die kirchliche Theologie nicht der Rückschritt von dem Fell, das Gott den Menschen nach dem Sündenfall gegeben hat, damit sie ihre Scham verdecken, zu den Feigenblättern?
    Zum Mannesalter, auf das Karl Thieme einmal hingewiesen hat: Es sieht so aus, als ob die Theologie heute um keinen Preis erwachsen werden möchte.
    Wie tief verwirrt muß Otto Schily sein, wenn er den Tod von Petra Kelly und Gert Bastian glaubt dazu nutzen zu können, den Grünen eins auszuwischen (und das noch vor Klärung der Todesursache).
    Der erste, der die Schulphilosophie zur Weltphilosophie gemacht hat, Immanuel Kant (der mit Vornamen nicht nur so hieß), hat damit gleichzeitig das Motiv der Sünde der Welt, die die Philosophie seitdem mit zu übernehmen hat, kenntlich gemacht. Aber darüber sind seine Nachfolger hinweggegangen. War Kant nicht der erste Christ?
    Ausgangspunkt der falschen Transzendenz nach Kant (im Begriff des Absoluten, der kein Gottesname ist) war die Fichtesche Absolutierung des Wissens.
    Erinnerungsarbeit heute ist der Versuch der Aufarbeitung der Ursprungs- und Entwicklungsgeschichte des blinden Flecks, der uns alle – die Theologen eingeschlossen – zu Atheisten macht. Diese Geschichte ist beschrieben in der von den drei Verleugnungen Petri. Und in dieser Geschichte ist der Name des Petrus (Kephas) begründet. (Bezieht sich darauf nicht auch die Frage Maria Magdalenas und der Frauen, als sie zum Grabe eilen: Wer wird uns den Stein fortwälzen? Ist Petrus der Stein, der das Grab verschließt? Jedoch der Stein vorm Grab heißt lithos, nicht kephas. Haben die drei Tage im Grab etwas mit den drei Leugnungen Petri zu tun?)
    Welcher hebräische Ausdruck steht am Ende des Jonas-Buchs, in dem: „und so viel Vieh“, für den Namen Vieh? Unter den Haustieren sind nur zwei Raubtiere: die (ägyptische) Katze und der (babylonische) Hund. Die übrigen Haustiere sind Behemoth: grasfressendes Vieh. Wenn auch das grasfressende Vieh am Ende des Buches Jona Behemoth ist, steht das dann nicht in Beziehung zum grasfessenden Nebukadnezzar im Buch Daniel? Und sind nicht eigentlich die Herren auch Behemoth, tendentielle Haustiere?
    Die Hebräer waren in Ägypten geächtete Kleinviehnomaden (Schafhirten); die Austreibung der Dämonen verweist sie auf die Schweineherde, die bei den Juden geächtet war. Die Christen sind Schweinefleisch- und Blutwurstfresser: „Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe.“
    Die Schuldvergebung im NT ergibt nur Sinn im Kontext der Übernahme der Sünde der Welt , in die die Schuld aller mit eigneschlossen ist.
    Zur Unterscheidung von Sünde und Schuld vergleiche Ps 10914 (über die Schuld der Väter und die Sünde der Mutter).
    In Ps 1142 werden das Heiligtum und das Reich auf Juda und Israel verteilt; vgl. dazu die Bemerkungen von Gordian Marshall und Michael Hilton zu Jude und Israelit. Sind die Juden vielleicht tatsächlich durch Auschwitz wieder zu Israel geworden? Jesus kommt wie David aus dem Stamme Juda (der Antijudaismus und der daraus hervorgegangene Antisemitismus tragen projektive Züge: wir sind die Juden, die wir in den anderen verfolgen).
    Die Ödipus-Geschichte bezeichnet nicht nur einen individualpsychologischen, sondern zugleich einen welthistorischen Sachverhalt: die Geschichte der Ich-Bildung, des Ursprungs des Realitätsprinzips und des Weltbegriffs. Hier wird es deutlich: der Weltbegriff ist Erbe und Produkt des Mythos; er nimmt in der christlichen Tradition die gleiche Stelle ein wie in der jüdischen Tradition die Idolatrie, der Sternen- und Opferdienst. Auch der Mythos verdankt der Verdinglichung der benennenden Kraft der Sprache: hier wurden Metaphern zu Götzen. Und diese Götzen wurden überflüssig, nachdem die Metaphern irrational geworden sind und das Prinzip der Verdinglichung rein sich durchsetzte durch den Weltbegriff (gleichzeitig mit der Absicherung des Privateigentums durch das Institut des Rechts).
    Die Ursünde der Theologie war es, diesen Weltbegriff im Banne des Weltbegriffs und unter Umgehung des Nachfolgegebots, der Forderung, die Sünde der Welt zu übernehmen, naiv gegenständlich übernommen hat. Sie ist damit in Probleme hineingekommen, die sie nicht mehr hat lösen können. Die Geschichte der Häresien ist die Geschichte des beginnenden Bewußtseins dieser Probleme, die dann aber durch die Verurteilung der Häresien (im Prozeß der Dogmenbildung) nur verdrängt, nicht gelöst worden sind. Die Dogmen sind die Narben dieses traumatischen Prozesses. Zentral (und paradigmatisch) für die theologische Erinnerungsarbeit wäre die Aufarbeitung des Anfangs und des Endes der Geschichte der Häresien, nämlich
    – des Gnosis-Problems: des aufkommenden Bewußtseins, daß die Lehre von der Erschaffung der „Welt“ falsch ist (die Welt ist in der Tat nicht von Gott, sondern vom Demiurgen: vom Staat erschaffen; vgl. den Zusammenhang des Absoluten mit der Lehre vom Staat im Hegelschen System), und
    – der Reformation, mit dessen Entstehung die Kirche ihre häresienbildende Kraft verloren hat, durch Abschluß der Weltanpassung der Theologie (Bekenntnisbegriff und Rechtfertigungslehre).
    In diesem Zusammenhang erweist sich die Bemerkung Hanselmanns als Beleg dafür, daß die Kirche bis heute nur gebunden, nicht gelöst hat.
    Die Theologie verkörpert eine Gestalt der Erkenntnis, die das Intimste und das Öffentlichste zugleich umfaßt: das hängt mit ihrer Stellung zur Welt zusammen. Aber es macht den Schritt ins Öffentliche so schwer, wenn man das Intimste, an dem die Wahrheit hängt, nicht verraten will. Der Begriff der Öffentlichkeit ist selber ein Aspekt des Weltbegriffs: erst seit der Konstituierung des Weltbegriffs gibt es Öffentlichkeit. Und die Geschichte der Öffentlichkeit hat teil an der Geschichte des Weltbegriffs und an der Geschichte des Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs, den der Weltbegriff bezeichnet.
    Die Geschichte der Theologie steht unter dem logischen Zwang, den der Weltbegriff auf sie ausübte. Welt und Natur sind keine Objektbegriffe, sondern transzendentallogische Totalitätsbegriffe, Begriffe, die den mundus intelligibilis so vorstrukturieren, daß die zentrale Kategorie der theologischen Erkenntnis, die der Umkehr, neutralisieren.
    Zur Kritik der transzendentalen Logik: Indem das Subjekt sich über das Objekt zu erheben vermeint (theologisch: sich „empört“), fällt es selber darunter. Hier liegt der Zusammenhang von Empörung und Fall, und die Begründung des Satzes: Die Welt ist alles, was der Fall ist. Der damit zusammenhängende Satz: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet, bezeichnet zugleich den Grund dessen, was bei Hegel Weltgericht heißt, und eher als Abkömmling des mythischen Schicksals (das als verinnerlichtes im Begriff überlebt) sich begreifen läßt, denn als anderer Name fürs Jüngstes Gericht, mit dem es immer verwechselt wurde: Das Jüngste Gericht wäre vielmehr das Gericht der Barmherzigkeit über das Weltgericht.
    Jede Empörung ist ein Aufdecken der Blöße. Bei dem Satz des Täufers: „Ecce agnus dei, qui tollit peccata mundi“, ist daran zu erinnern, daß Er uns wie Schafe unter die Wölfe geschickt hat; d.h. wir selbst unter dem Namen des Schafes, das die Sünden der Welt auf sich nimmt.
    Der Hegelsche Satz, daß die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug ist, der Armut und der Entstehung des Pöbels zu steuern (Rechtsphilosophie), bezeichnet genau die Grenze seiner Philosophie. Dagegen setzt die Prophetie das Votum für die Armen und die Fremden (die „Barbaren“, die bei Hegel unter dem Begriff des Pöbels erscheinen).
    Jericho und Sodom als Symbole der Fremdenfeindlichkeit: Beide werden zerstört. Aber was bedeutet es, daß Rahab eine Hure ist, und Lot als Ersatz seine Töchter anbietet (die gleichen Töchter, die ihn später trunken machen, um nicht ohne Kinder zu bleiben, und sei es um den Preis des Inzests). Beide: Rahab und (über die Moabiterin Rut) eine der Töchter Lots (und damit auch Lots Weib, die im Angesicht der Katastrophe zur Salzsäule erstarrt) gehören zum Stammbaum Jesu.

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